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"Grundzüge des Erkenntnisverfahrens erster Instanz unter Berücksichtigung der Veränderungen nach der Zivilprozeßrechtsreform" von Marc Wolf
Wiss. Mit. Assessor Marc Wolf, Marburg

Grundzüge des Erkenntnisverfahrens erster Instanz unter Berücksichtigung der Veränderungen nach der Zivilprozeßrechtsreform
Teil 1


I. Einleitung

Bei den Vorbereitungen auf das Erste Staatsexamen legen Studenten überwiegend den Schwerpunkt auf das materielle bürgerliche Recht. Mit den Vorschriften der ZPO wird sich dann meist nur nebenbei beschäftigt. Daraus folgt, daß die ZPO für viele Studenten ein Gesetzesbuch "mit sieben Siegeln" ist. Um dem abzuhelfen, sollen hier die Grundzüge des Erkenntnisverfahrens dargestellt werden. Das Ziel ist es, beim Studierenden das Interesse für das Zivilverfahrensrecht zu wecken oder etwa zu Beginn des Rechtsreferendariats vorhandenes Wissen über das Erkenntnisverfahren in Erinnerung zu rufen. Gleichzeitig kann sich der Leser mit den wichtigsten Änderungen im Zivilprozeßrecht für das erstinstanzliche Verfahren vertraut machen, die am 01.01.2002 in Kraft getreten sind.

II. Geschichte der ZPO

Die ZPO stammt vom 30. Januar 1877 und trat am 1.Oktober 1879 in Kraft. Das Ziel war, mit einer einheitlichen Prozeßordnung der bis dahin bestehenden starken Rechtszersplitterung in Deutschland auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechts entgegenzuwirken. Zusammen mit dem GVG, der StPO und der KO gehört die ZPO zu den sogenannten Reichsjustizgesetzen. Die ZPO hat im Laufe der Zeit zahlreiche Änderungen erfahren, die sich im einzelnen der dem Gesetzestext vorangestellten Übersicht im Schönfelder entnehmen lassen. Erwähnt sei hier nur das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17.12.1990, welches das Zivilverfahren einfacher und zeitsparender zu gestalten suchte. Mit dem Einigungsvertrag vom 31.08.1990 wurde der Geltungsbereich der ZPO zum 03.10.1990 mit einigen Anpassungen an die Gerichtsstruktur der ehemaligen DDR auf die neuen Bundesländer erstreckt. Mit der Zivilprozeßrechtsreform, die am 17.05.2001 vom Deutschen Bundestag verabschiedet und vom Bundesrat in der Sitzung vom 22.06.2001 beschlossen wurde und die am 01.01.2002 vollständig in Kraft getreten ist, haben sich weitere wichtige Änderungen für das Zivilverfahrensrecht und das Gerichtsverfassungsgesetz ergeben. Ziel dieses Reformvorhabens ist, den Zivilprozeß "bürgernäher, effizienter und transparenter" zu gestalten. Dies wurde u.a. durch die Einführung einer Güteverhandlung, durch die stärkere Betonung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflichten, die Stärkung der ersten Instanz und durch eine Umgestaltung der Zugangsvoraussetzungen zu den höheren Instanzen umgesetzt. Eine gütliche Einigung der Parteien soll in einem möglichst frühen Verfahrensstadium erreicht werden, zumindest soll angestrebt werden, das Verfahren in erster Instanz zu beenden.

III. Aufbau der ZPO

Betrachtet man die Gliederung des Gesetzestextes im Überblick, so fällt einem die Einteilung in zehn Bücher auf, die dem allseits bekannten Grundsatz "Vom Allgemeinen zum Besonderen" folgt. So finden sich im Ersten Buch die für das gesamte Verfahren bedeutsamen Vorschriften (z.B. welches Gericht örtlich zuständig ist oder wer überhaupt am Prozeß teilnehmen darf), im Zweiten Buch der Verfahrensablauf von der Klageerhebung bis zum erstinstanzlichen Urteil und im Dritten Buch die Rechtsmittel, um in eine höhere Instanz zu gelangen. Im Vierten bis Siebten Buch sind mit der Wiederaufnahme eines Verfahrens, dem Urkunden- und Wechselprozeß, dem Verfahren in Familiensachen sowie dem Mahnverfahren besondere Verfahrensarten geregelt, auf die später noch genauer eingegangen wird. Mit der Zwangsvollstreckung im Achten Buch wird eine grundlegende Zweiteilung der ZPO deutlich, die für das Verständnis des Verfahrensrechts von großer Bedeutung ist: Die Unterscheidung von Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren. Im Erkenntnisverfahren - das Thema dieser Darstellung ist - soll festgestellt werden, ob die Behauptung des Klägers, einen materiell rechtlichen Anspruch gegen den Beklagten zu haben, überhaupt stimmt. Erst wenn dies feststeht, kann dieser Anspruch auch im Vollstreckungsverfahren mit Zwang gegen den Schuldner durchgesetzt werden. Dies bedeutet aber nicht, daß das Erkenntnisverfahren immer dem Vollstreckungsverfahren vorausgehen muß. Für die Vollstreckung wird zwar stets ein Titel benötigt, neben einem vollstreckungsfähigen Urteil kommen aber auch noch die in § 794 Abs.1 genannten Vollstreckungstitel in Betracht.

Das Aufgebotsverfahren im Neunten Buch, das überwiegend der Feststellung von Berechtigten bei verlorengegangenen Urkunden dient, und das schiedsgerichtliche Verfahren im Zehnten Buch, das den Parteien die Möglichkeit einräumt, ihren Rechtsstreit durch einen privaten Richter entscheiden zu lassen, werden hier nicht weiter behandelt.

IV. Einleitung des Zivilverfahrens erster Instanz

1. Rechtshängigkeit der Klage

Der Zivilprozeß ist das Verfahren der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Bei uns hat der Staat das Justizmonopol. Kein Bürger soll außer in den gesetzlich geregelten Fällen Selbstjustiz üben dürfen. Zur Durchsetzung seiner Rechte muß er sich vielmehr an den Staat wenden, der die notwendigen Verfahren zu regeln und die erforderlichen Gerichte einzurichten hat, sogenannte Justizgewährungspflicht. Dennoch ist es jedem Bürger selbst überlassen, ob er seine Rechte mit Hilfe des Staates überhaupt durchsetzen will. So wie es ihm materiellrechtlich frei steht, seine Rechte auszuüben und darüber zu verfügen, so kann, muß er aber nicht die Hilfe des Gerichts in Anspruch nehmen (sog. Dispositionsmaxime). Daher muß stets das Gericht um Gewährung von Rechtsschutz ersucht werden. Dies erfolgt durch Erhebung einer Klage. Dazu muß der Kläger zunächst eine Klageschrift bei Gericht einreichen, die den in § 253 ZPO [1] (lesen!) genannten Anforderungen entspricht. Neu ist insoweit nur, daß die Klageschrift eine Äußerung dazu enthalten muß, ob einer Entscheidung der Sache durch den Einzelrichter Gründe entgegenstehen (§ 253 Abs.3 n.F.). Mit dem Einreichen der Klageschrift bei Gericht wird die Klage anhängig. Erhoben ist sie aber erst, wenn das Gericht von Amts wegen dem Beklagten eine beglaubigte Abschrift zugestellt hat, §§ 253 Abs.1, 271 [2]. Damit wird die Klage rechtshängig. Der Terminus "Rechtshängigkeit" wird in einigen materiellrechtlichen Vorschriften verwendet [3]. In den meisten dieser Fälle tritt ab der Rechtshängigkeit eine Haftungsverschärfung ein, da ab der Zustellung der Klageschrift der Beklagte weiß, daß seine Rechtsstellung angezweifelt wird, und er sich dann entsprechend zu verhalten hat.

2. Klagearten
Nach dem Rechtsschutzbegehren des Klägers werden die Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklage sowie die entsprechenden Urteile unterschieden.

a) Leistungsklage: Wird vom Beklagten ein Tun, Unterlassen oder Dulden begehrt, ist eine Leistungsklage zu erheben. Leistungsurteile sind voll vollstreckbar und werden eingeleitet mit der Formulierung "der Beklagte wird verurteilt...".
b) Gestaltungsklage: Die Gestaltungsklagen sind hingegen darauf gerichtet, durch ein rechtskräftiges Urteil unmittelbar die Rechtslage zu ändern. Sie sind selten, da die Parteien im Rahmen der Privatautonomie ihre Rechtsverhältnisse selbst gestalten können. Nur in Ausnahmefällen erfordert das Gesetz ein Urteil, so z.B. bei Ehescheidungen oder der Auflösung einer OHG nach § 133 HGB [4]. Neben den Gestaltungsklagen im Zwangsvollstreckungsrecht [5] spielt die Anpassung wiederkehrender Leistungen an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse mittels Abänderungsklage gem. § 323 in der Praxis eine wichtige Rolle [6]. Gestaltungsurteile sind in der Hauptsache nicht vollstreckungsfähig, sie wirken aber für und gegen jedermann.
c) Feststellungsklage: Feststellungsklagen schließlich dienen der Feststellung, ob zwischen den Parteien gegenwärtig ein Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht. Der Tenor lautet: "Es wird festgestellt, daß...". Da kein Leistungsbefehl erteilt wird, sind auch Feststellungsurteile nicht vollstreckbar. Feststellungsklagen können daher auch nur subsidiär erhoben werden und kommen z.B. bei Kündigungsschutzklagen oder Eigentümerfeststellungen vor.


[1]§§ ohne Gesetzesangabe sind solche der ZPO.
[2]BGHZ 7, 268; da es sich bei einem Rechtsstreit um ein dialogisches Verfahren zwischen zwei Rechtssubjekten handelt und das Gericht nicht Empfangsadressat des Beklagten ist, wird die Klage erst mit der Zustellung an den Beklagten rechtshängig.
[3]Vgl. §§ 291, 292, 987, 988, 989, 996, 818 Abs.4, 819, 1384, 2023 BGB.
[4]Weitere Beispiele bei Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., Vorb. §253, Rn.6.
[5]Vollstreckungsgegenklage, § 767, Klage gegen die Vollstreckungsklausel, § 768, Drittwiderspruchsklage, § 771.
[6]Vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 323, Rn.1ff., wichtig ist die Abgrenzung zur Vollstreckungsabwehrklage, vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 323, Rn.2, BGH NJW 1978, 753; FamRZ 1989, S.159.

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