Überblick:
- Historische Entwicklung der
Grundrechte
- Arten und Einteilung der
Grundrechte
- Grundrechtsfunktionen
- Methodische
Aspekte
- Internationaler
Menschenrechtsschutz
I. Historische Entwicklung der Grundrechte
Es gibt keine kontinuierliche und auch keine
einheitliche Entwicklung der Grundrechte. Wenn man Grundrechte allgemein als
Rechte von Einzelnen oder Minderheiten gegenüber der Macht im Staat
versteht, so es gibt es vier Entwicklungsstränge: In England, in
Nordamerika, in Frankreich und in Deutschland.
1. Entwicklung in England
- Erste Ansätze gab es in England im Jahre 1215, so
sich britischen Barone vom englischen König ihre Feudalrechte
bestätigen ließen („Magna Charta Libertatum“). Dazu
gehörten u.a. Eigentum, Freiheit des Adels und Klerus gegen Übergriffe
des Königs); in Art.§39 der Charta wurde die
Gesetzmäßigkeit der Strafverfolgung gegenüber den Untertanen
festgelegt.
- Der Schutz der Freiheit vor willkürlicher Verhaftung
spielte eine wesentliche Rolle in der Habeas Corpus-Akte von 1679. Hier wurden
nunmehr genauere verfahrensmäßige Garantien für
Freiheitsentziehungen verankert.
- Der nächste Schritt in England war die Bill of
Rights des Jahres 1689. Wenngleich hier auch die demokratisch äußerst
wichtigen Rechte des Parlaments niedergelegt wurden (Begründung der
konstitutionelle Monarchie), so sind dort ebenfalls Rechte von Individuen
enthalten, so insbesondere das Petitionsrecht. Die damals bestehende Grundrechte
wurden geschützt und gelten noch
heute.
2. Entwicklung in Nordamerika
- Im Jahre 1776 wurde in Virginia die Bill of Rights
verkündet, und zwar als Manifest gegen die Unterdrückung durch das
Mutterland England. Bereits im Ansatzpunkt unterscheidet sich diese
Erklärung von den genannten englischen Rechtsakten. Sie geht nämlich
in Art.§1 von der gleichermaßen freien und unabhängigen
menschlichen Natur aus, aus der gewisse angeborene und
unveräußerliche Rechte folgen. Hierzu gehören Leben, Freiheit
und die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen, daneben auch
"Glück und Sicherheit zu Erstreben und zu erlangen". Diese Rechte sind der
Staatsbildung vorgelagert, also quasi der natürliche Status der Menschen
und ihm nicht aberkennbar. Die Bill of Rights von Virginia enthält neben
den Inhalten der Habeas Corpus-Akte eine ganze Reihe von Grundrechten, welche
heute zum selbstverständlichen Standard der Demokratien geworden sind. Der
Bill of Rights in Virginia folgte noch im gleichen Jahre diejenige des Staates
Pennsylvania, die bereits eine echte Verfassung war, weil sie einen
Grundrechtsteil vereinigte mit einem Teil über die Regierungskompetenzen
und –verfahren.
- Im Jahre 1787 wurde die amerikanische Bundesverfassung
zunächst ohne einen Grundrechtskatalog verabschiedet. Erst im Jahre 1791
wurden die zehn „Amendments" zur amerikanischen Verfassung beschlossen,
welche eine ganze Reihe von Grundrechten verfassungsrechtlich Verankerten. Der
Meilenstein für die gerichtliche Überprüfung des
gesetzgeberischen Handelns an der Verfassung und somit insbesondere auch an den
Grundrechten ist die berühmte Entscheidung des U.S. Supreme Court
„Marbury v. Madison“
(1803).
3. Entwicklung in Frankreich
Im Jahre 1789 wurde die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte („Déclaration des droits de l'homme et des
citoyens") veröffentlicht, welche in ihrem Art.§1, ebenso wie dies in
Nordamerika der Fall war, davon ausgeht, daß die Grundrechte der Menschen
dem Staat vorgelagert sind, nicht von ihm begründet werden, daß die
Menschen vielmehr von Geburt frei und gleich seien und daß Unterschiede
nur aufgrund eines Gesetzes gemacht werden können. Interessanterweise wird
hier der natürlichen Gleichheit der gesellschaftliche Unterschied
entgegengesetzt. Die „Déclaration des droits de l'homme et des
citoyens" enthält bereits einen sehr weit aufgefächerten
Grundrechtskatalog und ist die Wurzel der Grundrechtsentwicklung in Frankreich
und in Europa. Sie ist aufgrund einer Rezeptionsklausel auch Bestandteil der
heutigen französischen Verfassung.
4. Entwicklung in Deutschland
- Die deutsche Entwicklung wurde sehr stark durch die
französische beeinflußt, insbesondere durch die Einflußnahme
der französischen Revolution in Süddeutschland. Trotzdem faßte
die Grundrechtsentwicklung im eigentlichen Sinn in Deutschland im 19.
Jahrhundert nur schwer Fuß. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts
entwickelten sich in den Verfassungen süddeutscher Staaten (Bayern am
26.5.1818, Baden-Württemberg) Grundrechtskataloge, welche
Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, Eigentumsfreiheit und persönliche
Sicherheit beinhalteten. Ein umfassender Katalog liberaler Freiheitsrechte waren
zum ersten Mal in der Verfassungsgebung der Frankfurter Paulskirche (1849)
enthalten. Darauf folgte aber schon 1850 die oktroyierte preußische
Verfassung (ALR). Hier handelte es sich aber nach deutschem Verständnis
nicht um naturgegebene, unveräußerliche Rechte, sondern um Rechte,
welche der Staat in einer Entwicklung hin zu immer mehr liberaler Freiheit
gewährte. Die Staatsgewalt ruhte immer ausgeprägter auf zwei
Säulen: dem Monarchen und der Ständeversammlung
(Konstitutionalismus).
- Im Jahre 1871 entstand die Verfassung des Deutschen
Reiches, welche Bismarck entworfen hatte. Sie enthält selber überhaupt
keinen Grundrechtskatalog, was dadurch gerechtfertigt wurde, daß in den
Verfassungen der Gliedstaaten sowohl des Bundes als auch des Reiches
ausreichende Vorsorge für den Grundrechtsschutz getroffen worden
sei.
- Zwar brach die deutsche Revolution des Jahre 1918 mit der
konstitutionalistischen Tradition und enthielt die Weimarer Reichsverfassung des
Jahres 1919 einen umfangreichen Grundrechtskatalog von 46 Artikeln, welcher
neben den liberalen Freiheitsrechten auch soziale Grundrechte enthielt. Die
tatsächliche Rechtsentwicklung führte jedoch dazu, daß
einerseits diese neuen Rechte nicht über den Status von Programmsätzen
hinaus kamen (keine unmittelbare Geltung), und auch die liberalen
Freiheitsrechte nur in enger Anbindung an die vorkonstitutionelle Tradition
behandelt wurden.
- Erst das GG von 1949 stellt die Grundrechte als
unmittelbar geltendes Recht vor die weiteren Rechten (vgl. Art.§1 Abs.3
GG). Gleichwohl finden sich in den Formulierungen des Grundrechtskataloges des
Grundgesetzes durchaus die Spuren der alten deutschen Staatsrechts-Tradition
(vgl. Gesetzesvorbehalte). Dies zeigt sich auch bei der Eigentumsfreiheit, bei
der das Eigentun als vom Staat gestaltetes Recht, nicht etwa als vom Staate
vorgefundenes Recht konstruiert ist. Bedeutung haben die Grundrechet aber
insofern, daß sie unmittelbar gelten, d.h. sie gehen im Rang dem einfachen
Gesetz vor und beschränken die demokratische Mehrheitsentscheidung sowie
den Gesetzgeber. Wenn man die deutschen Grundrechte und die daran
anknüpfende Grundrechtsdogmatik beobachtet, sollte man sich immer dessen
bewußt sein, daß sie aus verschiedenen Traditionszweigen entstanden
sind, welche jedoch heute alle in einem gemeinsamen obersten Gesichtspunkt
vereinigt werden können: der Ableitung aus der
Menschenwürde.
- Das Grundgesetz enthält in den Art.§1 –
19 nur die klassischen liberalen Freiheitsrechte. Es enthält keinerlei
soziale Grundrechte. Noch bei der Verfassungsreform des Jahres 1994 wurde von
der Reformkommission ausdrücklich die Aufnahme sozialer Grundrechte in das
Grundgesetz abgelehnt. Vielmehr werden soziale Grundrechte als auch das
sogenannte Umweltgrundrecht über "Staatszielbestimmungen" erfaßt, wie
sie in Art.§20 GG verankert sind: Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie,
Bundesstaat und seit 1994 der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
Staatszielbestimmungen sind aber nur Programmsätze, welche vom Gesetzgeber
beachtet und erst aktualisiert werden müssen. Den Staatszielbestimmungen
kommt in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte eine erhebliche Bedeutung zu.
Sie sind Leitmaßstäbe, welche der Gesetzgeber nicht außer Acht
lassen darf und mit anderen obersten Verfassungswerten in Übereinstimmung
bringen muß.
- Nicht nur das GG enthält Grundrechte, sondern auch
die Landesverfassungen. Dabei stimmen in vielerlei Hinsicht die
Grundrechtspositionen überein, einige Landesverfassungen enthalten jedoch
auch soziale Grundrechte (Recht auf Arbeit, Recht auf Sozialhilfe). Fraglich
ist, ob diese weitergehenden Grundrechte gültig sind oder gegen
Art.§31 GG verstoßen. Nach Art.§142 GG gilt aber, daß
ungeachtet der Vorschrift des Art.§31 Bestimmungen der Landesverfassungen
auch insoweit in Kraft bleiben, als sie in Übereinstimmung mit den
Art.§1 bis 18 GG Grundrechte gewährleisten. Aus diesem Grunde
wären Landesgrundrechte nur dann nicht anwendbar, wenn sie einem
Bundesgrundrecht widersprechen.
II. Arten und Einteilung der Grundrechte
Außerhalb des Katalogs der Grundrechte
(Art.§1 - 19 GG) findet man die sogenannten grundrechtsgleichen Rechte
(Katalog im §§93 Nr. 4 a GG: Art.§20 Abs.4, 33, 38, 101, 103 und
104). Nach ihrem Inhalt bzw. ihrer Zielrichtung kann man die Grundrechte in
verschiedene Gruppen einteilen, wobei diese Einteilung nicht exklusiv ist, d.h.
ein Grundrecht kann nicht nur eine Gruppe zugeordnet werden (sondern ggf.
mehreren Gruppen):
- Freiheitsrechte = Abwehrrechte (auf Unterlassung einer
Handlung des Staates
gerichtet)
Art.§2, 4, 5, 6 Abs.3, 7
Abs.2, 7 Abs.3 S.3, 7 Abs.4, 7 Abs.5, 8, 9, 10, 11, 12, 12a, 13, 14, 15, 16,
16a, 17, 17a, 18, 19
- Gleichheitsrechte (auf Unterlassung einer Handlung oder
auf ein Tun des Staates
gerichtet)
Art.§3, 6 Abs.5, 33
Abs.1, 33 Abs.2, 33 Abs.3, 38 Abs.1 S.1
- Leistungsrechte (auf ein Tun des Staates
gerichtet)
Art.§6 Abs.4, 16a, 17,
19 Abs.4, GG
- Justizgrundrechte
Art.§19
Abs.4, 101, 103, 104 GG
- Einrichtungsgarantien
Art.§6
Abs.1, 6 Abs.2, 7 Abs.1, 7 Abs.3 S.1 und 2, 33 Abs.4, 33 Abs.5
- Staatsbürgerliche
Mitwirkungsrechte
Art.§38, 33 Abs.2
GG
III. Grundrechtsfunktionen
Die Grundrechte haben verschiedene funktionale Inhalte
und wirken damit – teilweise kumulativ – auf verschiedene Weise:
Abwehrrechte, Leistungsrechte, Schutzpflichten des Staates und objektive
Wertordnung. Mit der Lehre von den Grundrechtsfunktionen eng zusammen hängt
die sog. „Statuslehre" von Georg Jellinek. Danach befindet sich der
Bürger in einem oder mehreren von drei Status gegenüber dem
Staat:
- status negativus (Freiheit vom
Staat)
- status positivus (Freiheit
durch staatliche Leistung)
- status activus (Freiheit zur
Betätigung im und für den
Staat)
1. Abwehrrechte („status negativus“)
Die klassische Funktion der Grundrechte ist die
Abwehrfunktion gegenüber Eingriffen des Staates. Sie richten sich gegen den
Staat, allerdings nicht notwendig im Sinne einer Konfrontation. Sie sichern dem
einzelnen einen Freiraum gegenüber dem Staat, der nicht ohne weiteres
eingeschränkt werden darf. Verwirklicht wird die Abwehrfunktion durch die
Freiheitsgrundrechte (s.o.). Dem demokratischen Gesetzgeber sind durch die
Grundrechte Grenzen gesetzt, damit auch die Minderheiten geschützt werden
(vgl. BVerfGE 7, 377 - Apothekenentscheidung). Die Grundrechte sollen damit
Freiheitsrechte auch gegen die demokratische Mehrheit verteidigen (sog.
negatorische Schutzwirkung).
2. Leistungsrechte („status positivus“)
Wenn man den Begriff der Leistungsrechte weit versteht,
so fallen hierunter alle Ansprüche des Grundrechtsträger gegen den
Staat, also auch die Ansprüche, welche sich als Kehrseite der staatlichen
Schutzpflichten ergeben. Im engeren Sinne geht es um staatliche Leistungen im
sozialen und wirtschaftlichen Bereich (Subventionen, Arbeitsplätze,
etc.).
- „Originäre Leistungsrechte“ kennt das GG
grundsätzlich nicht, d.h. aus einem Abwehrrecht kann nicht abgeleitet
werden, daß der Staat die Mittel zu seiner Ausübung zur
Verfügung stellen muß (z.B. folgt aus der Kunstfreiheit nicht,
daß der Staat dem Künstler sein Material stellen muß).
Grundrechtliche Rechte auf staatliche finanzielle oder finanzwirksame Leistungen
gibt es damit jedenfalls im wirtschaftlichen Bereich nicht.
- Im übrigen kann ein staatliches Leistungsrecht nur
als sog. derivatives (=abgeleitetes) Leistungsrecht Grundrechte zur Wahrung der
Chancengleichheit (gem. Art.§3 Abs.1 GG) bestehen, d.h. wenn der Staat
bestimmten Einrichtungen Geld gibt, dann verlangt Art.§3 Abs.1 GG eine
Gleichbehandlung für andere solche Einrichtungen. Der Staat, wenn er
leistet, muß die Chancen aller gleichmäßig beachten. Das gilt
etwa für den Hochschulzugang (BVerfGE 33, 303, 333 - numerus clausus) bei
dem das BVerfG einen Anspruch darauf gegeben hat, daß der Staat das
leistet, was vernünftigerweise von der Gesellschaft beansprucht werden
kann.
- Da jede Entscheidung des BVerfG, ein Leistungsanspruch
gegen den Staat zu fordern, in den Haushalt des Bundes (und damit in die
Verantwortung des Parlaments) eingreift, sind solche Ansprüche jedoch nur
die Ausnahme. Ein Beispiel ist Art.§7 Abs.4 S.1 GG (Garantie von
Privatschulen). Das BVerfG hat daraus auch eine Leistungsfunktion des Staates
anerkannt, Privatschulen in ausreichenderweise mit Finanzmitteln zu
fördern, damit nicht nur reiche Schüler diese besuchen können,
sondern Gleichheit garantiert ist (E 75,
40ff).
3. Schutzpflichten des Staates
- Dogmatische Herleitung der
Schutzpflicht
Die Grundrechte als
Abwehrrechte gegen den Staat verpflichten den Staat zunächst v.a. zum
Unterlassen rechtswidriger Eingriffe in den Schutzbereich der Grundrechte.
Darüber hinaus verlangen sie nach der Rspr. des BVerfG auch die vorbeugende
Verhinderung drohender Grundrechtsverletzungen durch Dritte oder durch den
Staat: Aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts folge „die
Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die
genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen
Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren" (BVerfGE 53, 30, 57). Diese
Schutzpflichten des Staates werden bisher primär aus Art.§2 Abs.2 S.1
GG iVm. Art.§1 Abs.1 S.2 GG (Schutzpflicht für Leben und Gesundheit
der Menschen) abgeleitet. In der Entscheidung zur Fristenlösung (BVerfGE
39, 1, 42 = NJW 1975, 573) führt das BVerfG u.a. aus: "Die Schutzpflicht
des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur - selbstverständlich -
unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern
gebietet dem Staat auch, sich nach diesem Schutzzweck zu richten. Die
Schutzverpflichtung des Staates muß umso ernster genommen werden, je
höher der Rang des infrage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung
des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche Leben stellt, wie nicht
näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen
Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der
Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte".
- Umfang der
Schutzpflicht
Aufgrund dieser
staatlicher Schutzpflicht kann sich ergeben, daß der Staat Risikobereiche
absichern muß oder Verbote aussprechen muß. Sie bestehen
insbesondere dann, wenn die drohende Grundrechtsverletzung irreparabel oder die
drohende Gefährdungslage unbeherrschbar ist.
Ein weiterer wichtiger Markstein der Rechtsprechung sind
die Entscheidungen zur Frage der Genehmigung von Atomkraftwerken (BVerfGE 49,
89, 142). Hier wies das BVerfG darauf hin, daß grundrechtliche
Verbürgungen nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen
die öffentliche Gewalt enthielten, sondern zugleich objektiv-rechtliche
Wertentscheidungen der Verfassung darstellten. Mit Hinweis auf den Schutzauftrag
des Art.§1 Abs.1 S.2 GG führt es weiter aus: "Daraus können sich
verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche
Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von
Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt. Ob, wann und mit welchem Inhalt
sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von
der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und
dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgut sowie von den schon
vorhandenen Regelungen ab".
- Prüfungsumfang des
BVerfG
Beim Umfang der Schutzpflicht
geht um die Abgrenzung der Entscheidungssphären von Gesetzgeber und
Verwaltung auf der einen Seite und Verfassungsgericht auf der anderen Seite.
Grds. steht dem Gesetzgeber jedoch ein weiter Beurteilungsspielraum hinsichtlich
der Frage zu, auf welche Weise er der Gefahr von Grundrechtsverletzungen
begegnet. Möglich ist z.B. die Einrichtung eines Genehmigungsverfahrens,
das durch materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Anforderungen bereits im
Vorfeld einer Gefährdung dieser entgegenwirken kann (z.B. im Atomrecht).
Das BVerfG überprüft nur eingeschränkt
- ob die staatlichen
Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind
(BVerfGE 77, 170, 215 - Fluglärm) und
- ob der Gesetzgeber das
„Untermaßverbot" verletzt hat (BVerfGE 88, 203, 254), welches ein
Mindestmaß an Schutz durch den Staat
bezeichnet.
4. Objektive Wertordnung
Neben diesen subjektiven Rechten der Bürger, welche
sich aus den Grundrechtspositionen ergeben wirken die Grundrechte auch
objektiv-rechlich. Dies wurde vom BVerfG in der „Lüth-Entscheidung
(BVerfGE 7, 198, 205) ausdrücklich postuliert. „Zunächst sind
Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Dann sind sie Teil
– wesentlicher Teil – der objektiven Wertordnung, welche das GG nach
dem Verständnis des BVerfG errichtet hat.“ Dies heißt,
daß der Staat verpflichtet ist, die Grundrechtsinhalte bei der staatlichen
Rechtsordnung immer in Betracht zu ziehen und vorrangig zu verwirklichen. Zu
dieser Art von Wirkungen gehören insb. die Institutsgarantien, die
Schutzpflichten und die Organisations- sowie Verfahrenspflichten. Konsequenzen
aus der Errichtung einer objektiven Wertordnung durch das GG.
- Aus der Bindungsvorschrift des
Art.§1 Abs. 3 GG ergibt sich, daß das Individualinteresse und die
Individualwerte, welche in den Grundrechten verankert sind, nicht hinter den
Interessen des Staates zurückzustehen haben und im Regelfall die
Grundrechte diesem Interesse ein effektives Gegengewicht sind.
- Die Grundrechtsordnung als
Werteordnung bestimmt die Auslegung aller Rechtsnormen aus der vom Grundgesetz
abgeleiteten Rechtsordnung („mittelbare Drittwirkung").
- Auch die Schranken eines
Grundrechts sind ihrerseits im Lichte der Grundrechte auszulegen, d.h. die
Wertung des Grundrechts muß auch hierbei berücksichtigt werden
(Wechselwirkungstheorie des BVerfG).
- Der Schutzbereich der
Grundrechte kann auf Rechtsinstitute verweisen, welche ohne die Rechtsordnung
überhaupt nicht existieren würden (z.B. Eigentum), d.h. die
Grundrechte wirken als Institutionsgarantien.
- Die objektiv-rechtliche
Bedeutung der Grundrechte verlangt auch, daß die staatlichen Verfahren in
einer Weise gestaltet werden, die den Grundrechtsschutz des einzelnen
gewährleistet ("Grundrechtsschutz durch
Verfahren").
IV. Methodische Aspekte
Die Verfassungsrechtsdogmatik ist v.a. Hermeneutik; sie
fragt nach der Auslegung und Anwendung von Normbegriffen in spezifischen
Sachverhalten. Zunächst sind die klassischen Auslegungsmethoden anwendbar:
grammatikalische Methode, historische Methode (genetische Methode),
systematische Methode und teleologische Methode. Die historische Methode spielt
im Verfassungsrecht jedoch allgemein nur eine untergeordnete Rolle. Daneben gibt
es aber auch noch spezielle verfassungsrechtliche
Auslegungsmethoden.
- Verfassungskonforme
Auslegung
Die Grundrechtsordnung als
Werteordnung bestimmt die Auslegung aller Rechtsnormen aus der vom Grundgesetz
abgeleiteten Rechtsordnung. Dies gilt insbesondere dann, wenn Generalklauseln
oder unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisierend verdichtet werden müssen.
Die gesamte Rechtsordnung ist im Lichte der Verfassung, und hier insbesondere -
wegen Art.§1 Abs.3 - der Grundrechte auszulegen (sog. verfassungskonforme
Auslegung). Dabei gelten folgende grundrechtliche
Auslegungsregeln:
- Bei der
Verfassungsinterpretation ist im Bereich der Grundrechte immer primär von
der Rechtsposition des Bürgers auszugehen, nicht vom
Beschränkungsinteresse des Staates (BVerfGE 85, 386, 397 –
Fangschaltung).
- Bei der
Grundrechtsinterpretation ist weiter zu berücksichtigen, daß der
effektive Schutz auch daraus hinausläuft, daß erst erfolgte Eingriffe
rechtswidrig sind, sondern bereits akute Gefährdung des
Grundrechts.
- Aus der Bindungsvorschrift des
Art.§1 Abs.3 GG ergibt sich, daß das Individualinteresse und die
Individualwerte, welche in den Grundrechten verankert sind, immer den Interessen
des Staates vorgehen.
- Grundrechtsoptimierende Auslegung (vgl. BVerfGE 51,
97)
Selbst wenn man davon ausgeht,
daß ein Sachverhalt vom Wortlaut einer verfassungsrechtlichen Regelung
erfaßt wird, diese Regelung aber nach ihrem Inhalt auf diese Fallgruppe
nicht „passe", weil der Verfassungsgeber anders gelagerte Sachverhalte im
Blick gehabt habe, kann eine Ausfüllung dieser „verdeckten
Lücke" im Wege sog "teleologischer Reduktion" nicht in Betracht kommen.
Einer solchen restriktiven Auslegung steht vielmehr der in der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts aufgestellte Grundsatz entgegen, „wonach in
Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die
juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet". Dies
gilt z.B. bei einer Hausdurchsuchung: Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein
Grundrecht, das dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschenwürde und im
Interesse seiner freien Entfaltung einen „elementaren Lebensraum"
gewährleisten soll. Jede Durchsuchung - auch die des Gerichtsvollziehers
nach §§758 ZPO - stellt schon ihrer Natur nach regelmäßig
einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte
Lebenssphäre des Betroffenen dar. Das Grundrecht aus Art.§13 GG
entfaltet daher seine stärkste Wirksamkeit, wenn grundsätzlich jede
Durchsuchung dem Richtervorbehalt unterstellt wird.
V. Internationaler Menschenrechtsschutz
Das Bekenntnis zu den internationalen Menschenrechten
findet sich bereits in Art.§1 Abs. 2 GG, obwohl dieser dort nur pauschal
erwähnt wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist - neben einer ganzen Reihe
spezieller Verträge - insbesondere an zwei wichtige allgemeine
Menschenrechtsabkommen gebunden:
- die Europäische
Menschenrechtskonvention
- die UN -
Menschenrechtskonvention
Allerdings sind
diese Abkommen in Deutschland nur nach Maßgabe des Art.§59 Abs.2 GG,
also im Range einfachen Gesetzes verbindlich. Menschenrechte als im
Völkerrecht verankerte Individualrechte können unter bestimmten
Voraussetzungen durch nationale Gerichte durchgesetzt werden. Fraglich ist dabei
immer, ob das Völkerrecht als solches (oder in einer in nationales Recht
transformierten Form als Quelle von Rechtssätzen) direkt anwendbar ist oder
es zumindest Wirkung als Auslegungsmaßstab für nationales Recht -
nach dem Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung - entfaltet (vgl.
BVerfGE 58, 1, 34). Bei der Auslegung des GG sind demnach auch Inhalt und
Entwicklungsstand der EMRK in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer
Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz
führt. Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die
Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen
Grundsätzen des Grundgesetzes. Auch Gesetze (z.B. die
Strafprozeßordnung) sind im Einklang mit den völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst
wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender
völkerrechtlicher Vertrag. Ob das Völkerrecht direkt oder als
Auslegungsmaßstab zur Anwendung kommt, darüber entscheidet wiederum
das nationale Recht. Allerdings bleibt immer zu berücksichtigen, ob sich
die Bundesrepublik nicht im völkerrechtlichen Vertrag zu einer bestimmten
Form innerstaatlicher Anwendung verpflichtet hat.
|