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Verhältnis zum nationalen Recht (Lars Lehre)
Überblick:
  • Problemstellung
  • Gesetzliche Konkurrenzregeln
  • Dogmatische Begründung des Vorrangs
  • Schranken der Integrationsermächtigung
  • Ergebnis

I. Problemstellung

1. Vorrang des Gemeinschaftsrecht

Nach allg.M. ist die EG eine supranationale zwischenstaatliche Einrichtung, deren Gründungsverträge und die auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte eine eigene Rechtsordnung darstellen. Von großer Bedeutung ist deshalb das Verhältnis zwischen dieser Rechtsordnung und dem nationalem Recht, weil eine einheitliche Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts für das Funktionieren der Gemeinschaft unerläßlich ist. Ungeachtet unterschiedlicher dogmatischer Begründungen besteht über die grundsätzliche Lösung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht Einigkeit. Dem Gemeinschaftsrecht kommt Vorrang vor nationalem Recht zu. Strittig ist insoweit, aus welchem Grund das Gemeinschaftsrecht Vorrang gegenüber dem nationalem Recht haben und wie weit dieser Vorrang geht, insbesondere nationale verfassungsrechtliche Schranken (s.u.). Problematisch ist desweiteren, welche Folgen die Anwendung des Gemeinschaftsrecht für die Geltung und Anwendung des nationalen Rechts hat, insb. die Auswirkungen für den Rechtsschutz durch die Gerichte (s.u.).

2. Die sog. „Verzahnung“

Nach heute h.M. durchdringen sich Gemeinschaftsrecht und nationales Recht gegenseitig und sind deshalb voneinander abhängig (sog. „Verzahnung“). Dies zeigt sich insbesondere beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedsstaaten (vgl. dort), aber auch beim Zusammenwirken der verschiedenen Organe der Gemeinschaft mit den nationalen Organen (vgl. Vorlagepflicht nationaler Gerichte). Umgekehrt haben aber auch nationale Vorschriften Einfluß auf das Gemeinschaftsrecht, indem der EuGH z.B. Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten auch im Gemeinschaftsrecht anwendbar erklärt (vgl. dort).

II. Gesetzliche Konkurrenzregeln

Auch der EUV und der EGV beinhalten explizite Regelungen des Konkurrenzproblems, die immer bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen sind.
  1. Nach Art. 10 EGV treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten. Hieraus hat der EuGH den Grundsatz der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten mit den Gemeinschaftsorganen aufgestellt und konkrete Einzelpflichten abgeleitet (z.B. ordnungsgemäße Umsetzung von RL, Unterlassung gemeinschaftsrechtswidriger Rechtssetzung).
  2. Nach Art. 6 Abs.3 EUV achtet die Union die nationale Idendität ihrer Mitgliedsstaaten. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Europäische Gemeinschaft auf den Mitgliedsstaaten basiert.
  3. Art. 5 EUV und Art. 5 Abs.1 EGV schreiben das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung vor, d.h. die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. (vgl. dort).
  4. Nach Art. 5 Abs.2 EGV wird die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.
  5. Art. 5 Abs.3 EGV ordnet das Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinen Rechtsgrundsatz an. Die Maßnahmen der Gemeinschaft dürfen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus gehen. Dies gilt sowohl für die Gemeinschaftsorgane bei der Rechtssetzung und Verwaltung als auch für die Mitgliedsstaaten beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht.

III. Dogmatische Begründung des Vorrangs

1. Rechtsprechung des EuGH

Der EuGH vertritt einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts kraft Eigenständigkeit. Grundlegend dafür ist das Urteil im Fall Costa/ENEL (EuGH Rspr. 1964, 1251). Darin begründet der EuGH zunächst einmal die Eigenständigkeit der Gemeinschaften. Durch den EWG-Vertrag haben die Mitgliedsstaaten eine eigene verbindliche Rechtsordnung geschaffen, in dem sie Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen haben. Dies hat zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommenen Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Denn es würde eine Gefahr für die in Art. 10 Abs.2 EGV augeführten Ziele bedeuten und dem Verbot des Art. 12 EGV widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Diese These vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH in st. RSpr. wiederholt, im Simmenthal II-Urteil (EuGH Rspr. 1978, 629) auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht.

2. Rechtsprechung des BVerfG

Das BVerfG geht von einem Vorrang des Gemeinschaftsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung. In seinem Solange II-Urteil (BVerfGE 73, 339 = NJW 1987, 577) führt es u.a. folgendes aus:
„Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland derart zu öffnen, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland für ihren Hoheitsbereich zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb dieses Hoheitsbereichs Raum gelassen wird. Art. 24 Abs. 1 GG ordnet zwar nicht schon selbst die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des von der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Rechts an, noch regelt er unmittelbar das Verhältnis zwischen diesem Recht und dem innerstaatlichen Recht, etwa die Frage des Anwendungsvorrangs. Innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit sowie ein möglicher innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang völkerrechtlicher Verträge folgen nicht schon aus dem allgemeinen Völkerrecht. Das gegenwärtige Völkerrecht enthält keine aus übereinstimmender Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung entspringende allgemeine Regel dahin, daß Staaten verpflichtet wären, ihre Verträge in ihr innerstaatliches Recht zu inkorporieren und ihnen dort Geltungs- oder Anwendungsvorrang vor innerstaatlichem Recht beizumessen. Ein innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang ergibt sich allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl, und zwar auch bei Verträgen, die ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Geltungs- oder Anwendungsvorrang herbeizuführen. Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es indessen von Verfassungs wegen, Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichenAnwendungsbefehl beizulegen. Dies ist für die europäischen Gemeinschaftsverträge und das auf ihrer Grundlage von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Recht durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschehen. Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der sich auf Art. 249 Abs. 2 EGV erstreckt, ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht.“

IV. Schranken der Integrationsermächtigung

1. Schranken nach der Rechtsprechung des BVerfG

  1. Solange II-Urteil


  2. Die Ermächtigung auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG ist nach Ansicht des BVerfG aber nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen. Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben. Dies gilt namentlich für Rechtsetzungsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung, die wesentliche Strukturen des Grundgesetzes aushöhlten, insbesondere die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen. Art. 24 Abs. 1 GG gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß ein Grundrechtsschutz gewährleistet sein, der nach Inhalt und Wirksamkeit dem des Grundgesetzes im wesentlichen gleichkommt.

  3. Maastricht-Urteil


  4. Neben einem adäquaten Grundrechtsschutz verlangt das BVerfG, daß wegen des Demokratieprinzips und des in Art. 38 GG gewährleisteten Rechts, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu nehmen, der Bundestag auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft noch am Rechtssetzungsprozeß beteiligt ist und daß die durch das Zustimmungsgesetz übertragenen Kompetenzen eingehalten werden (vgl. dort).

2. Gesetzliche Regelung

Die Schranken der Integrationsermächtigung sind nun in Art. 23 Abs.1 GG geregelt. Danach wirkt zur Verwirklichung eines vereinten Europas die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundgesetz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderung oder Ergänzung ermöglicht werden soll, gilt Art. 79 Abs. 2 und 3 GG.

V. Ergebnis

1. Kollision Gemeinschaftsrecht mit Verfassungsrecht

  1. Verfahrensart


  2. Das BVerfG kann mit Gemeinschaftsrechtssachen im Wege eines Normenkontrollverfahrens (Art. 93 Abs.1 Nr.2, 100 GG), eines Organstreits (Art. 93 Abs.1 Nr.1 GG), eines Bund-Länder-Streits (Art. 93 Abs.1 Nr.3) und einer Verfassungsbeschwerde (Art. 94 Abs.1 Nr.4a GG) befaßt werden.

  3. Prüfungsgegenstand


    • Bei der Kollision von Primärrecht mit dem GG sind Prüfungsgegenstand nur Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt. Solche liegen nicht vor, wenn ein deutsches Organ an einem Akt der Gemeinschaftsorgane (z.B. Verordnung, RL) mitwirkt. Angegriffen werden könne allein die Begründungs- oder Vollzugsakte eines deutschen Organs, also nicht der EGV selbst, sondern nur das Zustimmungsgesetz dazu bzw. zu den Änderungsverträgen.
    • Sekundäres Gemeinschaftsrecht prüft das BVerfG seit dem Solange II-Urteil grundsätzlich nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des GG. Vielmehr obliege die Überprüfung sekundären Gemeinschaftsrechts in erster Linie dem EuGH (Art. 234 EGV). Nur wenn dadurch ein wirksamer Grundrechtsschutz nicht mehr gewährleistet werden könnte, könnte das BVerfG Rechtsakte der Gemeinschaft wieder kontrollieren. Solange dieser Fall nicht eintritt, sind Verfahren gegen gemeinschaftsrechtliche Sekundärnormen unzulässig.
    • Mitgliedstaatliche Umsetzungsakte (insb. Umsetzung von RL) können grds. nur dann Prüfungsgegenstand sein, soweit der Bundesrepublik bei der Umsetzung ein Ermessen eingeräumt wurde, da sie bei der Ausübung des Ermessens in vollem Umfang an das deutsche Verfassungsrecht (insb. an die Grundrechte) gebunden ist.

  4. Prüfungsmaßstab


  5. div>Prüfungsmaßstab ist gem. Art. 23 Abs.1 S.3 GG nur Art. 79 Abs.3 GG, nicht die einzelnen Grundrechte des GG. Rechtsfolge eines solchen Verstoßes gegen Art. 79 Abs.3 GG wäre die Unanwendbarkeit der jeweiligen Norm des EGV in Deutschland, da das Zustimmungsgesetz insoweit verfassungswidrig wäre und daher keinen Rechtsanwendungsbefehl erteilen kann.

  6. Grundrechtsverletzung


  7. Als gerügtes Grundrecht käme Art. 38 Abs.1 GG in Betracht, wenn durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU die unverzichtbaren Mindestanforderungen an die demokratische Legitimation der Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden (Art. 20 Abs.1 und 2 iVm. 79 Abs.3 GG). Ein solcher Verstoß dürfte aber idR. nicht gegeben sein, da die Organe der Gemeinschaft wenigstens mittelbar an die Parlamente der Mitgliedstaaten gebunden sind (vgl. dort).

2. Kollision von Gemeinschaftsrecht mit einfachem nationalem Recht

Nach Auffassungen von EuGH und BVerfG sind alle nationalen Rechtsvorschriften unanwendbar, soweit sie im Einzelfall mit unmittelbar anwendbaren Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts kollidieren. Im Falle einer Kollision gehen beide Gerichte i.E. übereinstimmend von einem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts aus, d.h. das gemeinschaftsrechtswidrige nationale Recht ist unanwendbar, soweit es dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Diesen Anwendungsvorrang haben die Gerichte und Behörden ohne weiteres zu beachten, d.h. insoweit ist alleine das Gemeinschaftsrecht Entscheidungsmaßstab.
Den Behörden und Gerichten kommt daher eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz in bezug auf gemeinschaftswidriges nationales Recht zu. Insbesondere ist ein Gericht verpflichtet, auch ein formelles Bundesgesetz nicht anzuwenden, soweit es dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Ein Verwerfungsmonopol des BVerfG nach Art. 100 Abs.1 GG besteht nämlich nur bei verfassungswidrigen, nicht bei gemeinschaftsrechtswidrigen formellen Bundesgesetzen. Auch ein Verwerfungsmonopol des EuGH nach Art. 177 EGV kommt nicht in Betracht, da dieses nur die Verwerfung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsnormen betrifft.
Diese Lehre vom Anwendungsvorrang geht weniger weit als die Lehre vom Geltungsvorrang (die in Teilen der Literatur vertreten wird). Diese nimmt in einem Kollisionsfall die Unwirksamkeit der nationalen Norm an. Der Unterschied ist, daß bei einem bloßen Anwendungsvorrang das nationale Recht wenigstens insoweit wirksam und anwendbar bleibt, als kein vom Gemeinschaftsrecht erfaßter Sachverhalt vorliegt (mit der Folge einer möglichen Inländerdiskriminierung), während es beim Geltungsvorrang insgesamt nichtig wäre.

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