Überblick:
- Einteilung
- Primäres
Gemeinschaftsrecht
- Sekundäres
Gemeinschaftsrecht
- Sicherung des
Gemeinschaftsrechts (Staatshaftung)
I. Einteilung
Die Rechstquellen des Gemeinschaftsrechts lassen sich in
vier Kategorien zusammenfassen:
- Primäres
Gemeinschaftsrecht
Primäres
Gemeinschaftsrecht sind die Gründungsverträge sowie die
„allgemeinen Rechtsgrundsätze" und Gemeinschaftsgrundrechte. Das
Primärrecht ist Prüfungsmaßstab für das
Sekundärrecht.
- Sekundäres
Gemeinschaftsrecht
Sekundäres
Gemeinschaftsrecht ist solches Gemeinschaftsrecht, das aufgrund einer
Ermächtigung im primären Gemeinschaftsrecht von Organen der EU (Rat
oder Kommission) erlassen wird. Zentrale Rechtsnorm ist Art.§249 EGV: Zur
Erfüllung ihrer Aufgaben erlassen das Europäische Parlament und der
Rat gemeinsam, der Rat und die Kommission Verordnungen, Richtlinien und
Entscheidungen, sprechen Empfehlungen aus oder geben Stellungnahmen
ab.
- Akte der Gesamtheit der
Mitgliedsstaaten
Als Akte der Gesamtheit
der Mitgliedsstaaten werden Rechtshandlungen bezeichnet, die die
Mitgliedsstaaten mit Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, aber ohne
Ermächtigung durch das Primärrecht vornehmen. Dieses Handeln beruht
allein au der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der
Mitgliedsstaaten; die Akte sind z.T. auf den Binnenraum gerichtet, z.T. auch auf
das Verhältnis zu Drittstaaten. Beispiele:
- intergouvernementales
Zusammenwirken der Mitgliedsstaaten im Rat der Vereinigten Vertreter der
Regierungen der Mitgliedsstaaten (vgl. dort).
- Tätigwerden im Bereich
der zweiten und dritten Säule der EU (GASP, PJZS)
- Völkerrechtliche Abkommen
und Übereinkommen (z.B. gem. Art.§293 EGV)
- Völkerrechtliche Verträge der
Gemeinschaft
Die Gemeinschaft kann auch
als ganzes völkerrechtliche Verträge abschließen, sofern ihr
eine Verbandskompetenz (d.h. die Völkerrechtsfähigkeit) zugewiesen
ist. Eine solche Kompetenz ergibt sich insb. aus einzelnen Bestimmungen des
Primärrechts (Art.§133, 300-304, 310 EGV). Die völkerechtlichen
Veträge sind deshalb idR. Handelsabkommen. Sie sind gem Art.§300 Abs.7
EGV für die Organe und die Mitgliedstaaten verbindlich.
II. Primäres Gemeinschaftsrecht
1. Die Gründungsverträge
Wichtigste Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts sind die
Gründungsverträge der Gemeinschaft (EGV, EGKSV, EAGV) mit den
späteren Änderungen und Ergänzungen einschließlich der
Anlagen, Anhänge und Protokolle. Die Gründungsverträge binden die
Mitgliedsstaaten; ihre Bestimmungen können aber nach ständiger
Rechtsprechung des EuGH auch unmittelbare Rechte und Pflichten von Individuen
begründen, sofern sie ohne weitere Konkretisierung anwendbar sind (vgl.
ausführlicher beim Verhältnis zum nationalen Recht).
2. Allgemeinen Rechtsgrundsätze
Zum Primärrecht gehören auch die vom EuGH
entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze, die vom EuGH im Wege der
wertenden Rechtsvergleichung der Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten
ermittelt werden. Die Kompetenz des EuGH zur Entwicklung von allgemeinen
Rechtsgrundsätzen wird im allgemeinen auf Art.§220 EGV gestützt.
Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählen insb. die rechtsstaatlich
gebotenen Garantien des Verwaltungsverfahrens (rechtliches Gehör, faires
Verwaltungsverfahren, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
Vertrauensschutz, Prinzip der
Verhältnismäßigkeit).
3. Insbesondere: Gemeinschaftsgrundrechte
Da der EGV keinen eigenen Grundrechtskatalog
enthält, war für die Entstehung von Gemeinschaftsgrundrechte die
Entscheidung „Internationale Handelsgesellschaft“ (EuGH Rspr. 1970,
1125) grundlegend. In dieser Entscheidgung weist der EuGH darauf hin, daß
ohne die Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten Rechtsschutz in den
nationalen Verfassungen gesucht würde, was die Einheitlichkeit des
Gemeinschaftsrechts gefährde, dem keine nationalen Vorschriften vorgehen
können. Die Gemeinschaftsorgane haben die Zuständigkeit des EUGH zur
Grundrechtsrechtsprechung in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich
anerkannt.
Bestätigt wird die Rechtsprechung durch Art.§6
Abs.2 EUV, wonach die Union (und damit auch die Europäische Gemeinschaft
als Teil der Union) die Grundrechte achtet, wie sie in der am 4. November 1950
in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte (EMRK) und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie
sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als
allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Eine unmittelbare
Geltung der EMRK kann hieraus jedoch wohl nicht abgeleitet
werden.
Die (Rechtserkenntnis-)Quellen, auf die der EuGH seine
Grundrechtsrechtsprechung stützt, sind zum einen eine wertende
Rechtsvergleichung der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten, zum anderen
auch internationale Verträge über den Schutz der Menschenrechte (z.B.
EMRK). Hieraus hat der EuGH einen Grundrechtskatalog aufgestellt, der - bis auf
die Rundfunkfreiheit - den Grundrechten des GG entspricht.
Grundrechtsverpflichtet sind hinsichtlich der
Gemeinschaftsgrundrechte grundsätzlich nur die Organe der EU (insbesondere
beim Erlaß europarechtlicher Rechtsnormen wie Verordnungen oder
Richtlinien). Fraglich ist, ob sie auch die Mitgliedstaaten binden. Dies ist
dann der Fall, wenn die Mitgliedsstaaten „im Anwendungsbereich des
Gemeinschaftsrecht" handeln (d.h. bei mitgliedstaatlichen Regelungen, die
aufgrund einer Ermächtigung im EGV ergehen), insbesondere dann, wenn
nationale Garantien wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht mehr zur
Anwendung kommen. Dabei sind die Gemeinschaftsgrundrechte aber nur als
Mindeststandard für die Mitgliedsstaaten anzusehen.
Die konkrete Grundrechtsprüfung durch den EuGH
weist Parallelen zur deutschen Grundrechtsdogmatik auf. Gemeinschaftsgrundrechte
sind demnach unter folgenden Voraussetzungen verletzt (vgl. dazu auch
Entscheidungen des EuGH in der Rs. Hauer, Rspr. 1979, 3727, und in der Rs.
Hoechst, Rspr. 1989, 2859):
- Schutzbereich (entspricht im wesentlichen dem des
jeweiligen Grundrechts des GG)
- Eingriff
- Rechtfertigung
a) Vorliegen
eines dem Allgemeinwohl dienenden Ziels der Gemeinschaft (entspricht dem
"verfassungslegitimen Zweck" in der Grundrechtsprüfung nach dem
GG)
b) Keine Antastung des Wesensgehalts des
Grundrechts
c) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im
Hinblick auf dieses Ziel.
III. Sekundäres Gemeinschaftsrecht
1. Verordnung
Verordnungen sind gem. Art.§249 Abs.2 EGV
Rechtsnormen, die allgemein und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten.
Allgemeine Geltung bedeutet, daß die Verordnung eine unbestimmte Vielzahl
von Sachverhalten generell und abstrakt regelt. Unmittelbare Geltung bedeutet,
daß die Verordnung ohne weiteren mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt Rechte
und Pflichten der Mitgliedstaaten und ihrer Staatsbürger begründet.
Die Verordnungen sind daher von den Behörden und Gerichten der
Mitgliedstaaten ohne weiteres zu berücksichtigen und anzuwenden;
entgegenstehendes nationales Recht ist außer Anwendung zu lassen.
Mitgliedstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften sind nur insoweit
zulässig, als sie in der Verordnung selbst vorgesehen oder sonst zu ihrer
wirksamen Durchführung erforderlich sind.
2. Richtlinie (RL)
- Rechtsnatur
RL
sind nach Art.§249 Abs.3 EGV Rechtsnormen, die für jeden Mitgliedstaat
aber nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind. Den
Mitgliedstaaten wird dabei für die Art der Umsetzung (Form und Mittel) ein
Gestaltungsspielraum eingeräumt. RL werden deshalb v.a. in solchen
Sachbereichen vorgesehen, in denen es nicht um Vereinheitlichung, sondern um
Angleichung geht.
- Umsetzungspflicht
RL
sind also grundsätzlich nur für die Mitgliedstaaten, nicht für
deren Bürger verbindlich. Sie sind deshalb von den Mitgliedstaaten gem.
Art.§10 Abs.1 S.1 iVm. 249 Abs.3 EGV fristgerecht und vollständig
umzusetzen (idR. durch ein Gesetzgebungsverfahrens). Bei der Umsetzung von RL
müssen die Mitgliedstaaten wegen Art.§10 EGV stets diejenige
Umsetzungsform wählen, die für die Gewährleistung der praktischen
Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts („effet-utile") am besten geeignet
ist. Dabei sind folgende Anforderungen an die Umsetzung zu
stellen:
- Das Gebot der Publizität
muß erfüllt sein, d.h. dem Einzelnen muß klare Kenntnis seiner
Rechte und der gerichtliche Durchsetzung ermöglicht werden..
- Die Betroffenen müssen
sich vor Gericht auf die nationale Regelung berufen können, d.h. die
nationale Regelung muß eine zwingende Norm Vorschrift sein. Der
Erlaß bloßer Verwaltungsvorschriften reicht demnach nicht
aus.
- Ebenso ist die bloße
Übereinstimmung der innerstaatlichen Praxis mit dem durch die Richtlinie
geforderten Zustand nicht ausreichend, d.h. die Existenz einer gefestigten
Rechtsprechung der nationalen Gerichte reicht grundsätzlich
nicht.
- Nichtumsetzung von
RL
Bei fehlender oder nicht
ordnungsgemäßer Umsetzung leitet die Kommission gegen den
Mitgliedsstaat regelmäßig ein Vertragsverletzungsverfahren nach
Art.§226 EGV ein (das mit einem Zwangsgeld gem. Art.§228 EGV verbunden
ist). Da dieses aber als Sanktionsmöglichkeit nicht wirksam ist und zudem
dem Grundsatz des effet-utile zuwiderlaufen würde, sind vom EuGH weitere
Sanktionen vorgesehen:
- Vertikale Wirkung von RL
(s.u.)
- mittelbare Drittwirkung von RL
(s.u.)
- Schadensersatzhaftung des
betroffenen Staates (s.u.)
- Vertikale Wirkung von
RL
Die sich aus eine RL ergebende
Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen,
sowie die Pflicht der Mitgliedsstaaten gem. Art.§10 EGV, alle zur
Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder
besonderer Art zu treffen, obliegen nach der Rechtsprechung des EuGH allen
Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaen, und zwar im Rahmen
ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, daß das
nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses im Lichte des
Wortlauts und des Zweckes der RL auszulegen hat, um das in Art.§249 EGV
genannte Ziel zu erreichen. Zu den Trägern der öffentlichen Gewalt
idS. zählen nicht nur Gerichte, sondern auch andere staatliche
Einrichtungen (extensive Auslegung des Begriffs Staates), wie
z.B.
- staatliche Steuer- und
Finanzbehörden
- staatliche Krankenhäuser
und sonstige staatliche Gesundheitsbehörden
- Polizeibehörden und
ähnliche Handlungsträger
- alle Träger der
öffentlichen Verwaltung einschließlich der Gemeinden und sonstigen
Gebietskörperschaften
- Energieversorgungsunternehmen
und ähnliche Einrichtungen, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft
staatlichen Hoheitsaktes oder unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im
öffentlichen Interesse erbringen und dazu mit besonderen Rechten
ausgestattet sind.
Nicht möglich
ist dagegen die Berufung auf eine RL im „horizontalen“ Bereich, d.h.
im Verhältnis Bürger zu Bürger; eine solche horizontale Wirkung
von RL wird vom EuGH in st. RSpr. abgelehnt.
- mittelbare Drittwirkung von
RL
Nach st. RSpr. des EuGH hat eine RL
unmittelbare Wirkung (nicht unmittelbare Geltung) in den Mitgliedsstaaten unter
den folgenden Vorraussetzungen:
- Die zur Zielerreichung in der
RL gestellte Frist muß abgelaufen sein.
- Die RL muß so
hinreichend formuliert sein, daß daraus unmittelbar (ohne
Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber) Recht abgeleitet werden
können (sog. „Self-executing“-Charakter der RL)
- Die RL muß den einzelnen
Bürger begünstigen, d.h. eine Anwendung zu Lasten der Betroffenen ist
nicht möglich.
Folge der
mittelbaren Drittwirkung ist, daß sich der einzelnen gegenüber
mitgliedsstaatlichen Behörden und Gerichten auf die RL berufen kann; sie
ist von Amts wegen zu berücksichtigen.
- Rechtfertigungsgründe für die Nichtumsetzung
von RL?
Fraglich ist, ob es Gründe
für einen Mitgliedsstaat gibt, mit der die Nichtumsetzung einer RL
gerechtfertigt werden kann. Allgemein kämen folgende drei
Rechtfertigungsmöglichkeiten in Betracht:
- Allgemeine Umsetzungsprobleme:
Erweist sich die Frist als zu kurz, so besteht für dem betreffenden
Mitgliedsstaat nur die Möglichkeit, die geeigneten Schritte auf
Gemeinschaftsebene zu unternehmen, um die zuständigen Gemeinschaftsorgane
zu der notwendigen Verlängerung der Frist zu bewegen. Dies gilt ebenso,
wenn sich die RL als nicht durchführbar erweist, weil z.B. die Grenzwerte
nicht einzuhalten sind (vgl. Trinkwasserrichlinie,
Vogelschutzrichtlinie).
- Spezielle Umsetzungsprobleme:
Die Mitgliedsstaaten können sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder
Umstände des innerstaatlichen Rechts (z.B. Neuwahlen, Zustimmung durch
Bundesrat, Umsetzung durch Bundesländer) berufen, um damit die
Nichtbeachtung von Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen. Dies entspricht
auch einen allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz.
- Tu-quoque-Einwand: Die
Berufung darauf, daß auch andere Mitgliedsstaaten die RL nicht rechtzeitig
umgesetzt haben, ist nicht zulässig. Der EGV hat nämlich nicht nur
wechselseitige Beziehungen zwischen den verschiedenen Rechtssubjekten
geschaffen, sondern eine neue objektive Rechtsordnung aufgestellt, nach der sich
die Rechte und Pflichten sowie die Verfahren der Rechtssubjekte bestimmen. Es
besteht deshalb keine Reziprozität, die Voraussetzung eines
Tu-quoque-Einwands wäre.
3. Entscheidung
Gem. Art.§249 Abs.4 EGV ist die Entscheidung in
allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet
(Mitgliedstaaten oder natürliche oder juristische Personen). Sie wird gem.
Art.§ 254 Abs.3 EGV mit der Bekanntgabe gegenüber dem Adressaten
wirksam und ist ein vollstreckbarer Titel (Art.§156§ Abs.1 EGV). Da
die Entscheidung auch an mehrere (nicht unbedingt namentlich benannte) Personen
ergehen kann, kann die Abgrenzung zur Verordnung schwierig sein. Der Bezeichnung
kommt hier lediglich Indizwirkung zu. Entscheidend ist vielmehr, ob der
Adressatenkreis im Zeitpunkt der Maßnahme bereits feststeht (dann
Entscheidung) oder ob die Betroffenen z.B. nur wegen ihrer
gattungsmäßigen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
erfaßt werden (z.B. „Bananenimporteure"), eine spätere
Erweiterung des betroffenen Personenkreises aber möglich ist. Dies ist
insbesondere deswegen relevant, weil gem. Art.§230 Abs.4 EGV einzelne
Bürger nicht gegen Verordnungen, sondern nur gegen Entscheidungen im Wege
der Nichtigkeitsklage vorgehen können.
4. Empfehlungen und Stellungnahmen
Gem. Art.§249 Abs.5 EGV sind Empfehlungen und
Stellungnahmen nicht verbindlich. Ziel und Zweck von Empfehlungen und
Stellungnahmen ist es, den Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahezulegen, ohne
sie binden zu können. Nationale Gerichte haben Empfehlungen und
Stellungnahmen deswegen bei der Auslegung von nationalen Rechtsvorschriften zu
berücksichtigen. In einige Fällen haben sie aber auch rechtliche
Erheblichkeit, weil sie Prozeßvoraussetzung (Art.§226 EGV) oder
Voraussetzung für ein Organhandeln (Art.§97 EGV)
sind.
In der Praxis werden auch häufig Erklärungen
zu Protokoll abgegeben. Diese entfalten jedoch keinerlei Rechtswirkungen (auch
wenn sie von der Kommission sind) und können deshalb höchstens zur
Auslegung herangezogen werden.
IV. Sicherung des Gemeinschaftsrechts (Staatshaftung)
Rechtsprechung: EuGH Rspr. 1991 I, 5357
(Francovich), EuGH RSpr. 1996 I, 1029 (Brasserie du Pêcheur), BGH NJW
1997, 123 (Schadensersatz), EuGH EuZW 1993, 226 (Vorlage des
BGH)
1. Begründung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs
Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch wird
vom EuGH v.a. allem aus dem Gedanken des „effet-utile" hergeleitet. Nach
Ansicht des EuGH wäre die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen
Bestimmungen zum Schutz des Betroffenen beeinträchtigt, wenn der einzelne
nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung
zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedsstaat zuzurechnen ist.
Dazu tritt der Gedanke, daß der Staatshaftungsanspruch eine notwendige
Ergänzung des Individualrechtschutzes darstellt: Wenn der einzelne z.B.
schon keine Möglichkeit hat, die Umsetzung einer Richtlinie durch
„seinen" Mitgliedstaat zu erzwingen, so soll ihm aus der fehlenden oder
fehlerhaften Umsetzung wenigstens kein Schaden erwachsen, zumal drohende
Schadensersatzverpflichtungen einen zusätzlichen Anreiz zur Umsetzung durch
den Mitgliedstaat begründen. Ferner verpflichtet Art.§10 Abs.1 EGV die
Mitgliedsstaaten, die rechtswidrigen Folgen des Verstoßes gegen das
Gemeinschaftsrecht zu beheben. Nach alledem ist es ein Grundsatz des
Gemeinschaftsrechts, daß die Mitgliedsstaaten zum Ersatz der Schäden
verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das
Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen
sind.
Der Staatshaftungsanspruch ist zwar zuerst nur für
den Fall der Nichtumsetzung von RL (Francovich) entwickelt worden, kommt aber
auch bei anderen Verstößen zum Tragen, insb. bei Verletzung von
Primärrecht (Brasserie du Pêcheur).
2. Voraussetzungen des Staatshaftungsanspruches
Die Voraussetzungen, unter denen die Staatshaftung einen
Entschädigungsanspruch eröffnet, hängen von der Art des
Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ab, der dem verursachten Schaden
zugrunde liegt.
- Verletzung einer individualschützenden
Gemeinschaftsnorm
Die verletzte
Gemeinschaftsnorm muß bezwecken, den einzelnen Rechte zu verleihen, die
hinreichend bestimmt sind. Dabei ist zwischen den verschiedenen möglichen
Gemeinschaftsrechtsverstößen zu differenzieren:
- Bei administrativem Unrecht
ist erforderlich, daß die Gemeinschaftsrechtsnorm dem einzelnen ein
subjektives Recht einräumt, das hinreichend konkret ist.
- Bei der fehlenden oder
fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie muß die verletzte Norm ebenfalls
im Interesse des Einzelnen bestehen und diesem ein hinreichend bestimmtes Recht
gewähren.
- Hinreichend qualifizierter
Gemeinschaftsrechtsverstoß
Dies
ist dann der Fall, wenn der Migliedstaat offenkundig und erheblich gegen
Gemeinschaftsrecht verstoßen hat. Dabei ist nicht erforderlich, daß
der Gemeinschaftsrechtsverstoß in einem Vertragsverletzungsverfahren nach
Art.§226§EGV festgestellt wurde. Auch hier ist zwischen den
möglichen Verstößen zu unterscheiden:
- Die nicht fristgerechte
Umsetzung von Richtlinien ist immer ein hinreichend qualifizierter
Verstoß, da die Umsetzungspflicht für die Mitgliedstaaten
offensichtlich ist und die völlig unterlassene Umsetzung bis Fristende
stets ein erheblicher Verstoß ist; ein Verschulden des Mitgliedsstaates
ist insoweit nicht erforderlich.
- Bei einer fristgerechten, aber
fehlerhaften Richtlinienumsetzung ist dagegen der hinreichend qualifzierte
Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht indiziert, d.h. hier ist im Einzelfall zu
prüfen, ob der Verstoß offenkundig und erheblich war.
- Bei legislativen
Verstößen gegen Primärrecht (legislatives Unrecht) ist zu
berücksichtigen, daß der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum hat.
Deshalb muß der Verstoß für den Gesetzgeber „offenkundig
und erheblich“ sein.
- Dasselbe gilt bei
administrativem Unrecht. Dies ist insbesondere beim erkennbaren Verstoß
gegen Verordnungen der Fall, während bei der Frage des Verstoßes
gegen unmittelbar anwendbare Bestimmungen des EGV eher Zurückhaltung
gegenüber der Annahme eines offensichtlichen Verstoßes geboten
ist.
- Kausalität zwischen Gemeinschaftsrechtsverletzung
und Schaden
Die Kausalität ist
gegeben, wenn der Schaden nicht eingetreten wäre, wenn der
Gemeinschaftsrechtsverstoß nicht stattgefunden hätte. Dabei ist
insbesondere bei der fehlenden oder fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien zu
beachten, daß eine Kausalität der Verletzung für den Schaden nur
insoweit in Betracht kommt, als die Richtlinie konkrete Rechte zugunsten des
Betroffenen begründet. Man kann also nicht generell aus der späteren
Umsetzung der Richtlinie auf den Schaden des Betroffenen schließen, da die
Umsetzung im Einzelfall auch auf das von der Richtlinie geforderte Maß
hinausgehen kann. Dennoch ist ein Schadensersatz grundsätzlich auch in der
Form möglich, daß die verspätet ergangene umsetzende
mitgliedstaatliche Norm rückwirkend auf frühere Sachverhalte
angewendet wird, sofern die spätere Umsetzung inhaltlich den Anforderungen
der Richtlinie genügt und den Betroffenen durch die Verzögerung keine
zusätzlichen Schäden entstanden sind.
3. Durchsetzung im nationalen Recht
Die Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen
Staatshaftungsanspruches richtet sich in Ermangelung europarechtlicher
Vorschriften nach dem nationalen Recht. Dieses muß aber
gemeinschaftsrechtskonform angewendet werden, d.h. der gemeinschaftsrechtlich
begründete Staatshaftungsanspruch darf nicht in seiner Durchsetzung
behindert werden (Effizienzgebot) und es darf keine unterschiedliche Behandlung
gegenüber vergleichbaren rein nationalen Ansprüchen bestehen
(Diskriminierungsverbot).
Der Anspruch wird also nach deutschem Recht durch
§§839§BGB iVm. Art.§34§GG in
gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung realisiert, wobei einzelne Merkmale
gegenüber der nationalen Rechtslage modifiziert werden, um den
gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Diese Modifikationen
sind:
- Das Erfordernis der „Drittbezogenheit" der
Amtspflicht ist in einer Weise auszulegen, daß die verletzte Amtspflicht
zur gemeinschaftsrechtlich geforderten gesetzgeberischen Tätigkeit dann
drittbezogen ist, wenn die entsprechende Gemeinschaftsrechtsnorm dem Einzelnen
individuelle Rechte verleihen wollte.
- Das Verschuldenserfordernis ist so auszulegen, daß
es keine weiteren Vorausetzungen aufstellt als den hinreichend qualifizierten
Gemeinschaftsrechtsverstoß (Effizienzgebot).
- Der Vorrang des Primärrechtsschutzes
(§§839§ Abs.3 BGB) gilt grundsätzlich uneingeschränkt,
da er europarechtlich anerkannt ist; allerdings ist zu beachten, daß im
Bereich des legislativen Unterlassens häufig kein Primärrechtsschutz
gegeben ist. Soweit aber unmittelbar anwendbares (und damit vor den Gerichten
einklagbares) Gemeinschaftsrecht verletzt wurde, ist §§839 Abs.3 BGB
anwendbar.
- Die Grundsätze des Mitverschuldens
(§§254§BGB) und der Verjährung (§§852§BGB)
sind allgemein anerkannte Grundsätze aller Mitgliedstaaten (vgl.
Art.§288 Abs.2 EGV), die auch bei der gemeinschaftsrechtskonformen
Anwendung des §§839§BGB gelten.
- Problematisch und bisher ungeklärt ist die
Anwendbarkeit der Verweisungsprivilegs (§§839 Abs.1 S.2 BGB). Nach
wohl h.M. steht das Effizienzgebot und der Sanktionsgedanke der Anwendung der
Subsidiaritätsklausel
entgegen.
4. Prüfungsreihenfolge
Der BGH verwendete in seinem Bier-Urteil folgende
Prüfungsreihenfolge für den Fall legislativen
Unrechts:
- Anspruch aus Amtshaftung (§§839§BGB iVm.
Art.§34§GG)
Nach
herkömmlichem Verständnis fehlt es zwar nicht an der
Amtspflichtverletzung des Gesetzgebers, wohl aber an der Drittbezogenheit der
Amtspflicht. à
kein Anspruch aus §§839§BGB iVm.
Art.§34§GG.
- Anspruch aus enteignungsgleichem
Eingriff:
Nach herkömmlichen
Verständnis ist das Institut des enteignungsgleichen Eingriffs schon nicht
auf legislatives Unrecht anwendbar, sondern nur auf hoheitliche Einzelakte,
allenfalls auf untergesetzliche Rechtsnormen.
à kein Anspruch
aus enteignungsgleichem Eingriff.
- Gemeinschaftsrechtlicher
Staatshaftungsanspruch:
Zu prüfen
ist §§839§BGB iVm. Art.§34§GG als
gemeinschaftsrechtlicher Anspruch in gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung,
d.h. nicht als eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern als Ausgestaltung
des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs.
|