A. Einführung und Erscheinungsformen der Fahrlässigkeit
Nach § 15 ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, wenn das Gesetz
nicht fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Denn nicht
jedes sorgfaltspflichtwidrige Verhalten soll zu einer Strafbarkeit führen,
sondern nur das Verhalten des Täters, das eine rechtsverbindliche
Erwartungshaltung enttäuscht. Ein Verstoß gegen diese
rechtsverbindliche Erwartungshaltung liegt - im Gegensatz zu den
Vorsatzdelikten, die durch den Willen zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis
aller objektiven Tatbestandsmerkmale gekennzeichnet sind - in einer
ungewollten Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch eine
pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt
unter gleichzeitiger Vorhersehbarkeit der
Tatbestandsverwirklichung.
[1]
Der Begriff der Fahrlässigkeit wird im Gesetz ebensowenig definiert,
wie der Begriff des Vorsatzes. Daher ist es der Lehre und der Rechtsprechung an
die Hand gegeben, diese Begriffe auszufüllen. Bei der Fahrlässigkeit
werden die bewußte und die unbewußte Fahrlässigkeit sowie die
gesteigerte Form der Fahrlässigkeit, die Leichtfertigkeit, differenziert:
Bewußt fahrlässig handelt derjenige, der es für
möglich hält, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen aber
dennoch pflichtwidrig darauf vertraut, daß dies nicht eintreten
wird.
Beispiel: M ist Mutter eines Kleinkindes. Nach dem
Einkauf läßt sie für kurze Zeit eine Flasche
Unkrautvernichtungsmittel unbeaufsichtigt auf dem Küchentisch liegen. Sie
sieht zwar die Möglichkeit, daß das Kind aus der Flasche trinken
könnte, vertraut aber darauf, daß es nicht dazu kommt. M handelt hier
bewußt fahrlässig.
Für die Abgrenzung des Eventualvorsatzes
(dolus eventualis) von der bewußten Fahrlässigkeit
(luxuria) kommt es entscheidend darauf an, daß es der Täter in
beiden Fällen für möglich hält, daß die
Erfüllung des Tatbestandes eintritt, er die Folge beim Eventualvorsatz aber
hinnimmt und sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abfindet,
während er bei bewußt fahrlässigem Handeln (pflichtwidrig) auf
das Nichtvorliegen des betreffenden Tatumstandes oder sonst auf das
Ausbleiben des Erfolgs vertraut („wird schon
gutgehen“).[2]
Unbewußt fahrlässig handelt derjenige, der die Sorgfalt,
zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Kenntnissen
und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, außer acht
läßt und infolgedessen die Tatbestandsverwirklichung nicht
voraussieht.
[3]
Beispiel: Vergißt die Mutter M aus dem obigen
Beispiel, die Flasche mit dem Unkrautvernichtungsmittel wegzuräumen, so
handelt sie unbewußt fahrlässig.
Bei der unbewußten Fahrlässigkeit (
negligencia) liegt
also kein positives Wissen, sondern Vorhersehbarkeit vor. Darüber hinaus
ist der Erfolgseintritt nicht vom Willen des Täters umfaßt. Es fehlt
hier somit sowohl am intellektuellen als auch am voluntativen Element.
Leichtfertig handelt, wer die gebotene Sorgfalt in ungewöhnlich
hohem Maße verletzt. Damit ist in objektiver Hinsicht ein erhöhter
Grad an Fahrlässigkeit, vergleichbar mit der groben Fahrlässigkeit im
Zivilrecht, gemeint. Subjektiv ist im Bereich der Schuld jedoch auf die
subjektiven Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters
abzustellen.
[4]
Leichtfertiges Handeln wird z.B. in §§ 97 II und
138 III vorausgesetzt. Wenigstens Leichtfertigkeit verlangen z.B. die
§§ 176b, 178, 239a III, 306c, 307 III, 308 III, 309 IV, 316a III, 316c
III und 251 (erfolgsqualifizierte Delikte).
Aus der Eigenart der Fahrlässigkeitsdelikte (Vorsatz und
Fahrlässigkeit schließen einander
aus
[5]) ergeben sich hinsichtlich allgemeiner
Regeln des StGB insbesondere folgende Besonderheiten gegenüber dem
vorsätzlichen Begehungsdelikt:
- Da
Tatbestandsirrtümer schon denklogisch Vorsatz voraussetzen, kann §
16 nicht zur Anwendung kommen.
- Da eine Straftat nur
versuchen kann, wer diese auch verwirklichen will, es also keinen
„fahrlässigen Tatentschluß“ geben kann, sind auch die
Versuchsregeln (§§ 22 ff.)
unanwendbar.
- Auch eine
Teilnahme (§§ 26, 27 I) an einer fahrlässigen Tat ist
nicht möglich, weil für Anstiftung und Beihilfe jeweils eine
vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat Voraussetzung ist (limitierte
Akzessorietät). Nach h.M. kommt eine Mitwirkung an einer fahrlässigen
Tat ist nur in Form der Nebentäterschaft oder der mittelbaren
Täterschaft, wenn der mittelbare Täter das fahrlässige Verhalten
eines anderen vorsätzlich ausnutzt, in Betracht (eine Mittäterschaft
scheidet somit auch
aus).[6]
Klausurhinweis: Wurde in der Fallbearbeitung die
Strafbarkeit aus einem Vorsatzdelikt mangels Vorsatzes verneint, so kann nicht
automatisch (sozusagen als „minus“) eine Fahrlässigkeit
angenommen werden. Es bedarf vielmehr einer erneuten gesonderten Prüfung
der Voraussetzungen des betreffenden Fahrlässigkeitsdelikts.
B. Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts
Auch die Fahrlässigkeitsdelikte folgen dem dreigliedrigen
Verbrechensaufbau (Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld). Innerhalb dieses
Aufbaus ist allerdings die Zuordnung der Fahrlässigkeit zu den
verschiedenen Unrechtsebenen höchst umstritten. Nach der hier vertretenen
Auffassung kennt die Tatbestandsmäßigkeit keine Trennung von
objektivem und subjektivem Tatbestand: Der Fahrlässigkeitstäter wird
bestraft, weil er den mißbilligten Erfolg (bei den Erfolgsdelikten) nicht
vermieden hat, obwohl er dazu
objektiv verpflichtet und subjektiv
imstande war.
[7] Der Tatbestand des
Fahrlässigkeitsdelikts muß also zunächst um eine i.d.R.
ungeschriebene
Sorgfaltspflichtverletzung ergänzt
werden.
[8]
Wie der Vorsatz besitzt auch die Fahrlässigkeit eine
Doppelnatur: Sie ist eine im Unrechtstatbestand zu prüfende
Verhaltensform und zugleich eine in der Schuld zu prüfende
Schuldform.
Im Rahmen des
Tatbestandes ist die
Außerachtlassung der
objektiv gebotenen Sorgfalt zu prüfen (
objektive
Fahrlässigkeit). Im
Schuldbereich ist - wie auch bei den
vorsätzlichen Begehungsdelikten - die Frage des
persönlichen
Dafürkönnens zu klären. Bei der Fahrlässigkeitstat ist
daher in der Schuld zu fragen, ob der Täter
nach dem Maß seines
individuellen Könnens zur Erfüllung der objektiven
Sorgfaltsanforderungen fähig war (
subjektive
Fahrlässigkeit).
[9]
Bei den fahrlässigen
Erfolgsdelikten (z.B. §§ 222,
229) ist der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Täters
und dem Taterfolg mit der h.M. als „
objektive Zurechnung“
innerhalb des Tatbestandes zu prüfen. Bei den fahrlässigen
Tätigkeitsdelikten (z.B. § 163) kommt dieser Zurechnung mangels
eines vorausgesetzten Erfolges wie auch bei den vorsätzlichen
Tätigkeitsdelikten keine Bedeutung zu.
[10]
Zusammenfassend empfiehlt sich folgender Aufbau für die Prüfung eines
fahrlässigen Begehungsdelikts (i.F.d. Erfolgsdelikts):
I. Tatbestand
1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges durch
(Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie) eine
Handlung des
Täters[11]
2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung:
Objektiv sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer diejenige
Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den Umständen
verpflichtet ist.
3. Objektive Vorhersehbarkeit des wesentlichen
Kausalverlaufs und des Erfolgseintritts:
Die objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der
wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene
Erfolg[12] nicht so sehr
außerhalb der Lebenserfahrung stehen, daß mit ihnen nicht gerechnet
zu werden brauchte.
4. Objektive Zurechnung:
Gerade das rechtlich mißbilligte Verhalten des
Täters muß sich in tatbestandsspezifischer Weise in der verursachten
Folge niedergeschlagen haben, deren Eintritt nach dem Schutzzweck der
einschlägigen Norm vermieden werden sollte. Im einzelnen zu prüfen
sind:
- der Pflichtwidrigkeitszusammenhang (a.A.:
Risikozusammenhang),
- der Schutzzweck der Norm
- und etwaige Einschränkungen des
Pflichtwidrigkeitszusammenhangs (Problem des Eigenverantwortlichkeitsprinzips,
des pflichtgemäßen Alternativverhaltens, des Verhaltens
Dritter)
5. Tatbestandsannexe
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
1. Schuldfähigkeit
2. Unrechtsbewußtsein i.w.S.
(Fahrlässigkeitsschuld)
Der Täter muß nach seinen persönlichen
Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens imstande
gewesen sein, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und die sich daraus
ergebenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen. Darüber hinaus
muß (beim fahrlässigen Erfolgsdelikt) der tatbestandliche Erfolg und
der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen für ihn
subjektiv vorhersehbar gewesen sein.
3. Entschuldigungsgründe: Insbesondere die
Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
IV. Strafausschließungs- und
Strafaufhebungsgründe
V. Strafverfolgungsvoraussetzungen und
–hindernisse
|
I. Tatbestand
1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges durch eine Handlung des
Täters
Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten muß in einem ersten
Prüfungsschritt der tatbestandliche Erfolgseintritt festgestellt werden,
etwa daß der Tod oder die Körperverletzung des Opfers durch die
konkrete Handlung des Täters eingetreten ist.
Sodann ist die
Kausalität zwischen dem in Betracht kommenden
Täterverhalten und dem tatbestandlichen Erfolg festzustellen. Die
Bestimmung des Kausalzusammenhangs erfolgt wie bei den Vorsatzdelikten.
Nach der
Äquivalenztheorie ist jede Bedingung für den
Erfolg ursächlich und somit
gleichwertig (äquivalent), wenn sie
nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten
Form entfiele (
condicio sine qua
non).
[13]
Klausurhinweis: Bei den schlichten
Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der
„Erfolgsverursachung“ die in Betracht kommende
Tatbestandsverwirklichung durch die im Gesetz umschriebene
Tatbestandshandlung (z.B. das „falsche Schwören“ in §
163).[14]
2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
Um eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu begründen muß der
Täter durch seine Handlung die objektive Sorgfaltspflicht verletzt haben.
Objektiv sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer diejenige Sorgfalt
außer acht läßt, zu der er nach den Umständen verpflichtet
ist.
Der Tatbestand muß also zunächst um eine (ungeschriebene)
Sorgfaltspflicht ergänzt werden, deren Beachtung Aufgabe des
Fahrlässigkeitstäters gewesen
wäre.
[15]
a. Inhalt der Sorgfaltspflicht
Sorgfaltspflicht bedeutet, daß der Pflichtige die aus seinem
konkreten Verhalten erwachsenen Gefahren für das geschützte Rechtsgut
erkennen und sich darauf richtig einstellen muß. Er ist somit
verpflichtet, ausreichende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen oder die
gefährliche Handlung ganz zu
unterlassen.
[16]
Bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht bedarf es einer Wertung, die
über die Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes
hinausreicht.
[17] Konkretisierungen können
sich aus speziellen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften (z.B. aus den
Straßenverkehrsgesetzen, aus Unfallverhütungsvorschriften, aus
ordnungsrechtlichen Vorschriften des Bau-, Gewerbe- oder Polizeirechts, aus
Gefahrstoffverordnungen usw.) ergeben. Auch allgemeine Erfahrungssätze
(z.B. Regeln der ärztlichen Kunst) und Verhaltensregeln (z.B. Sportregeln
o.ä.) sind zur Inhaltsbestimmung heranzuziehen.
b. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt
Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den
Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage
ex ante an
einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der
sozialen Rolle des Handelnden zu stellen
sind.
[18]
aa. Eine
M.M.[19] stellt
auf eine Objektivierung des
individuellen Leistungsvermögens ab. Da
aber nach der hier vertretenen Auffassung eine Betrachtung subjektiver und damit
individueller Elemente nur im Rahmen der Schuld, und nicht im Tatbestand zu
erfolgen hat, wird auf diese Meinung nicht weiter eingegangen.
Nach
h.M.[20] ist zwar nicht auf
das individuelle Leistungsvermögen abzustellen, sie berücksichtigt
allerdings auch bei dem Täter eigenes
Sonderwissen und
besondere
Fähigkeiten, da ein größeres individuelles
Leistungsvermögen auch zu größerer Umsicht und Vorsicht
verpflichtet.
Weiß jemand um die Gefährlichkeit eines
bestimmten Verkehrsweges, so kann von ihm erwartet werden, daß er sich
dort als Straßenverkehrsteilnehmer mit entsprechender Umsicht
verhält. Ebenso sind erhöhte Sorgfaltsanforderungen z.B. an eine
tatsächlich aidsinfizierte Person zu stellen, die konkrete Anhaltspunkte
für die eigene Infektion besitzt und mit ihrem Sexualpartner
ungeschützten Geschlechtsverkehr ausübt.
bb. Eine Einschränkung der Sorgfaltsanforderungen ergibt
sich aber aus dem Grundsatz des
erlaubten Risikos. Das allgemeine, an der
Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit orientierte Gefährdungsverbot
könne in einer hochtechnisierten Gesellschaft wie der unsrigen nicht ohne
Einschränkung bleiben. In gewissen Lebensbereichen lasse sich die
Gefährdung anderer nicht völlig verbieten, obwohl sie voraussehbar und
vermeidbar wäre.
[21]
Neben Einschränkungen hinsichtlich des Kraftfahrzeugsverkehrs (siehe
sogleich) werden auch hinsichtlich des Betriebs industrieller Anlagen, des
Abbaus von Bodenschätzen, der Errichtung von bauwerken und der Verwendung
von modernen Ernergiequellen (wie Gas, Öl, Elektrizität oder
Kernenergie) „erlaubte Restrisiken“ hingenommen. Es handelt sich
somit um ein
erlaubtes Risiko, das Ausdruck eines für die
Aufrechterhaltung des sozialen Lebens und Verkehrs unerläßlichen
sozialadäquaten Verhaltens
ist.
[22]
Zu einer sinnvollen Begrenzung der Sorgfaltspflicht soll der
Grundsatz des Vertrauensschutzes herangezogen werden. So darf z.B. im
Straßenverkehr jeder Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, daß sich
die anderen ebenfalls sorgfaltspflichtgerecht verhalten. Von diesem Grundsatz
ist nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn die anderen Verkehrsteilnehmer
offensichtlich der konkreten Verkehrssituation nicht gewachsen sind, z.B. aus
Unerfahrenheit oder weil sie sich noch im Kindesalter
befinden.[23]
Entsprechendes gilt auch bei arbeitsteiligem Zusammenwirken,
etwa bei einer Krankenoperation, bei Experimenten, bei Rettungsaktionen
u.ä..[24]
Werden also einzelne Tätigkeiten von Hilfspersonen
(z.B. OP- oder Krankenschwestern, Assistenzärzten etc.) übernommen, so
ist der leitende Arzt zwar dafür verantwortlich, daß dieses
Hilfspersonal fachlich ausreichen qualifiziert ist. Er muß auch klare ggf.
schriftliche Anweisungen geben, erkennbare Mängel ausgleichen und den
Gefahren von Kommunikations- und Koordinationsmängeln entgegenwirken, ist
also zu einer besonderen Anleitung und Überwachung verpflichtet.
Darüber hinaus ist er aber nicht verpflichtet eine (weitere) besondere
Vorsorge gegen Sorgfaltsmängel zu treffen, sofern nicht besondere
Umstände die Zuverlässigkeit einer Hilfsperson generell oder konkret
(z.B. durch Übermüdung) in Frage
stellen.[25]
Im Gegenzug dürfen sich auch Hilfspersonen
grundsätzlich auf die Richtigkeit der ihnen erteilten Anweisungen verlassen
und brauchen sie, auch soweit ihnen dies möglich ist, nicht zu
überprüfen.[26]
Klausurhinweis: Der anhand der eben genannten
Kriterien ermittelte Inhalt der objektiv erforderlichen Sorgfaltspflicht ist mit
dem erfolgsursächlichen Verhalten des Täters zu vergleichen.
Entspricht es diesen Anforderungen, so ist es sorgfaltspflichtgemäß,
so daß der Handlungsunwert und daher die Tatbestandsmäßigkeit
entfällt. Wird das konkret zu prüfende Täterverhalten den
ermittelten objektiven Sorgfaltsanforderungen jedoch nicht gerecht, so ist es
objektiv
sorgfaltspflichtwidrig.[27]
3. Objektive Vorhersehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und des
Erfolgseintritts
Allein die objektive Sorgfaltspflichtverletzung reicht jedoch noch nicht,
um eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu begründen. Ein
Fahrlässigkeitsvorwurf kann vielmehr erst bei einer objektiv
pflichtwidrigen Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt
unter gleichzeitiger objektiver Vorhersehbarkeit der
Tatbestandsverwirklichung erwachsen.
Die
objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der wesentliche
Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb der
Lebenserfahrung stehen, daß mit ihnen nicht gerechnet zu werden
brauchte.
[28]
Klausurhinweis: Bei den schlichten
Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle des „Erfolges“
jeweils die Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung (z.B.
muß bei § 163 das Falschsein der Aussage, bei § 316 II
die rauschbedingte Fahruntüchtigkeit erkennbar gewesen
sein).[29]
4. Objektive Zurechnung
Wie sich schon aus der gesetzlichen Formulierung (vgl. §§ 222,
229: „
durch Fahrlässigkeit“) ergibt, muß zwischen
dem Fehlverhalten des Täters und dem Erfolgseintritt ein
Zurechnungszusammenhang bestehen, der einen bestimmten
Pflichtwidrigkeits- und Schutzzweckzusammenhang zwischen Sorgfaltsmangel
und Erfolg voraussetzt:
Objektiv zurechenbar ist der Erfolg, wenn sich gerade das rechtlich
mißbilligte Verhalten des Täters in tatbestandsspezifischer Weise in
der verursachten Folge niedergeschlagen hat, deren Eintritt nach dem Schutzzweck
der einschlägigen Norm vermieden werden sollte.
Klausurhinweis: Bei den fahrlässigen
Tätigkeitsdelikten (z.B. § 163) kommt dieser Zurechnung mangels
eines vorausgesetzten Erfolges wie auch bei den vorsätzlichen
Tätigkeitsdelikten keine Bedeutung zu.
a. Schutzzweck der Norm
Zunächst ist danach zu fragen, ob gerade der konkrete Erfolgseintritt
nach dem Schutzzweck der einschlägigen Norm vermieden werden sollte.
Fällt der konkret eingetretene Erfolg nicht in den Schutzbereich der
verletzten Norm, verwirklicht sich also ein
anderes, von der fraglichen
Norm nicht geschütztes Risiko, so ist der eingetretene Erfolg objektiv
nicht zurechenbar.
[30]
So fehlt es zum Beispiel am Schutzzweckzusammenhang,
wenn ein Fahrzeugführer irgendwann vor dem Eintritt in eine kritische
Verkehrslage eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hatte, welche
überhaupt erst dazu beigetragen hat, daß er im Unfallzeitpunkt am
Unfallort war.[31] Sonst
könnte man dem Fahrzeugführer auch vorwerfen, daß er nicht noch
schneller gefahren ist, da er in diesem Fall auch nicht am Unfallort, sondern an
diesem schon vorbei gewesen wäre. Solche Erwägungen treffen aber nicht
den Schutzzweck der betroffenen Sorgfaltsregeln.
Geschwindigkeitsbeschränkungen sollen nicht bewirken, daß der
Fahrzeugführer einen bestimmten Ort zeitlich später erreicht. § 3
StVO will vielmehr sicherstellen, daß der Fahrzeugführer bei Gefahren
rechtzeitig abbremsen, ausweichen oder anhalten kann. Die Frage kann also nur
sein, ob der Fahrzeugführer bei Eintritt in die kritische Verkehrssituation
bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit noch rechtzeitig hätte
abbremsen oder ausweichen können, um so den Unfall zu
vermeiden.[32]
Entsprechendes gilt, wenn jemand eine rote Ampel nicht
beachtet und nur deswegen zeitlich exakt einige Kilometer entfernt die
Unfallstelle erreicht, an der er den Fußgänger erfaßt. Hier
dient der Schutzzweck der Ampelanlage nur zur Sicherung des Kreuzungsbereiches,
nicht daß Verkehrsteilnehmer eine bestimmte Position zeitlich verschoben
erreichen.[33]
Fehlt eine konkrete Schutznorm, gegen die der Täter verstoßen
hat und durch die gerade der konkrete Erfolgseintritt vermieden werden sollte,
so ist eine etwaige Haftung auf die allgemeinen
Fahrlässigkeitsgrundsätze zu stützen.
b. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
Nach h.M. muß auch gerade das Täterverhalten in seiner
Pflichtwidrigkeit für den Erfolg „kausal“ geworden
sein.
[34] Es muß sich diejenige rechtlich
mißbilligte Gefahr realisiert haben, die durch die
Sorgfaltspflichtverletzung des Täters geschaffen worden
ist.
[35] Hier ist zu prüfen, ob der Erfolg
bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt vermieden worden wäre.
Dabei scheidet nach h.M. eine objektive Zurechnung (schon) dann aus, wenn
die
konkrete Möglichkeit besteht, daß der Erfolg auch bei
pflichtgemäßem Verhalten des Täters eingetreten
wäre.
[36] Bestehen also konkrete
Anhaltspunkte dafür, daß der tatbestandliche Erfolg in gleicher Weise
auch bei sorgfältigem, fehlerfreien Verhalten möglicherweise
eingetreten wäre, dann scheidet die objektive Zurechnung
in dubio pro
reo aus.
[37]
Bei dieser Prüfung ist wie folgt vorzugehen:
Zunächst ist an die Handlung anzuknüpfen, die den konkreten Erfolg
unmittelbar herbeigeführt hat. Dann ist das Fehlverhalten durch ein
verkehrsgerechtes Verhalten zu ersetzen. Im übrigen darf von der
Tatsituation weder etwas weggelassen noch hinzugedacht werden.
Anschließend ist danach zu fragen, ob derselbe
Erfolg zur gleichen Zeit trotz pflichtgemäßen Alternativverhaltens
eingetreten wäre.
Kann dies bejaht werden, so entfällt der
Zurechnungszusammenhang. Aber wenn auch nur konkrete Anhaltspunkte dafür
vorliegen, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem
Alternativverhalten eingetreten wäre, gilt der Grundsatz in dubio
pro reo (s.o.).
Beispiel[38]:
T fuhr mit seinem Lastzug auf einer geraden und übersichtlichen
Straße, deren Fahrbahn etwa 6m breit war. Auf dem rechten Seitenstreifen
fuhr ein Radler in der gleichen Richtung. T überholte ihn mit einer
Geschwindigkeit von 26 bis 27 km/h Der Seitenabstand vom Kastenaufbau des
Anhängers zum linken Ellbogen des Radfahrers betrug dabei 75 cm.
Während des Überholvorgangs geriet der Radfahrer mit dem Kopf unter
die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf
der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen
Blutalkoholgehalt von 1,96 ‰, auch für den Zeitpunkt des
Unfalls.
Nach den oben genannten Kriterien ist T straffrei, wenn sein
Fehlverhalten, das Überholen mit zu geringem Seitenabstand, durch
verkehrsgerechtes Verhalten, also die Einhaltung eines größeren
Abstandes ersetzt werden könnte, und der konkrete Erfolgseintritt dennoch
nicht entfiele: Ersetzt man den zu geringen Seitenabstand durch einen gebotenen,
so spricht die starke Alkoholisierung des O dafür, daß dieser auch
aufgrund von Gleichgewichtsstörungen unter die Räder des Lkw gekommen
und getötet worden wäre. Daher ist T wegen des Grundsatzes in dubio
pro reo freizusprechen (a.A. vertretbar).
Zur dieser Problematik des
Zurechnungszusammenhangs und des
pflichtgemäßen Alternativverhaltens sei noch folgendes
denkwürdiges Beispiel aus der Rechtsprechung angeführt:
Sachverhalt[39]:
T befährt nachts mit seiner Beifahrerin die Mittelspur einer
dreispurigen Autobahn mit einer (grundsätzlich nicht zu beanstandenden)
Geschwindigkeit von 160 km/h und einer BAK von 1,39 ‰. Plötzlich
schert das rechts neben T fahrende Kfz zur Mitte hin aus und beide Fahrzeuge
kollidieren punktuell. Daraufhin schleudert das Kfz des T mit einer
Geschwindigkeit von 107 – 120 km/h zunächst nach links gegen die
Leitplanke und dann zurück auf die Mittelspur, wo es schräg zum Stehen
kommt. Ein nachfolgendes Fahrzeug prallt im Bereich der Beifahrertür in das
stehende Kfz des T und tötet so die Beifahrerin, die bereits durch den
ersten Aufprall gegen die Leitplanke lebensgefährliche Verletzungen
erlitten hatte.
Der Sachverständige stellt fest, daß auch ein
nüchterner Fahrer bei den hier grundsätzlich zulässigen 160
km/h[40] den
tödlichen Unfall nicht hätte vermeiden können. Hätte T bei
Eintritt der kritischen Verkehrssituation eine Geschwindigkeit von
höchstens 130 km/h statt 160 km/h eingehalten, wäre es - bei einem im
übrigen gleichen Geschehensablauf - zwar noch zu einem Unfall, jedoch nicht
zur Tötung der Beifahrerin gekommen. Bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h
wäre der Aufprall gegen die Leitplanke lediglich mit einer
Geschwindigkeit von ca. 20 km/h erfolgt, so daß es weder zu nennenswerten
Verletzungen der Insassen gekommen, noch der Pkw zurück auf die Mittelspur
gelangt wäre.
Vorweg ist hier festzustellen, daß eine Strafbarkeit
des T aus § 315c nicht in Betracht kommt, da nicht die
Fahruntüchtigkeit (Abs. 1 Nr. 1) des T den Tod der Beifahrerin verursachte.
Auch ein nüchterner Fahrer hätte bei ansonsten gleichbleibenden
Umständen den Tod der O nicht vermeiden können. Damit verbleibt
zunächst eine Strafbarkeit des T aus § 316.
Fraglich ist, ob darüber hinaus eine Strafbarkeit des T
aus § 222 wegen fahrlässiger Tötung der Beifahrerin in Betracht
kommt. Der Tod der Beifahrerin ist (auch) durch die Handlung (das Autofahren)
des T eingetreten. Auch die Kausalität nach der Äquivalenztheorie ist
gegeben, da das Führen des Kfz nicht hinweggedacht werden kann, ohne
daß der Erfolg (der Tod) in seiner konkreten Form entfiele. Problematisch
ist jedoch der Zurechnungszusammenhang, da trotz der äquivalenten
Kausalität einer Handlung der Erfolg nur dann objektiv zurechenbar ist,
wenn sich gerade das pflichtwidrige Verhalten des Täters in dem Eintreten
des Erfolges realisiert. Folglich würde der zurechenbare Kausalzusammenhang
zwischen dem Verhalten des T und dem Tod der Beifahrerin entfallen, wenn der
gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten des T eingetreten wäre,
oder sich dies aufgrund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des
Tatrichters nicht ausschließen ließe (in dubio pro reo).
Das
BayObLG[41] hat hier den
objektiven Zurechnungszusammenhang bejaht. Anknüpfungspunkt ist nach dessen
Auffassung nicht das Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit, sondern ein
Verstoß gegen § 3 I StVO. Nach § 3 I StVO darf der
Fahrzeugführer nur so schnell fahren, daß er sein Fahrzeug
ständig beherrscht. Er hat seine Geschwindigkeit insbesondere den
Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen
persönlichen Fähigkeiten anzupassen. Das dem T vorwerfbare
verkehrswidrige Verhalten besteht somit - abgesehen davon, daß er wegen
seiner Alkoholisierung überhaupt nicht mehr am Straßenverkehr
teilnehmen durfte - darin, daß er seine Geschwindigkeit nicht seiner durch
Alkoholeinfluß herabgesetzten Reaktionsfähigkeit angepaßt
hatte. Daher könne bei der Frage, ob das Verhalten des T für den Tod
seiner Beifahrerin ursächlich war, nicht darauf abgestellt werden, ob auch
ein nüchterner Kraftfahrer bei der für diesen nicht zu beanstandenden
Geschwindigkeit infolge der Berührung mit einem abrupt die Fahrspur
wechselnden Fahrzeug eines Dritten gegen die Leitplanke und zurück auf die
Fahrbahn geschleudert worden wäre. Vielmehr komme es darauf an, ob der Tod
der Beifahrerin vermieden worden wäre, wenn T bei im übrigen gleichen
Sachverhalt mit angepaßter Geschwindigkeit gefahren
wäre.
Nach Auffassung des BayObLG wäre daher das
rechtmäßige Alternativverhalten in der Geschwindigkeitsanpassung (vom
Sachverständigen festgestellt: bei BAK von 1,39 ‰, eine
Geschwindigkeit von 130 km/h) zu sehen. Ferner wäre der Tod der Beifahrerin
bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit nicht eingetreten, so daß T aus
§ 222 zu bestrafen ist.
Stellungnahme: Dieses Ergebnis des BayObLG steht in
krassem Gegensatz zu den oben dargelegten Grundsätzen der objektiven
Zurechenbarkeit. Besteht die Sorgfaltspflichtverletzung eines Autofahrers darin,
im Zustand der Fahruntüchtigkeit Auto gefahren zu sein, und verursacht er
in diesem Zustand einen tödlichen Unfall, der gerade nicht den
Tatbestand des § 315c erfüllt, weil eben die Fahruntüchtigkeit
gerade nicht kausal für den Unfall war, so kann ihm auch keine
fahrlässige Tötung nach § 222 zur Last gelegt werden. Denn
hätte das BayObLG auf diese Sorgfaltspflicht, nicht im fahruntüchtigen
Zustand Auto zu fahren, abgestellt, hätte keine Strafbarkeit nach §
222 begründet werden können. Statt dessen knüpft das BayObLG an
eine andere Sorgfaltspflicht an: Die Pflicht, bei Fahren
trotz Fahruntüchtigkeit wenigstens die Geschwindigkeit an das durch die
Alkoholisierung herabgesetzte Reaktionsvermögen anzupassen. Diese Pflicht
soll sich aus § 3 I 1 und § 2 StVO
ergeben.[42] Dies steht
wiederum im Widerspruch zu dem Verbot, im fahruntüchtigen Zustand
überhaupt Auto zu fahren (vgl. § 316 StGB und § 24a StVG). Es ist
daher widersinnig, bei einem absoluten Verbot eine Pflicht anzunehmen, bei deren
Einhaltung das Verhalten des Fahruntüchtigen immer noch nicht erlaubt
wäre, er sich somit strafbar machen würde, auch wenn er die
Geschwindigkeit seinem fahruntüchtigen Zustand angepaßt hätte.
Bei der Zurechnung wäre daher nach den oben dargelegten
Grundsätzen und der hier vertretenen Ansicht nur darauf abzustellen, ob T
gerade wegen seines sorgfaltspflichtwidrigen Verhaltens, der Alkoholisierung,
den Unfall verursachte. Fest steht, daß auch ein nüchterner
Autofahrer bei Eintritt in die fragliche Verkehrssituation, den tödlichen
Unfall nicht hätte verhindern können. Da die Zurechnung somit verneint
werden muß, kommt nach der hier vertretenen Ansicht eine Strafbarkeit aus
§ 222 nicht in Betracht, so daß es bei der Strafbarkeit des T
gemäß § 316
bleibt.[43]
c. Einschränkungen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs
aa. Wie auch im Rahmen der Vorsatzdelikte können sich
Einschränkungen der Erfolgszurechnung zunächst aus dem
Eigenverantwortlichkeitsprinzip ergeben.
Eine freiverantwortliche Selbstschädigung oder Selbstgefährdung
des Opfers läßt i.d.R. die objektive Zurechnung entfallen, da
derjenige, der seine eigenen Rechtsgüter in freiverantwortlicher Weise
selbst verletzt oder gefährdet, dafür grundsätzlich die alleinige
Verantwortung trägt (sog.
Eigenverantwortlichkeitsprinzip).
Derjenige, der lediglich eine eigenverantwortlich gewollte und
verwirklichte Selbstgefährdung veranlaßt, ermöglicht oder
fördert, macht sich also nicht wegen eines Körperverletzungs- oder
Tötungsdeliktes strafbar, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer
bewußt eingegangene Risiko
realisiert.
[44]
Eine Strafbarkeit kommt in solchen Fällen aber dann in
Betracht, wenn der sich Beteligende das Risiko kraft überlegenen
Sachwissens besser erfaßt als der sich selbst
Gefährdende.[45]
cc. Das Problem einer Einschränkung des
Pflichtwidrigkeitszusammenhangs stellt sich ferner, wenn der gleiche Erfolg auch
durch das
fahrlässige Verhalten eines Dritten herbeigeführt
worden wäre.
Beispiel[46]:
Bei einem Massenunfall auf der Autobahn kann O unverletzt sein Fahrzeug
verlassen. Noch bevor er sich in Sicherheit begeben kann, wird er vom
auffahrenden T1 erfaßt und tödlich verletzt. Unmittelbar
danach werden die Wagen von O und T1 durch den auffahrenden Lkw des
T2 zusammengedrückt. Wenn O nicht schon durch T1
getötet worden wäre, wäre er mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit durch T2 getötet worden. Strafbarkeit des
T1?
Denkt man die Handlung des T1 hinweg, so
wäre der Tod des O ebenfalls eingetreten. Es könnte somit an der
Kausalität zwischen der Handlung des T1 und dem Erfolgseintritt
fehlen. Allerdings ist der konkrete Taterfolg gerade durch die Handlung
des T1 eingetreten. Daß der Taterfolg auch wenig später
durch eine andere Handlung, durch eine Reserveursache, herbeigeführt worden
wäre, kann die objektive Zurechnung der Handlung des T1 nicht
entfallen lassen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie beim
vorsätzlichen Begehungsdelikt.
II. Rechtswidrigkeit
Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit bestehen grundsätzlich keine
Besonderheiten im Vergleich zu den Vorsatzdelikten. Auch hier wird die
Rechtswidrigkeit durch die Verwirklichung des Tatbestandes indiziert und kann
durch die anerkannten Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen
sein.
[47]
Problematisch ist es aber, wenn dem Täter bei objektiv gegebener
Rechtfertigungslage
subjektive Rechtfertigungselemente fehlen, was
insbesondere bei unbewußter Fahrlässigkeit der Fall ist, da der
Täter dann ja gerade nicht mit der Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung gerechnet hat. Nach einer Meinung im
Schrifttum
[48] scheidet eine Rechtfertigung
aus, wenn subjektive Rechtfertigungselemente fehlen. Die
Gegenauffassung
[49] läßt dagegen
allein das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungselemente genügen, da
schon so das Erfolgsunrecht entfalle. Für die letztgenannte Ansicht spricht
ein Vergleich zum Vorsatzdelikt. Dort wird bei fehlenden subjektiven
Rechtfertigungselementen nach h.M. eine Strafbarkeit nicht aus Vollendung,
sondern, weil die objektiv gegebene Rechtfertigung nur einen Teil des
Unrechtstatbestandes entfallen läßt, aus den Versuchsregeln
begründet. Beim Fahrlässigkeitsdelikt scheidet dagegen schon
deliktstypisch eine Versuchsstrafbarkeit
aus.
[50] Daraus folgt, daß begrifflich
nur der in der Sorgfaltswidrigkeit liegende Handlungsunwert übrig bleibt,
der bei der Fahrlässigkeitstat wegen der nicht vorhandenen Strafbarkeit des
Versuchs, strafrechtlich nicht zu erfassen ist.
Bei fahrlässigen
Erfolgsdelikten können also subjektive Rechtfertigungselemente fehlen.
Beim fahrlässigen
Tätigkeitsdelikt muß der
Täter aber zum Zwecke der Ausübung der ihm durch den
Rechtfertigungsgrund gegebenen Befugnis gehandelt
haben.
[51]
III. Schuld
Für die Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt gilt der gleiche Aufbau
und es gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Vorsatztat. Danach ist
auf die Schuldfähigkeit nur dann einzugehen, wenn der Sachverhalt
Anlaß dazu bietet.
Sodann sind, sofern man mit einer M.M. diese Einordnung
trifft, ggf. spezielle Schuldmerkmale wie z.B. die "Rücksichtslosigkeit"
bei § 315c I Nr. 2 oder niedrige Beweggründe bei § 211 II 1.
Gruppe) zu
prüfen.[52]
Auf das Unrechtsbewußtsein i.w.S. (=
Fahrlässigkeitsschuldvorwurf) muß jedoch näher eingegangen
werden. Speziell ist hier an die
subjektive Sorgfaltspflichtverletzung
und bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten die
subjektive
Vorhersehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und des Erfolgseintritts zu
denken.
Der Täter muß nach seinen persönlichen Fähigkeiten und
dem Maß seines individuellen Könnens imstande gewesen sein, die
objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und die sich daraus ergebenden
Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen.
[53]
Klausurhinweis: Bei den schlichten
Tätigkeitsdelikten wie z.B. dem § 163 oder dem § 316 ist
statt eine Erfolgseintritts- und Zurechnungsproblematik zu erörtern, nur
die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes durch das im Gesetz beschriebene
Verhalten (bei § 163 das falsche Schwören) festzustellen. Bei der
Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung tritt die Erkennbarkeit der
Tatbestandsverwirklichung an die Stelle der Vorhersehbarkeit des
Erfolges.[54]
Bei dieser Prüfung ist die Intelligenz, Bildung, Geschicklichkeit,
Befähigung, Lebenserfahrung etc. des Täters sowie die ggf.
vorliegenden Besonderheiten der jeweiligen Situation (Affekt, Streß,
Schrecken, Verwirrung usw.) zu
berücksichtigen.
[55] Bis auf besondere
Ausnahmen wird die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung durch die bereits im
Tatbestand festgestellte objektive Sorgfaltspflichtverletzung indiziert.
Darüber hinaus muß beim fahrlässigen Erfolgsdelikt der
tatbestandliche Erfolg und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen
Grundzügen
subjektiv vorhersehbar gewesen
sein.
[56]
Auch diesbezüglich gilt, daß die subjektive Voraussehbarkeit bis
auf besondere Ausnahmen durch die bereits im Tatbestand festgestellte objektive
Voraussehbarkeit indiziert wird.
Klausurhinweis: Hat der Täter den Kausalverlauf
in seinen wesentlichen Grundzügen und den tatbestandlichen Erfolg
tatsächlich vorhergesehen, liegt ein Fall der bewußten
Fahrlässigkeit vor. Die subjektive Vorhersehbarkeit kann in diesem Fall
unproblematisch mit einem Satz festgestellt werden. Liegen indes keine
Anhaltspunkte dafür vor, daß der Täter den Kausalverlauf in
seinen wesentlichen Grundzügen und den tatbestandlichen Erfolg
vorhergesehen hat, so ist aufgrund der Indizwirkung der gegebenen objektiven
Vorhersehbarkeit und mangels besonderer Fallkonstellationen, die auf die
Verneinung der subjektiven Vorhersehbarkeit deuten, von dessen Vorliegen
auszugehen. In diesem Fall liegt unbewußte Fahrlässigkeit vor. Zwar
hat die Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter
Fahrlässigkeit auf die Strafbarkeit keinen Einfluß, wohl aber auf die
damit verbundene Schwere der Schuld und somit auf das Strafmaß.
Im Gegensatz zum vorsätzlichen Begehungsdelikt ist die
Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei bewußten
Fahrlässigkeitstaten als eigener
Entschuldigungsgrund von der h.M.
anerkannt.
[57]
Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kann demnach nur begründet
werden, wenn dem Fahrlässigkeitstäter ein normgerechtes Verhalten
zugemutet werden konnte.
[1] Vgl. auch
Wessels/Beulke, AT, Rn 656.
[2] Vgl. zu dieser Abgrenzung
schon die grundlegenden Ausführungen auf S. 26 ff..
[3]
Tröndle/Fischer, § 15 Rn 13. Es ist somit - in Abweichung zum
Zivilrecht, bei dem die im Verkehr erforderliche Sorgfalt entscheidet
(objektivierter Fahrlässigkeitsmaßstab) - ein subjektiver
Maßstab anzulegen.
[4] Wessels/Beulke,
AT, Rn 662.
[5]
Tröndle/Fischer, § 15 Rn 19; Kretschmer, Jura
2000, 267.
[6] Vgl. nur
Wessels/Beulke, AT, Rn 659.
[7] Wessels/Beulke,
AT, Rn 678.
[8] Haft, AT, S. 161.
[9] Wessels/Beulke,
AT, Rn 658.
[10] Zur Differenzierung
Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte vgl. auch die einführenden
Ausführungen auf S. 3 f..
[11] Bei den schlichten
Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der
„Erfolgsverursachung“ die in Betracht kommende
Tatbestandsverwirklichung durch die im Gesetz umschriebene
Tatbestandshandlung (z.B. das „falsche Schwören“ in §
163).
[12] Bei den schlichten
Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der „Voraussehbarkeit
des Erfolges“ jeweils die Voraussehbarkeit der
Tatbestandsverwirklichung (z.B. muß bei § 163 das
Falschsein der Aussage, bei § 316 II die rauschbedingte
Fahruntüchtigkeit erkennbar gewesen sein).
[13] Vgl. auch die
Ausführungen auf S. 13 ff..
[14] Wessels/Beulke,
AT, Rn 665.
[15] Haft, AT, S.
161; Wessels/Beulke, AT, Rn 660.
[16] Wessels/Beulke,
AT, Rn 668.
[17] Haft, AT, S.
166.
[18] Wessels/Beulke,
AT, Rn 669; Jeschek/Weigend, AT, § 55 I 2b; BGHSt 7, 307;
20, 315, 321.
[19] SK-Samson,
Anhang zu § 16 Rn 13.
[20] BGH JZ 1987,
877, 878 f.; Wessels/Beulke, AT, Rn 670; Haft, AT, S. 167;
Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 138 ff..
[21] Sch-Sch-Cramer,
§ 15 Rn 144.
[22] Vgl.
Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 146 m.w.N..
[23] Vgl.
Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 149 f..
[24] Wessels/Beulke,
AT, Rn 671 m.w.N..
[25] Sch-Sch-Cramer,
§ 15 Rn 152.
[26] Sch-Sch-Cramer,
§ 15 Rn 153.
[27] Wessels/Beulke,
AT, Rn 672a.
[28] Vgl. nur
Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 180 m.w.N..
[29] Vgl.
Wessels/Beulke, AT, Rn 664.
[30] Vgl. auch
Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 174.
[31] BGHSt 33, 61,
64.
[32] Wessels/Beulke,
AT, Rn 674.
[33] Vgl. auch
Kretschmer, Jura 2000, 267, 275.
[34] Sch-Sch-Cramer,
§ 15 Rn 162.
[35] Wessels/Beulke,
AT, Rn 675.
[36] Vgl. die Nachweise bei
Joecks, § 222 Rn 20; Wessels/Beulke, AT, Rn 680.
[37] Wessels/Beulke,
AT, Rn 680. Dagegen bejaht eine andere Auffassung die die sog.
Risikoerhöhungslehre vertritt, die Zurechenbarkeit schon dann, wenn die
Verletzung der Sorgfaltspflicht eine gegenüber der normalen Gefahr
erheblich gesteigerte Gefährdung des Schutzguts herbeiführt, sich das
Risiko des Erfolgseintritts gegenüber dem erlaubten Risiko also deutlich
erhöht hat. Vgl. hierzu m.w.N. auch bzgl. der Rechtsprechung und h.M., die
diese Lehre als contra legem ablehnt
(è
Verletzungsdelikte werden hiernach unzulässigerweise in
Gefährdungsdelikte umgedeutet) Tröndle/Fischer, Vor § 13
Rn 17e. Der Grundsatz in dubio pro reo kommt hiernach nur insofern zur
Anwendung, als es um die Frage geht, ob es durch die Pflichtverletzung zu einer
Gefahrerhöhung gekommen ist oder nicht.
[38] BGHSt 11, 1
ff..
[39] Vgl. BayObLG NStZ
1997, 388 ff..
[40] Vgl. § 18 VI Nr.
1 StVO.
[41] BayObLG NStZ
1997, 388 f..
[42] Vgl. BayObLG NStZ
1997, 388, 389.
[43] So auch Puppe,
NStZ 1997, 389 f..
[44] Vgl. jüngst BGH
NJW 2000, 2286, 2287 m.w.N..
[45] BGH NJW 2000,
2286, 2287.
[46] Vgl. BGHSt 30,
228 ff.; Wessels/Beulke, AT, Rn 688.
[47] Wessels/Beulke,
AT, Rn 691.
[48] LK-Hirsch vor
§ 32 Rn 58; Maurach/Gössel, AT 2, § 44 Rn
18.
[49] Jescheck §
56 I 3; Joecks, § 15 Rn 74; Stratenwerth, AT, § 15 Rn
40; SK-Samson Anh. zu § 16 Rn 32; Sch-Sch-Lenckner, vor
§§ 32 ff. Rn 97-99. Vgl. auch Graul, JuS 2000, L 41, 43.
[50] Ein Versuch ist vom
Wollen des Täters geprägt. Beim Fahrlässigkeitsdelikt will der
Täter den Taterfolg gerade nicht.
[51] Jescheck, AT,
§ 56 I 3 m.w.N.:
è „Wer
von einem Trinkgelage zu einer Unfallstelle fährt, ohne an seine
Fahruntüchtigkeit zu denken (§ 316 II), ist nur dann nach § 34
gerechtfertigt, wenn er Hilfe bringen will.“
[52] Nach der herrschenden
und auch hier vertretenen Auffassung handelt es sich hierbei jedoch um objektive
Tatbestandsmerkmale. Vgl. die Ausführungen im BT I auf Seite 11.
[53] Vgl. nur
Wessels/Beulke, AT, Rn 692; Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 194.
[54] Wessels/Beulke,
AT, Rn 665.
[55] Haft, AT, S.
167.
[56] Vgl. nur
Kretschmer, Jura 2000, 267, 276. Nach der Rechtsprechung muß
der Erfolg für den Täter grundsätzlich nur im Endergebnis, nicht
auch hinsichtlich des Geschehensablaufes, wie er sich im einzelnen zugetragen
hat, voraussehbar gewesen sein. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des
Täters soll aber jedenfalls für solche Ereignisse entfallen, die so
sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegen, daß sie der
Täter auch bei der nach den Umständen gebotenen und ihm nach seinen
persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten zumutbaren sorgfältigen
Überlegung nicht ins Auge zu fassen braucht (vgl. BGHSt 12, 75, 77
f)
[57]
Sch-Sch-Lenckner, Vorbem §§ 32 ff. Rn 126; Haft, AT, S.
168; Wessels/Beulke, AT, Rn 692 m.w.N..