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Die Fahrlässigkeitstat (Verlag Rolf Schmidt)

5. Kapitel - Die Fahrlässigkeitstat

A. Einführung und Erscheinungsformen der Fahrlässigkeit

Nach § 15 ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, wenn das Gesetz nicht fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Denn nicht jedes sorgfaltspflichtwidrige Verhalten soll zu einer Strafbarkeit führen, sondern nur das Verhalten des Täters, das eine rechtsverbindliche Erwartungshaltung enttäuscht. Ein Verstoß gegen diese rechtsverbindliche Erwartungshaltung liegt - im Gegensatz zu den Vorsatzdelikten, die durch den Willen zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller objektiven Tatbestandsmerkmale gekennzeichnet sind - in einer ungewollten Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch eine pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unter gleichzeitiger Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung.[1]

Der Begriff der Fahrlässigkeit wird im Gesetz ebensowenig definiert, wie der Begriff des Vorsatzes. Daher ist es der Lehre und der Rechtsprechung an die Hand gegeben, diese Begriffe auszufüllen. Bei der Fahrlässigkeit werden die bewußte und die unbewußte Fahrlässigkeit sowie die gesteigerte Form der Fahrlässigkeit, die Leichtfertigkeit, differenziert:

Bewußt fahrlässig handelt derjenige, der es für möglich hält, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen aber dennoch pflichtwidrig darauf vertraut, daß dies nicht eintreten wird.

Beispiel: M ist Mutter eines Kleinkindes. Nach dem Einkauf läßt sie für kurze Zeit eine Flasche Unkrautvernichtungsmittel unbeaufsichtigt auf dem Küchentisch liegen. Sie sieht zwar die Möglichkeit, daß das Kind aus der Flasche trinken könnte, vertraut aber darauf, daß es nicht dazu kommt. M handelt hier bewußt fahrlässig.

Für die Abgrenzung des Eventualvorsatzes (dolus eventualis) von der bewußten Fahrlässigkeit (luxuria) kommt es entscheidend darauf an, daß es der Täter in beiden Fällen für möglich hält, daß die Erfüllung des Tatbestandes eintritt, er die Folge beim Eventualvorsatz aber hinnimmt und sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abfindet, während er bei bewußt fahrlässigem Handeln (pflichtwidrig) auf das Nichtvorliegen des betreffenden Tatumstandes oder sonst auf das Ausbleiben des Erfolgs vertraut („wird schon gutgehen“).[2]

Unbewußt fahrlässig handelt derjenige, der die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, außer acht läßt und infolgedessen die Tatbestandsverwirklichung nicht voraussieht.[3]

Beispiel: Vergißt die Mutter M aus dem obigen Beispiel, die Flasche mit dem Unkrautvernichtungsmittel wegzuräumen, so handelt sie unbewußt fahrlässig.

Bei der unbewußten Fahrlässigkeit (negligencia) liegt also kein positives Wissen, sondern Vorhersehbarkeit vor. Darüber hinaus ist der Erfolgseintritt nicht vom Willen des Täters umfaßt. Es fehlt hier somit sowohl am intellektuellen als auch am voluntativen Element.

Leichtfertig handelt, wer die gebotene Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Damit ist in objektiver Hinsicht ein erhöhter Grad an Fahrlässigkeit, vergleichbar mit der groben Fahrlässigkeit im Zivilrecht, gemeint. Subjektiv ist im Bereich der Schuld jedoch auf die subjektiven Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters abzustellen.[4]

Leichtfertiges Handeln wird z.B. in §§ 97 II und 138 III vorausgesetzt. Wenigstens Leichtfertigkeit verlangen z.B. die §§ 176b, 178, 239a III, 306c, 307 III, 308 III, 309 IV, 316a III, 316c III und 251 (erfolgsqualifizierte Delikte).

Aus der Eigenart der Fahrlässigkeitsdelikte (Vorsatz und Fahrlässigkeit schließen einander aus[5]) ergeben sich hinsichtlich allgemeiner Regeln des StGB insbesondere folgende Besonderheiten gegenüber dem vorsätzlichen Begehungsdelikt:

  • Da Tatbestandsirrtümer schon denklogisch Vorsatz voraussetzen, kann § 16 nicht zur Anwendung kommen.
  • Da eine Straftat nur versuchen kann, wer diese auch verwirklichen will, es also keinen „fahrlässigen Tatentschluß“ geben kann, sind auch die Versuchsregeln (§§ 22 ff.) unanwendbar.
  • Auch eine Teilnahme (§§ 26, 27 I) an einer fahrlässigen Tat ist nicht möglich, weil für Anstiftung und Beihilfe jeweils eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat Voraussetzung ist (limitierte Akzessorietät). Nach h.M. kommt eine Mitwirkung an einer fahrlässigen Tat ist nur in Form der Nebentäterschaft oder der mittelbaren Täterschaft, wenn der mittelbare Täter das fahrlässige Verhalten eines anderen vorsätzlich ausnutzt, in Betracht (eine Mittäterschaft scheidet somit auch aus).[6]
Klausurhinweis: Wurde in der Fallbearbeitung die Strafbarkeit aus einem Vorsatzdelikt mangels Vorsatzes verneint, so kann nicht automatisch (sozusagen als „minus“) eine Fahrlässigkeit angenommen werden. Es bedarf vielmehr einer erneuten gesonderten Prüfung der Voraussetzungen des betreffenden Fahrlässigkeitsdelikts.

B. Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts

Auch die Fahrlässigkeitsdelikte folgen dem dreigliedrigen Verbrechensaufbau (Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld). Innerhalb dieses Aufbaus ist allerdings die Zuordnung der Fahrlässigkeit zu den verschiedenen Unrechtsebenen höchst umstritten. Nach der hier vertretenen Auffassung kennt die Tatbestandsmäßigkeit keine Trennung von objektivem und subjektivem Tatbestand: Der Fahrlässigkeitstäter wird bestraft, weil er den mißbilligten Erfolg (bei den Erfolgsdelikten) nicht vermieden hat, obwohl er dazu objektiv verpflichtet und subjektiv imstande war.[7] Der Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts muß also zunächst um eine i.d.R. ungeschriebene Sorgfaltspflichtverletzung ergänzt werden.[8]
Wie der Vorsatz besitzt auch die Fahrlässigkeit eine Doppelnatur: Sie ist eine im Unrechtstatbestand zu prüfende Verhaltensform und zugleich eine in der Schuld zu prüfende Schuldform.
Im Rahmen des Tatbestandes ist die Außerachtlassung der objektiv gebotenen Sorgfalt zu prüfen (objektive Fahrlässigkeit). Im Schuldbereich ist - wie auch bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten - die Frage des persönlichen Dafürkönnens zu klären. Bei der Fahrlässigkeitstat ist daher in der Schuld zu fragen, ob der Täter nach dem Maß seines individuellen Könnens zur Erfüllung der objektiven Sorgfaltsanforderungen fähig war (subjektive Fahrlässigkeit).[9]

Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten (z.B. §§ 222, 229) ist der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Täters und dem Taterfolg mit der h.M. als „objektive Zurechnung“ innerhalb des Tatbestandes zu prüfen. Bei den fahrlässigen Tätigkeitsdelikten (z.B. § 163) kommt dieser Zurechnung mangels eines vorausgesetzten Erfolges wie auch bei den vorsätzlichen Tätigkeitsdelikten keine Bedeutung zu.[10] Zusammenfassend empfiehlt sich folgender Aufbau für die Prüfung eines fahrlässigen Begehungsdelikts (i.F.d. Erfolgsdelikts):

I. Tatbestand

1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges durch (Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie) eine

Handlung des Täters[11]

2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung:

Objektiv sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den Umständen verpflichtet ist.

3. Objektive Vorhersehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und des Erfolgseintritts:

Die objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg[12] nicht so sehr außerhalb der Lebenserfahrung stehen, daß mit ihnen nicht gerechnet zu werden brauchte.

4. Objektive Zurechnung:

Gerade das rechtlich mißbilligte Verhalten des Täters muß sich in tatbestandsspezifischer Weise in der verursachten Folge niedergeschlagen haben, deren Eintritt nach dem Schutzzweck der einschlägigen Norm vermieden werden sollte. Im einzelnen zu prüfen sind:

  1. der Pflichtwidrigkeitszusammenhang (a.A.: Risikozusammenhang),
  2. der Schutzzweck der Norm
  3. und etwaige Einschränkungen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs (Problem des Eigenverantwortlichkeitsprinzips, des pflichtgemäßen Alternativverhaltens, des Verhaltens Dritter)
5. Tatbestandsannexe

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

1. Schuldfähigkeit

2. Unrechtsbewußtsein i.w.S. (Fahrlässigkeitsschuld)

Der Täter muß nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens imstande gewesen sein, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und die sich daraus ergebenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen. Darüber hinaus muß (beim fahrlässigen Erfolgsdelikt) der tatbestandliche Erfolg und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen für ihn subjektiv vorhersehbar gewesen sein.

3. Entschuldigungsgründe: Insbesondere die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

IV. Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe

V. Strafverfolgungsvoraussetzungen und –hindernisse

I. Tatbestand

1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges durch eine Handlung des Täters

Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten muß in einem ersten Prüfungsschritt der tatbestandliche Erfolgseintritt festgestellt werden, etwa daß der Tod oder die Körperverletzung des Opfers durch die konkrete Handlung des Täters eingetreten ist.

Sodann ist die Kausalität zwischen dem in Betracht kommenden Täterverhalten und dem tatbestandlichen Erfolg festzustellen. Die Bestimmung des Kausalzusammenhangs erfolgt wie bei den Vorsatzdelikten.

Nach der Äquivalenztheorie ist jede Bedingung für den Erfolg ursächlich und somit gleichwertig (äquivalent), wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Form entfiele (condicio sine qua non).[13]

Klausurhinweis: Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der „Erfolgsverursachung“ die in Betracht kommende Tatbestandsverwirklichung durch die im Gesetz umschriebene Tatbestandshandlung (z.B. das „falsche Schwören“ in § 163).[14]

2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung

Um eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu begründen muß der Täter durch seine Handlung die objektive Sorgfaltspflicht verletzt haben.

Objektiv sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer acht läßt, zu der er nach den Umständen verpflichtet ist.

Der Tatbestand muß also zunächst um eine (ungeschriebene) Sorgfaltspflicht ergänzt werden, deren Beachtung Aufgabe des Fahrlässigkeitstäters gewesen wäre.[15]

a. Inhalt der Sorgfaltspflicht

Sorgfaltspflicht bedeutet, daß der Pflichtige die aus seinem konkreten Verhalten erwachsenen Gefahren für das geschützte Rechtsgut erkennen und sich darauf richtig einstellen muß. Er ist somit verpflichtet, ausreichende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen oder die gefährliche Handlung ganz zu unterlassen.[16]

Bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht bedarf es einer Wertung, die über die Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes hinausreicht.[17] Konkretisierungen können sich aus speziellen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften (z.B. aus den Straßenverkehrsgesetzen, aus Unfallverhütungsvorschriften, aus ordnungsrechtlichen Vorschriften des Bau-, Gewerbe- oder Polizeirechts, aus Gefahrstoffverordnungen usw.) ergeben. Auch allgemeine Erfahrungssätze (z.B. Regeln der ärztlichen Kunst) und Verhaltensregeln (z.B. Sportregeln o.ä.) sind zur Inhaltsbestimmung heranzuziehen.

b. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt

Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind.[18]

aa. Eine M.M.[19] stellt auf eine Objektivierung des individuellen Leistungsvermögens ab. Da aber nach der hier vertretenen Auffassung eine Betrachtung subjektiver und damit individueller Elemente nur im Rahmen der Schuld, und nicht im Tatbestand zu erfolgen hat, wird auf diese Meinung nicht weiter eingegangen.

Nach h.M.[20] ist zwar nicht auf das individuelle Leistungsvermögen abzustellen, sie berücksichtigt allerdings auch bei dem Täter eigenes Sonderwissen und besondere Fähigkeiten, da ein größeres individuelles Leistungsvermögen auch zu größerer Umsicht und Vorsicht verpflichtet.

Weiß jemand um die Gefährlichkeit eines bestimmten Verkehrsweges, so kann von ihm erwartet werden, daß er sich dort als Straßenverkehrsteilnehmer mit entsprechender Umsicht verhält. Ebenso sind erhöhte Sorgfaltsanforderungen z.B. an eine tatsächlich aidsinfizierte Person zu stellen, die konkrete Anhaltspunkte für die eigene Infektion besitzt und mit ihrem Sexualpartner ungeschützten Geschlechtsverkehr ausübt.

bb. Eine Einschränkung der Sorgfaltsanforderungen ergibt sich aber aus dem Grundsatz des erlaubten Risikos. Das allgemeine, an der Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit orientierte Gefährdungsverbot könne in einer hochtechnisierten Gesellschaft wie der unsrigen nicht ohne Einschränkung bleiben. In gewissen Lebensbereichen lasse sich die Gefährdung anderer nicht völlig verbieten, obwohl sie voraussehbar und vermeidbar wäre.[21]
Neben Einschränkungen hinsichtlich des Kraftfahrzeugsverkehrs (siehe sogleich) werden auch hinsichtlich des Betriebs industrieller Anlagen, des Abbaus von Bodenschätzen, der Errichtung von bauwerken und der Verwendung von modernen Ernergiequellen (wie Gas, Öl, Elektrizität oder Kernenergie) „erlaubte Restrisiken“ hingenommen. Es handelt sich somit um ein erlaubtes Risiko, das Ausdruck eines für die Aufrechterhaltung des sozialen Lebens und Verkehrs unerläßlichen sozialadäquaten Verhaltens ist.[22]

Zu einer sinnvollen Begrenzung der Sorgfaltspflicht soll der Grundsatz des Vertrauensschutzes herangezogen werden. So darf z.B. im Straßenverkehr jeder Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, daß sich die anderen ebenfalls sorgfaltspflichtgerecht verhalten. Von diesem Grundsatz ist nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn die anderen Verkehrsteilnehmer offensichtlich der konkreten Verkehrssituation nicht gewachsen sind, z.B. aus Unerfahrenheit oder weil sie sich noch im Kindesalter befinden.[23]

Entsprechendes gilt auch bei arbeitsteiligem Zusammenwirken, etwa bei einer Krankenoperation, bei Experimenten, bei Rettungsaktionen u.ä..[24]

Werden also einzelne Tätigkeiten von Hilfspersonen (z.B. OP- oder Krankenschwestern, Assistenzärzten etc.) übernommen, so ist der leitende Arzt zwar dafür verantwortlich, daß dieses Hilfspersonal fachlich ausreichen qualifiziert ist. Er muß auch klare ggf. schriftliche Anweisungen geben, erkennbare Mängel ausgleichen und den Gefahren von Kommunikations- und Koordinationsmängeln entgegenwirken, ist also zu einer besonderen Anleitung und Überwachung verpflichtet. Darüber hinaus ist er aber nicht verpflichtet eine (weitere) besondere Vorsorge gegen Sorgfaltsmängel zu treffen, sofern nicht besondere Umstände die Zuverlässigkeit einer Hilfsperson generell oder konkret (z.B. durch Übermüdung) in Frage stellen.[25]

Im Gegenzug dürfen sich auch Hilfspersonen grundsätzlich auf die Richtigkeit der ihnen erteilten Anweisungen verlassen und brauchen sie, auch soweit ihnen dies möglich ist, nicht zu überprüfen.[26]

Klausurhinweis: Der anhand der eben genannten Kriterien ermittelte Inhalt der objektiv erforderlichen Sorgfaltspflicht ist mit dem erfolgsursächlichen Verhalten des Täters zu vergleichen. Entspricht es diesen Anforderungen, so ist es sorgfaltspflichtgemäß, so daß der Handlungsunwert und daher die Tatbestandsmäßigkeit entfällt. Wird das konkret zu prüfende Täterverhalten den ermittelten objektiven Sorgfaltsanforderungen jedoch nicht gerecht, so ist es objektiv sorgfaltspflichtwidrig.[27]

3. Objektive Vorhersehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und des Erfolgseintritts

Allein die objektive Sorgfaltspflichtverletzung reicht jedoch noch nicht, um eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu begründen. Ein Fahrlässigkeitsvorwurf kann vielmehr erst bei einer objektiv pflichtwidrigen Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt unter gleichzeitiger objektiver Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung erwachsen.

Die objektive Vorhersehbarkeit liegt vor, wenn der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb der Lebenserfahrung stehen, daß mit ihnen nicht gerechnet zu werden brauchte.[28]

Klausurhinweis: Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle des „Erfolges“ jeweils die Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung (z.B. muß bei § 163 das Falschsein der Aussage, bei § 316 II die rauschbedingte Fahruntüchtigkeit erkennbar gewesen sein).[29]

4. Objektive Zurechnung

Wie sich schon aus der gesetzlichen Formulierung (vgl. §§ 222, 229: „durch Fahrlässigkeit“) ergibt, muß zwischen dem Fehlverhalten des Täters und dem Erfolgseintritt ein Zurechnungszusammenhang bestehen, der einen bestimmten Pflichtwidrigkeits- und Schutzzweckzusammenhang zwischen Sorgfaltsmangel und Erfolg voraussetzt:

Objektiv zurechenbar ist der Erfolg, wenn sich gerade das rechtlich mißbilligte Verhalten des Täters in tatbestandsspezifischer Weise in der verursachten Folge niedergeschlagen hat, deren Eintritt nach dem Schutzzweck der einschlägigen Norm vermieden werden sollte.

Klausurhinweis: Bei den fahrlässigen Tätigkeitsdelikten (z.B. § 163) kommt dieser Zurechnung mangels eines vorausgesetzten Erfolges wie auch bei den vorsätzlichen Tätigkeitsdelikten keine Bedeutung zu.

a. Schutzzweck der Norm

Zunächst ist danach zu fragen, ob gerade der konkrete Erfolgseintritt nach dem Schutzzweck der einschlägigen Norm vermieden werden sollte. Fällt der konkret eingetretene Erfolg nicht in den Schutzbereich der verletzten Norm, verwirklicht sich also ein anderes, von der fraglichen Norm nicht geschütztes Risiko, so ist der eingetretene Erfolg objektiv nicht zurechenbar.[30]

So fehlt es zum Beispiel am Schutzzweckzusammenhang, wenn ein Fahrzeugführer irgendwann vor dem Eintritt in eine kritische Verkehrslage eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen hatte, welche überhaupt erst dazu beigetragen hat, daß er im Unfallzeitpunkt am Unfallort war.[31] Sonst könnte man dem Fahrzeugführer auch vorwerfen, daß er nicht noch schneller gefahren ist, da er in diesem Fall auch nicht am Unfallort, sondern an diesem schon vorbei gewesen wäre. Solche Erwägungen treffen aber nicht den Schutzzweck der betroffenen Sorgfaltsregeln. Geschwindigkeitsbeschränkungen sollen nicht bewirken, daß der Fahrzeugführer einen bestimmten Ort zeitlich später erreicht. § 3 StVO will vielmehr sicherstellen, daß der Fahrzeugführer bei Gefahren rechtzeitig abbremsen, ausweichen oder anhalten kann. Die Frage kann also nur sein, ob der Fahrzeugführer bei Eintritt in die kritische Verkehrssituation bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit noch rechtzeitig hätte abbremsen oder ausweichen können, um so den Unfall zu vermeiden.[32]

Entsprechendes gilt, wenn jemand eine rote Ampel nicht beachtet und nur deswegen zeitlich exakt einige Kilometer entfernt die Unfallstelle erreicht, an der er den Fußgänger erfaßt. Hier dient der Schutzzweck der Ampelanlage nur zur Sicherung des Kreuzungsbereiches, nicht daß Verkehrsteilnehmer eine bestimmte Position zeitlich verschoben erreichen.[33]

Fehlt eine konkrete Schutznorm, gegen die der Täter verstoßen hat und durch die gerade der konkrete Erfolgseintritt vermieden werden sollte, so ist eine etwaige Haftung auf die allgemeinen Fahrlässigkeitsgrundsätze zu stützen.

b. Pflichtwidrigkeitszusammenhang

Nach h.M. muß auch gerade das Täterverhalten in seiner Pflichtwidrigkeit für den Erfolg „kausal“ geworden sein.[34] Es muß sich diejenige rechtlich mißbilligte Gefahr realisiert haben, die durch die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters geschaffen worden ist.[35] Hier ist zu prüfen, ob der Erfolg bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt vermieden worden wäre.
Dabei scheidet nach h.M. eine objektive Zurechnung (schon) dann aus, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Täters eingetreten wäre.[36] Bestehen also konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der tatbestandliche Erfolg in gleicher Weise auch bei sorgfältigem, fehlerfreien Verhalten möglicherweise eingetreten wäre, dann scheidet die objektive Zurechnung in dubio pro reo aus.[37]

Bei dieser Prüfung ist wie folgt vorzugehen: Zunächst ist an die Handlung anzuknüpfen, die den konkreten Erfolg unmittelbar herbeigeführt hat. Dann ist das Fehlverhalten durch ein verkehrsgerechtes Verhalten zu ersetzen. Im übrigen darf von der Tatsituation weder etwas weggelassen noch hinzugedacht werden.

Anschließend ist danach zu fragen, ob derselbe Erfolg zur gleichen Zeit trotz pflichtgemäßen Alternativverhaltens eingetreten wäre.

Kann dies bejaht werden, so entfällt der Zurechnungszusammenhang. Aber wenn auch nur konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten eingetreten wäre, gilt der Grundsatz in dubio pro reo (s.o.).

Beispiel[38]: T fuhr mit seinem Lastzug auf einer geraden und übersichtlichen Straße, deren Fahrbahn etwa 6m breit war. Auf dem rechten Seitenstreifen fuhr ein Radler in der gleichen Richtung. T überholte ihn mit einer Geschwindigkeit von 26 bis 27 km/h Der Seitenabstand vom Kastenaufbau des Anhängers zum linken Ellbogen des Radfahrers betrug dabei 75 cm. Während des Überholvorgangs geriet der Radfahrer mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 ‰, auch für den Zeitpunkt des Unfalls.
Nach den oben genannten Kriterien ist T straffrei, wenn sein Fehlverhalten, das Überholen mit zu geringem Seitenabstand, durch verkehrsgerechtes Verhalten, also die Einhaltung eines größeren Abstandes ersetzt werden könnte, und der konkrete Erfolgseintritt dennoch nicht entfiele: Ersetzt man den zu geringen Seitenabstand durch einen gebotenen, so spricht die starke Alkoholisierung des O dafür, daß dieser auch aufgrund von Gleichgewichtsstörungen unter die Räder des Lkw gekommen und getötet worden wäre. Daher ist T wegen des Grundsatzes in dubio pro reo freizusprechen (a.A. vertretbar).

Zur dieser Problematik des Zurechnungszusammenhangs und des pflichtgemäßen Alternativverhaltens sei noch folgendes denkwürdiges Beispiel aus der Rechtsprechung angeführt:

Sachverhalt[39]: T befährt nachts mit seiner Beifahrerin die Mittelspur einer dreispurigen Autobahn mit einer (grundsätzlich nicht zu beanstandenden) Geschwindigkeit von 160 km/h und einer BAK von 1,39 ‰. Plötzlich schert das rechts neben T fahrende Kfz zur Mitte hin aus und beide Fahrzeuge kollidieren punktuell. Daraufhin schleudert das Kfz des T mit einer Geschwindigkeit von 107 – 120 km/h zunächst nach links gegen die Leitplanke und dann zurück auf die Mittelspur, wo es schräg zum Stehen kommt. Ein nachfolgendes Fahrzeug prallt im Bereich der Beifahrertür in das stehende Kfz des T und tötet so die Beifahrerin, die bereits durch den ersten Aufprall gegen die Leitplanke lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte.
Der Sachverständige stellt fest, daß auch ein nüchterner Fahrer bei den hier grundsätzlich zulässigen 160 km/h[40] den tödlichen Unfall nicht hätte vermeiden können. Hätte T bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation eine Geschwindigkeit von höchstens 130 km/h statt 160 km/h eingehalten, wäre es - bei einem im übrigen gleichen Geschehensablauf - zwar noch zu einem Unfall, jedoch nicht zur Tötung der Beifahrerin gekommen. Bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h wäre der Aufprall gegen die Leitplanke lediglich mit einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h erfolgt, so daß es weder zu nennenswerten Verletzungen der Insassen gekommen, noch der Pkw zurück auf die Mittelspur gelangt wäre.
Vorweg ist hier festzustellen, daß eine Strafbarkeit des T aus § 315c nicht in Betracht kommt, da nicht die Fahruntüchtigkeit (Abs. 1 Nr. 1) des T den Tod der Beifahrerin verursachte. Auch ein nüchterner Fahrer hätte bei ansonsten gleichbleibenden Umständen den Tod der O nicht vermeiden können. Damit verbleibt zunächst eine Strafbarkeit des T aus § 316.
Fraglich ist, ob darüber hinaus eine Strafbarkeit des T aus § 222 wegen fahrlässiger Tötung der Beifahrerin in Betracht kommt. Der Tod der Beifahrerin ist (auch) durch die Handlung (das Autofahren) des T eingetreten. Auch die Kausalität nach der Äquivalenztheorie ist gegeben, da das Führen des Kfz nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg (der Tod) in seiner konkreten Form entfiele. Problematisch ist jedoch der Zurechnungszusammenhang, da trotz der äquivalenten Kausalität einer Handlung der Erfolg nur dann objektiv zurechenbar ist, wenn sich gerade das pflichtwidrige Verhalten des Täters in dem Eintreten des Erfolges realisiert. Folglich würde der zurechenbare Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des T und dem Tod der Beifahrerin entfallen, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten des T eingetreten wäre, oder sich dies aufgrund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen ließe (in dubio pro reo).
Das BayObLG[41] hat hier den objektiven Zurechnungszusammenhang bejaht. Anknüpfungspunkt ist nach dessen Auffassung nicht das Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit, sondern ein Verstoß gegen § 3 I StVO. Nach § 3 I StVO darf der Fahrzeugführer nur so schnell fahren, daß er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Er hat seine Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten anzupassen. Das dem T vorwerfbare verkehrswidrige Verhalten besteht somit - abgesehen davon, daß er wegen seiner Alkoholisierung überhaupt nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen durfte - darin, daß er seine Geschwindigkeit nicht seiner durch Alkoholeinfluß herabgesetzten Reaktionsfähigkeit angepaßt hatte. Daher könne bei der Frage, ob das Verhalten des T für den Tod seiner Beifahrerin ursächlich war, nicht darauf abgestellt werden, ob auch ein nüchterner Kraftfahrer bei der für diesen nicht zu beanstandenden Geschwindigkeit infolge der Berührung mit einem abrupt die Fahrspur wechselnden Fahrzeug eines Dritten gegen die Leitplanke und zurück auf die Fahrbahn geschleudert worden wäre. Vielmehr komme es darauf an, ob der Tod der Beifahrerin vermieden worden wäre, wenn T bei im übrigen gleichen Sachverhalt mit angepaßter Geschwindigkeit gefahren wäre.
Nach Auffassung des BayObLG wäre daher das rechtmäßige Alternativverhalten in der Geschwindigkeitsanpassung (vom Sachverständigen festgestellt: bei BAK von 1,39 ‰, eine Geschwindigkeit von 130 km/h) zu sehen. Ferner wäre der Tod der Beifahrerin bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit nicht eingetreten, so daß T aus § 222 zu bestrafen ist.

Stellungnahme: Dieses Ergebnis des BayObLG steht in krassem Gegensatz zu den oben dargelegten Grundsätzen der objektiven Zurechenbarkeit. Besteht die Sorgfaltspflichtverletzung eines Autofahrers darin, im Zustand der Fahruntüchtigkeit Auto gefahren zu sein, und verursacht er in diesem Zustand einen tödlichen Unfall, der gerade nicht den Tatbestand des § 315c erfüllt, weil eben die Fahruntüchtigkeit gerade nicht kausal für den Unfall war, so kann ihm auch keine fahrlässige Tötung nach § 222 zur Last gelegt werden. Denn hätte das BayObLG auf diese Sorgfaltspflicht, nicht im fahruntüchtigen Zustand Auto zu fahren, abgestellt, hätte keine Strafbarkeit nach § 222 begründet werden können. Statt dessen knüpft das BayObLG an eine andere Sorgfaltspflicht an: Die Pflicht, bei Fahren trotz Fahruntüchtigkeit wenigstens die Geschwindigkeit an das durch die Alkoholisierung herabgesetzte Reaktionsvermögen anzupassen. Diese Pflicht soll sich aus § 3 I 1 und § 2 StVO ergeben.[42] Dies steht wiederum im Widerspruch zu dem Verbot, im fahruntüchtigen Zustand überhaupt Auto zu fahren (vgl. § 316 StGB und § 24a StVG). Es ist daher widersinnig, bei einem absoluten Verbot eine Pflicht anzunehmen, bei deren Einhaltung das Verhalten des Fahruntüchtigen immer noch nicht erlaubt wäre, er sich somit strafbar machen würde, auch wenn er die Geschwindigkeit seinem fahruntüchtigen Zustand angepaßt hätte.
Bei der Zurechnung wäre daher nach den oben dargelegten Grundsätzen und der hier vertretenen Ansicht nur darauf abzustellen, ob T gerade wegen seines sorgfaltspflichtwidrigen Verhaltens, der Alkoholisierung, den Unfall verursachte. Fest steht, daß auch ein nüchterner Autofahrer bei Eintritt in die fragliche Verkehrssituation, den tödlichen Unfall nicht hätte verhindern können. Da die Zurechnung somit verneint werden muß, kommt nach der hier vertretenen Ansicht eine Strafbarkeit aus § 222 nicht in Betracht, so daß es bei der Strafbarkeit des T gemäß § 316 bleibt.[43]

c. Einschränkungen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs

aa. Wie auch im Rahmen der Vorsatzdelikte können sich Einschränkungen der Erfolgszurechnung zunächst aus dem Eigenverantwortlichkeitsprinzip ergeben.
Eine freiverantwortliche Selbstschädigung oder Selbstgefährdung des Opfers läßt i.d.R. die objektive Zurechnung entfallen, da derjenige, der seine eigenen Rechtsgüter in freiverantwortlicher Weise selbst verletzt oder gefährdet, dafür grundsätzlich die alleinige Verantwortung trägt (sog. Eigenverantwortlichkeitsprinzip).
Derjenige, der lediglich eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich also nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdeliktes strafbar, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewußt eingegangene Risiko realisiert.[44]

Eine Strafbarkeit kommt in solchen Fällen aber dann in Betracht, wenn der sich Beteligende das Risiko kraft überlegenen Sachwissens besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende.[45]

cc. Das Problem einer Einschränkung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs stellt sich ferner, wenn der gleiche Erfolg auch durch das fahrlässige Verhalten eines Dritten herbeigeführt worden wäre.

Beispiel[46]: Bei einem Massenunfall auf der Autobahn kann O unverletzt sein Fahrzeug verlassen. Noch bevor er sich in Sicherheit begeben kann, wird er vom auffahrenden T1 erfaßt und tödlich verletzt. Unmittelbar danach werden die Wagen von O und T1 durch den auffahrenden Lkw des T2 zusammengedrückt. Wenn O nicht schon durch T1 getötet worden wäre, wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch T2 getötet worden. Strafbarkeit des T1?
Denkt man die Handlung des T1 hinweg, so wäre der Tod des O ebenfalls eingetreten. Es könnte somit an der Kausalität zwischen der Handlung des T1 und dem Erfolgseintritt fehlen. Allerdings ist der konkrete Taterfolg gerade durch die Handlung des T1 eingetreten. Daß der Taterfolg auch wenig später durch eine andere Handlung, durch eine Reserveursache, herbeigeführt worden wäre, kann die objektive Zurechnung der Handlung des T1 nicht entfallen lassen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie beim vorsätzlichen Begehungsdelikt.

II. Rechtswidrigkeit

Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit bestehen grundsätzlich keine Besonderheiten im Vergleich zu den Vorsatzdelikten. Auch hier wird die Rechtswidrigkeit durch die Verwirklichung des Tatbestandes indiziert und kann durch die anerkannten Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein.[47]
Problematisch ist es aber, wenn dem Täter bei objektiv gegebener Rechtfertigungslage subjektive Rechtfertigungselemente fehlen, was insbesondere bei unbewußter Fahrlässigkeit der Fall ist, da der Täter dann ja gerade nicht mit der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung gerechnet hat. Nach einer Meinung im Schrifttum[48] scheidet eine Rechtfertigung aus, wenn subjektive Rechtfertigungselemente fehlen. Die Gegenauffassung[49] läßt dagegen allein das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungselemente genügen, da schon so das Erfolgsunrecht entfalle. Für die letztgenannte Ansicht spricht ein Vergleich zum Vorsatzdelikt. Dort wird bei fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementen nach h.M. eine Strafbarkeit nicht aus Vollendung, sondern, weil die objektiv gegebene Rechtfertigung nur einen Teil des Unrechtstatbestandes entfallen läßt, aus den Versuchsregeln begründet. Beim Fahrlässigkeitsdelikt scheidet dagegen schon deliktstypisch eine Versuchsstrafbarkeit aus.[50] Daraus folgt, daß begrifflich nur der in der Sorgfaltswidrigkeit liegende Handlungsunwert übrig bleibt, der bei der Fahrlässigkeitstat wegen der nicht vorhandenen Strafbarkeit des Versuchs, strafrechtlich nicht zu erfassen ist. Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten können also subjektive Rechtfertigungselemente fehlen.

Beim fahrlässigen Tätigkeitsdelikt muß der Täter aber zum Zwecke der Ausübung der ihm durch den Rechtfertigungsgrund gegebenen Befugnis gehandelt haben.[51]

III. Schuld

Für die Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt gilt der gleiche Aufbau und es gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Vorsatztat. Danach ist auf die Schuldfähigkeit nur dann einzugehen, wenn der Sachverhalt Anlaß dazu bietet.

Sodann sind, sofern man mit einer M.M. diese Einordnung trifft, ggf. spezielle Schuldmerkmale wie z.B. die "Rücksichtslosigkeit" bei § 315c I Nr. 2 oder niedrige Beweggründe bei § 211 II 1. Gruppe) zu prüfen.[52]

Auf das Unrechtsbewußtsein i.w.S. (= Fahrlässigkeitsschuldvorwurf) muß jedoch näher eingegangen werden. Speziell ist hier an die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung und bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten die subjektive Vorhersehbarkeit des wesentlichen Kausalverlaufs und des Erfolgseintritts zu denken.

Der Täter muß nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens imstande gewesen sein, die objektive Sorgfaltspflicht zu erkennen und die sich daraus ergebenden Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen.[53]

Klausurhinweis: Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten wie z.B. dem § 163 oder dem § 316 ist statt eine Erfolgseintritts- und Zurechnungsproblematik zu erörtern, nur die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes durch das im Gesetz beschriebene Verhalten (bei § 163 das falsche Schwören) festzustellen. Bei der Prüfung der Sorgfaltspflichtverletzung tritt die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung an die Stelle der Vorhersehbarkeit des Erfolges.[54]

Bei dieser Prüfung ist die Intelligenz, Bildung, Geschicklichkeit, Befähigung, Lebenserfahrung etc. des Täters sowie die ggf. vorliegenden Besonderheiten der jeweiligen Situation (Affekt, Streß, Schrecken, Verwirrung usw.) zu berücksichtigen.[55] Bis auf besondere Ausnahmen wird die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung durch die bereits im Tatbestand festgestellte objektive Sorgfaltspflichtverletzung indiziert.

Darüber hinaus muß beim fahrlässigen Erfolgsdelikt der tatbestandliche Erfolg und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen subjektiv vorhersehbar gewesen sein.[56]

Auch diesbezüglich gilt, daß die subjektive Voraussehbarkeit bis auf besondere Ausnahmen durch die bereits im Tatbestand festgestellte objektive Voraussehbarkeit indiziert wird.

Klausurhinweis: Hat der Täter den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen und den tatbestandlichen Erfolg tatsächlich vorhergesehen, liegt ein Fall der bewußten Fahrlässigkeit vor. Die subjektive Vorhersehbarkeit kann in diesem Fall unproblematisch mit einem Satz festgestellt werden. Liegen indes keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Täter den Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen und den tatbestandlichen Erfolg vorhergesehen hat, so ist aufgrund der Indizwirkung der gegebenen objektiven Vorhersehbarkeit und mangels besonderer Fallkonstellationen, die auf die Verneinung der subjektiven Vorhersehbarkeit deuten, von dessen Vorliegen auszugehen. In diesem Fall liegt unbewußte Fahrlässigkeit vor. Zwar hat die Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit auf die Strafbarkeit keinen Einfluß, wohl aber auf die damit verbundene Schwere der Schuld und somit auf das Strafmaß.

Im Gegensatz zum vorsätzlichen Begehungsdelikt ist die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei bewußten Fahrlässigkeitstaten als eigener Entschuldigungsgrund von der h.M. anerkannt.[57]
Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kann demnach nur begründet werden, wenn dem Fahrlässigkeitstäter ein normgerechtes Verhalten zugemutet werden konnte.


[1] Vgl. auch Wessels/Beulke, AT, Rn 656.

[2] Vgl. zu dieser Abgrenzung schon die grundlegenden Ausführungen auf S. 26 ff..

[3] Tröndle/Fischer, § 15 Rn 13. Es ist somit - in Abweichung zum Zivilrecht, bei dem die im Verkehr erforderliche Sorgfalt entscheidet (objektivierter Fahrlässigkeitsmaßstab) - ein subjektiver Maßstab anzulegen.

[4] Wessels/Beulke, AT, Rn 662.

[5] Tröndle/Fischer, § 15 Rn 19; Kretschmer, Jura 2000, 267.

[6] Vgl. nur Wessels/Beulke, AT, Rn 659.

[7] Wessels/Beulke, AT, Rn 678.

[8] Haft, AT, S. 161.

[9] Wessels/Beulke, AT, Rn 658.

[10] Zur Differenzierung Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte vgl. auch die einführenden Ausführungen auf S. 3 f..

[11] Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der „Erfolgsverursachung“ die in Betracht kommende Tatbestandsverwirklichung durch die im Gesetz umschriebene Tatbestandshandlung (z.B. das „falsche Schwören“ in § 163).

[12] Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten tritt an die Stelle der „Voraussehbarkeit des Erfolges“ jeweils die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung (z.B. muß bei § 163 das Falschsein der Aussage, bei § 316 II die rauschbedingte Fahruntüchtigkeit erkennbar gewesen sein).

[13] Vgl. auch die Ausführungen auf S. 13 ff..

[14] Wessels/Beulke, AT, Rn 665.

[15] Haft, AT, S. 161; Wessels/Beulke, AT, Rn 660.

[16] Wessels/Beulke, AT, Rn 668.

[17] Haft, AT, S. 166.

[18] Wessels/Beulke, AT, Rn 669; Jeschek/Weigend, AT, § 55 I 2b; BGHSt 7, 307; 20, 315, 321.

[19] SK-Samson, Anhang zu § 16 Rn 13.

[20] BGH JZ 1987, 877, 878 f.; Wessels/Beulke, AT, Rn 670; Haft, AT, S. 167; Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 138 ff..

[21] Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 144.

[22] Vgl. Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 146 m.w.N..

[23] Vgl. Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 149 f..

[24] Wessels/Beulke, AT, Rn 671 m.w.N..

[25] Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 152.

[26] Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 153.

[27] Wessels/Beulke, AT, Rn 672a.

[28] Vgl. nur Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 180 m.w.N..

[29] Vgl. Wessels/Beulke, AT, Rn 664.

[30] Vgl. auch Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 174.

[31] BGHSt 33, 61, 64.

[32] Wessels/Beulke, AT, Rn 674.

[33] Vgl. auch Kretschmer, Jura 2000, 267, 275.

[34] Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 162.

[35] Wessels/Beulke, AT, Rn 675.

[36] Vgl. die Nachweise bei Joecks, § 222 Rn 20; Wessels/Beulke, AT, Rn 680.

[37] Wessels/Beulke, AT, Rn 680. Dagegen bejaht eine andere Auffassung die die sog. Risikoerhöhungslehre vertritt, die Zurechenbarkeit schon dann, wenn die Verletzung der Sorgfaltspflicht eine gegenüber der normalen Gefahr erheblich gesteigerte Gefährdung des Schutzguts herbeiführt, sich das Risiko des Erfolgseintritts gegenüber dem erlaubten Risiko also deutlich erhöht hat. Vgl. hierzu m.w.N. auch bzgl. der Rechtsprechung und h.M., die diese Lehre als contra legem ablehnt (è Verletzungsdelikte werden hiernach unzulässigerweise in Gefährdungsdelikte umgedeutet) Tröndle/Fischer, Vor § 13 Rn 17e. Der Grundsatz in dubio pro reo kommt hiernach nur insofern zur Anwendung, als es um die Frage geht, ob es durch die Pflichtverletzung zu einer Gefahrerhöhung gekommen ist oder nicht.

[38] BGHSt 11, 1 ff..

[39] Vgl. BayObLG NStZ 1997, 388 ff..

[40] Vgl. § 18 VI Nr. 1 StVO.

[41] BayObLG NStZ 1997, 388 f..

[42] Vgl. BayObLG NStZ 1997, 388, 389.

[43] So auch Puppe, NStZ 1997, 389 f..

[44] Vgl. jüngst BGH NJW 2000, 2286, 2287 m.w.N..

[45] BGH NJW 2000, 2286, 2287.

[46] Vgl. BGHSt 30, 228 ff.; Wessels/Beulke, AT, Rn 688.

[47] Wessels/Beulke, AT, Rn 691.

[48] LK-Hirsch vor § 32 Rn 58; Maurach/Gössel, AT 2, § 44 Rn 18.

[49] Jescheck § 56 I 3; Joecks, § 15 Rn 74; Stratenwerth, AT, § 15 Rn 40; SK-Samson Anh. zu § 16 Rn 32; Sch-Sch-Lenckner, vor §§ 32 ff. Rn 97-99. Vgl. auch Graul, JuS 2000, L 41, 43.

[50] Ein Versuch ist vom Wollen des Täters geprägt. Beim Fahrlässigkeitsdelikt will der Täter den Taterfolg gerade nicht.

[51] Jescheck, AT, § 56 I 3 m.w.N.: è „Wer von einem Trinkgelage zu einer Unfallstelle fährt, ohne an seine Fahruntüchtigkeit zu denken (§ 316 II), ist nur dann nach § 34 gerechtfertigt, wenn er Hilfe bringen will.“

[52] Nach der herrschenden und auch hier vertretenen Auffassung handelt es sich hierbei jedoch um objektive Tatbestandsmerkmale. Vgl. die Ausführungen im BT I auf Seite 11.

[53] Vgl. nur Wessels/Beulke, AT, Rn 692; Sch-Sch-Cramer, § 15 Rn 194.

[54] Wessels/Beulke, AT, Rn 665.

[55] Haft, AT, S. 167.

[56] Vgl. nur Kretschmer, Jura 2000, 267, 276. Nach der Rechtsprechung muß der Erfolg für den Täter grundsätzlich nur im Endergebnis, nicht auch hinsichtlich des Geschehensablaufes, wie er sich im einzelnen zugetragen hat, voraussehbar gewesen sein. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters soll aber jedenfalls für solche Ereignisse entfallen, die so sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegen, daß sie der Täter auch bei der nach den Umständen gebotenen und ihm nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten zumutbaren sorgfältigen Überlegung nicht ins Auge zu fassen braucht (vgl. BGHSt 12, 75, 77 f)

[57] Sch-Sch-Lenckner, Vorbem §§ 32 ff. Rn 126; Haft, AT, S. 168; Wessels/Beulke, AT, Rn 692 m.w.N..


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