In meiner Seminararbeit möchte ich untersuchen, warum und wie im
demokratischen Rechtsstaat durch die Interpretation von (Rechts-)Texten Macht
ausgeübt wird und welche Mißbrauchsmöglichkeiten der
Interpretationsmacht bestehen. Ich werde mich dabei auf (Kontinental-)Europa
beschränken und hauptsächlich vom deutschen Rechtssystem
ausgehen.
Im ersten Teil der Arbeit werde ich zeigen, welche sprachlichen und
rechtlichen Faktoren die Interpretation von Rechtstexten erforderlich machen und
weshalb dadurch Machtausübung geschieht. Zu diesem Zweck werde ich auf die
Funktionen des Rechts eingehen, das Verhältnis von Recht und Sprache
aufzeigen und auf Besonderheiten der Sprache eingehen, die die
Interpretationsmöglichkeit von Rechtstexten begünstigen. Darauf folgt
eine kurze Beschreibung, wie die Interpretationsmacht verteilt ist und durch wen
sie ausgeübt wird.
Im zweiten Teil der Arbeit geht es mir darum zu zeigen, auf welche Weise
die Machtausübung durch Interpretation geschieht. Ich werde auf die
juristischen Auslegungsmethoden von Rechtstexten und auf mögliche Grenzen
der Auslegung eingehen, typische juristische Argumentationsfiguren untersuchen
und zeigen, wie bei der Auslegung von Rechtstexten eigene Wertungen versteckt
“eingelegt” werden können.
I. Entstehung der Interpretationsmacht
1. Funktionen des Rechts
Um zu verstehen, wie durch die Interpretation von (Rechts-)Texten Macht
ausgeübt wird, ist es zunächst wichtig, einige grundlegende Funktionen
des Rechts zu kennen, zu wissen, welche Funktionen Recht in der Gesellschaft
übernimmt. Es gibt viele unterschiedliche Antworten auf die Frage nach den
Funktionen des Rechts, die sich meistens mehr in der Form als der Sache nach
unterscheiden. Ich möchte hier die Gestaltungs- und Steuerungsfunktion, die
formale und die materiale Steuerungsfunktion, die Integrationsfunktion, die
Befriedungsfunktion und die Streitentscheidungsfunktion herausgreifen.
a) Gestaltungs- und Steuerungsfunktion
Ganz allgemein ist Recht zunächst ein für jedes politische
Gemeinwesen unverzichtbares Organisations- und Herrschaftsinstrument, um das
menschliche Zusammenleben zu ordnen, zu steuern und (um-)zu
gestalten
[1]. Das gilt für totalitäre
Staaten wie für Demokratien. Soll in einer Demokratie ein Lebensbereich neu
geregelt werden, geschieht dies typischerweise durch den Erlaß von
Gesetzen durch das Parlament. Damit das Gesetz tatsächlich in Kraft treten
kann, muß es mit der nötigen Mehrheit der Stimmen verabschiedet
werden. Auf die weiteren Einzelheiten braucht hier nicht weiter eingegangen
werden. Den Ordnungsvorstellungen von Lebensverhältnissen liegen in
bestimmten wichtigen Bereichen notwendigerweise (ethische) Wertungen zu Grunde.
Deutlich wurde dies an den intensiv und oft emotional geführten Debatten um
§ 218 StGB, das Asylrecht oder in letzter Zeit um die Einführung der
“Green Card” für ausländische Arbeitnehmer in der
Informationstechnologie. Auch der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes (Art.
1-20 GG) belegt dies in eindrucksvoller Weise. Rechtsetzung und Rechtsanwendung
dienen also der Durchsetzung und Verwirklichung von Werten, solange es sich
nicht um rein formale Ordnungsvorschriften (z.B. Rechtsfahrgebot) oder
technische Normen handelt. Auf diese Weise steuert das Recht in einem
erheblichen Umfang den Ablauf von bedeutsamen staatlichen und gesellschaftlichen
Vorgängen und Entwicklungen
[2]. Rechtliche
Entscheidungen, die zum größten Teil auf der Interpretation von
Rechtstexten, v.a. Gesetzen beruhen, haben also mitunter enorme Auswirkungen.
b) formale Steuerungsfunktion
Eine speziellere Funktion des Rechts ist seine formale Ordnungsfunktion.
Recht als verbindliche Regelung (unabhängig von seinem Inhalt) verhindert
das Chaos. Ein gutes Beispiel dafür bietet der Straßenverkehr. Sobald
es Fahrzeuge gibt, muß es Verkehrsvorschriften geben, etwa eine Regelung,
ob rechts oder links gefahren werden soll
[3]. Wie
die Entscheidung ausfällt, ist anfangs unwichtig, da beide Alternativen
gleich gut sind. Wichtig ist nur, daß überhaupt entschieden wird, da
sonst ständige Gefahr und viele Unfälle im Straßenverkehr die
Folge wären. Auch “ungerechte” gesetzliche Regelungen oder
Gerichtsentscheidungen können durch ihre formale Ordnungswirkung einen
Beitrag zur Rechtssicherheit darstellen, da man sich immerhin in Zukunft darauf
einrichten kann. Diese formale Ordnungsfunkion ist auch ein Grund für die
große Aufmerksamkeit, die auf Grundsatzentscheidungen oberster Gerichte
gelegt wird.
c) materiale Steuerungsfunktion
Neben der formalen hat das Recht auch eine materiale Steuerungsfunkion. Die
jeweilige Staats- und Gesellschaftsordnung soll durch das Recht stabilisiert und
bewahrt werden
[4]. Die jeweiligen Normsetzer
versuchen, ihre Wertvorstellungen möglichst dauerhaft im Recht zu verankern
und durchzusetzen. Ein interessantes Beispiel aus dem Verfassungrecht
verdeutlicht dies: mit Art. 79 Abs. 3 GG als Reaktion auf den
Nationalsozialismus und die Schwächen der Weimarer Reichsverfassung wurde
erstmals versucht, einige elementare Verfassungsgrundsätze wie die
Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder bei der
Gesetzgebung sowie die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze
jeglicher Änderung zu entziehen.
d) Integrationsfunktion
Das Recht macht die Einbindung des Einzelnen in den Staat und die vielen
Organisationen des öffentlichen und privaten Rechts
möglich
[5]. Durch das Recht können
weitgehend einheitliche Lebensbedingungen für eine Vielzahl von Individuen
geschaffen werden, die die Grundlage für die Entfaltung des Einzelnen sind.
Das zeigte sich bei der Gründung des Kaiserreichs 1871, die zur Schaffung
eines einheitlichen Reichsrechts durch große Kodifikationen wie
Verfassung, StGB, BGB, HGB, GewO, ZPO und StPO
führte
[6]. In jüngster Zeit bieten die
Wiedervereinigung Deutschlands und die fortschreitende Integration der
europäischen Staaten Beispiele dafür. Darüber hinaus
ermöglicht das Recht die Integration unterschiedlicher, durchaus
divergierender Wert- und Zielvorstellungen des Einzelnen oder gesellschaftlicher
Gruppierungen in den demokratischen Rechtsstaat, wie das in Art. 5 GG
geschützte Grundrecht auf Meinungsfreiheit und die dazu ergangenen
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
[7]
belegen.
e) Befriedungsfunktion
In jeder menschlichen Gemeinschaft treten Konflikte auf, die nicht
vermeidbar sind. Durch das Recht wird eine geregelte, gewaltfreie Lösung
dieser Konflikte ermöglicht. Dies geschieht dadurch, daß der Staat
nicht nur die Gewaltausübung bei sich konzentriert (Gewaltmonopol), indem
er Selbsthilfe des Bürgers grundsätzlich verbietet und nur in
Ausnahmefällen zuläßt, sondern auch eine Rechtsordnung schafft,
welche sowohl die Ausübung der staatlichen Gewalt selbst eingrenzt als auch
die Beziehungen der Bürger untereinander und zum Staat
regelt
[8]. Ausdruck findet dieses Prinzip
besonders in Art. 19 IV GG und in den Justizgrundrechten. Die Alternative
wäre das Faustrecht.
f) Streitentscheidungsfunktion
Die Streitentscheidungsfunktion des Rechts hängt mit der
Befriedungsfunktion und auch der Steuerungsfunktion eng zusammen. Konflikte
zwischen Staat und Bürger oder zwischen Bürgern untereinander werden
in unserer Rechtsordnung durch rechtsförmig geregelte Verfahren ausgetragen
wie etwa Zivilprozeß, Strafverfahren oder Verwaltungsgerichtsverfahren.
Die meisten Menschen werden wohl auch bei dem Begriff “Recht” zuerst
an gerichtliche Verfahren denken. Durch die verbindliche Entscheidung von
Streitfällen durch Gerichte sorgt das Rechtssystem dafür, daß
über den Inhalt der Rechtsordnung eine verbindliche und für die
Parteien endgültige Entscheidung zustande
kommt
[9]. Bei Grundsatzentscheidungen oberster
Gerichte gehen die Wirkungen sogar weit über die Parteien des konkreten
Falles hinaus. Wegen der erwarteten Kontinuität der Rechtsprechung oberster
Gerichte in Grundsatzfragen gehen alle daran interessierten Teilnehmer des
Rechtsverkehrs, auch die Instanzgerichte, die Anwälte, Behörden etc.
davon aus, daß vergleichbare Fälle von demselben Gericht auf der
Linie der getroffenen Grundsatzentscheidung beurteilt
werden
[10]. So haben die tragenden
Leitsätze solcher Entscheidungen in der Praxis eine gesetzesähnliche
Wirkung
[11], der Zusammenhang von
Entscheidungs- und Steuerungsfunktion ist offensichtlich. Hier zeigt sich die
Macht der Interpreten von Gesetzestexten wohl am deutlichsten.
2. Recht und Sprache
Recht ordnet das menschliche Zusammenleben durch Rechtsnormen, die für
den jeweiligen Normadressaten verbindlich sind. Die Normen können
generell-abstrakt sein, d.h. allgemeinverbindlich und für jedermann gelten
(Gesetze wie etwa das Strafgesetzbuch). Sie können sich aber auch an
bestimmte Personengruppen richten (wie z.B. die BRAO) oder individuell-konkreten
Charakter haben wie etwa Verwaltungsakte. Allen Rechtsnormen gemeinsam ist die
Tatsache, daß sie nur in der Sprache existent sind. Das bedeutet nicht
notwendigerweise, daß die Rechtsnormen als Gesetzestext schriftlich
fixiert sein müssen. So gibt es in allen Rechtsgebieten Bereiche ohne
geschriebenen Regeln. Zu nennen wären hier z.B. der wichtige Bereich der
Ansprüche aus positiver Forderungsverletzung im
Zivilrecht
[12] oder der allgemeine
öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch im öffentlichen
Recht
[13]. Oft existieren hier
gewohnheitsrechtlich anerkannte Regeln. Aber auch über Gewohnheitsrecht ist
eine Verständigung nur durch Sprache möglich, da über seinen
Bestand und seinen Inhalt im demokratischen Rechtsstaat die letzten
Gerichtsinstanzen im Urteil entscheiden
[14]. Im
kontinentaleuropäischen Rechtskreis, gerade in Deutschland, ist allerdings
die schriftliche Fixierung von Rechtssätzen in Gesetzen, Rechtsverordnungen
oder Satzungen die Regel
[15]. Dadurch werden
rechtliche Begründungen nachprüfbar, allerdings nehmen auch
Auslegungsfragen breiteren Raum ein.
Zur Festlegung des Rechts auf Rechtstexte in unserer Rechtsordnung haben
verschiedene Faktoren beigetragen. Hier möchte ich zwei erwähnen, die
bis heute starke Auswirkungen auf unser Rechtssystem haben: die
Begriffsjurisprudenz und der Gesetzespositivismus.
Begründer der Begriffsjurisprudenz war Georg Friedrich Puchta
(1798-1846). Aufbauend auf den bedeutendsten Vertreter der historischen
Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, sah er Volksgeist (Gewohnheitsrecht),
Gesetzgebung und Wissenschaft als Rechtsquellen. Nach Puchtas Auffassung ist
aber zur Rechtserzeugung nur der wissenschaftlich geschulte Jurist als
“Organ des Volkes” berufen
[16].
Grund dafür war seine Vorstellung von der Leistungsfähigkeit
juristischer Begriffe. Seiner Vorstellung nach seien die juristischen Begriffe
in einer nach den Gesetzen der Logik aufgebauten Pyramide geordnet, die als
juristische Naturgesetze von Ort und Zeit unabhängig gälten. Die
Begriffspyramide sollte die Fähigkeit haben, Recht zu erzeugen. Dem
geschulten Juristen sei es nun möglich, aus dieser Begriffspyramide im Wege
der Deduktion einzelne subjektive Rechte und einzelne Rechtssätze streng
logisch abzuleiten
[17]. Die
Begriffsjurisprudenz wurde zwar relativ schnell von den Vertretern der
Interessenjurisprudenz widerlegt. In ihr liegen aber die Wurzeln des
ausgeprägten begrifflichen Formalismus des Zivilrechts und der gesamten
Rechtswissenschaft.
Der zweite Faktor, der die Festlegung des Rechts auf Texte förderte,
war der Gesetzespositivismus. Ursprünglich stammte die Idee des
Positivismus aus den Naturwissenschaften, um diese auf das empirisch
Feststellbare und Beschreibbare zu beschränken. Dieser Gedanke wurde auf
die Rechtswissenschaft übertragen und folgende Thesen aufgestellt:
1. Recht sind nur die vom Staat gesetzten (“positiven”)
Rechtssätze. Der normsetzende Wille des Staates ist die einzige
Rechtsquelle.
2. Jedes verfassungsgemäß erlassene Gesetz (im materiellen
Sinne) ist bindendes Recht. Es ist einer weiteren Begründung weder
fähig noch bedürftig.
3. Der Gesetzgeber ist beim Erlaß von Gesetzen nicht an materiale
Rechtsgrundsätze oder moralische Grundwerte oder ethische Prinzipien
gebunden. Eine Inhaltskontrolle staatlicher Gesetze auf materiale Gerechtigkeit
scheidet aus
[18].
Auch heute noch ist der Gesetzespostivismus im Grundsatz in der
Rechtstheorie absolut vorherrschend, obwohl vor allem nach dem
Nationalsozialismus Zweifel auftauchten.
3. Recht als Wertverwirklichung
Aus der Sicht des Normgebers sind Rechtsnormen, indem sie Handlungen
vorschreiben, ein Mittel, um bei einem gegebene Ausgangszustand ein bestimmtes
rechtspolitisches Ziel (=Zweck)
durchzusetzen
[19]. Welche Zwecke dabei
ausgewählt und verwirklicht werden sollen, richtet sich nach der der
Rechtsordnung zu Grunde liegenden Wertordnung. Indem die Rechtsnormen bestimmte
Verhaltensweisen an dem ihnen zu Grunde liegenden Maßstab messen und
Verhaltensanordnungen treffen, wird durch sie die gegebene Situation bewertet.
Man nennt solche Aussagen Werturteile
[20]. Im
Gegensatz zu Tatsachen, die objektiv nachprüfbar sind, kann bei
Werturteilen nicht von “wahr” oder “falsch” gesprochen
werden. Ein Beispiel: Ob A mit seinem Auto zum Zeitpunkt X in der Ortschaft Z
verkehrswidrig über 70 statt der gebotenen 50 km/h fuhr, das
läßt sich mit anerkannten Meßmethoden so zuverlässig
feststellen, daß A selbst es zugeben muß. Ob er aber unter konkreten
Umständen eine so “schwere Verkehrsgefährdung”
(Werturteil) beging, daß nur ein zeitweiliger Führerscheinentzug die
angemessene Sanktion sein kann, das ist eine Wertungsfrage, die nicht nach den
Kriterien “wahr” oder “falsch” entschieden werden
kann
[21]. Ebenso macht es auch keinen Sinn zu
fragen, ob etwa § 823 BGB, § 223 StGB oder Art.1 GG wahr oder falsch
ist. § 823 erscheint als “zweckmäßig” im System des
deutschen Deliktsrechts. Rechtssätze können immer nur angemessen,
förderlich, notwendig im Sinne der angestrebten Zwecke, also der zugrunde
gelegten Wertordnung sein
[22]. Dies ist ein
wichtiger Ausgangspunkt für die weiteren Untersuchungen. Denn es wird
deutlich, daß das von Juristen vertretene und angewendete Recht kein Hort
objektiver Wahrheit ist, sondern lediglich ein Ausdruck relativer, historisch
entwickelter und begründeter Zweckmäßigkeit, Angemessenheit und
- im besten Fall -
“Gerechtigkeit”
[23]. Das sich
darüber trefflich streiten läßt, ist klar. Dies gilt es im Auge
zu behalten.
4. Die Gründe für die Interpretationsmacht
Welche weiteren Faktoren lassen die Macht der Gesetzesinterpreten
entstehen? Ein Umstand, der die Macht der Gesetzesinterpreten mitbegründet,
wurde gerade angesprochen: Rechtssätze sind Werturteile, und über
Werturteile lassen sich keine wahr-falsch-Aussagen treffen, sie lassen sich nur
mehr oder weniger überzeugend begründen. Der Hauptgrund für die
Macht der Interpreten liegt allerdings zum großen Teil in der Sprache
selbst, zum kleineren Teil auch in unserer Rechtsordnung.
a) sprachliche Faktoren
Vollständige Rechtssätze bestehen aus Tatbestand und Rechtsfolge.
Um eine Rechtsfolge aussprechen zu können, muß der Interpret der Norm
entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, d.h. ob der
Tatbestand erfüllt ist. Tatbestand wie Rechtsfolge bestehen aus Sprache,
z.T. handelt es sich um Umgangssprache, z.T. kommen fachsprachliche Begriffe
hinzu. Die juristische Arbeit dreht sich zum großen Teil darum, die
Bedeutung der Wörter im konkreten Fall zu klären. Hier enstehen nun
alle juristischen “Auslegungsfragen”, die ganze Bibliotheken
füllen: denn Wörter sind oft mehrdeutig, unbestimmt und
Wortbedeutungen können sich im Laufe der Zeit ändern. Eine juristische
Besonderheit ist die vom Gesetzgeber gewollte Offenheit von Gesetzesbegriffen.
Auf diese Faktoren wird nun näher eingegangen.
aa) Die Mehrdeutigkeit von Wörtern
Viele Wörter können je nach Absicht des Verwenders und Situation
unterschiedliche Bedeutungen haben, sie sind mehrdeutig. Einige sehr plastische
Beispiele
[24]:
1. Bad
a) gefüllte Badewanne (Er nimmt ein Bad)
b) Badezimmer (4 Zimmer, Küche, Bad)
c) Badeort (Er ist in ein Bad gefahren, etwa nach Bad
Kreuznach)
2. Amt
a) Dienststellung (Bürgermeister)
b) Dienststelle (Behörde), auch Amtsgebäude
c) gesungene katholische Messe
3. Batterie
a) Stromquelle
b) Artillerie-Einheit
c) Mehrheit von Geräten
4. Erinnerung
a) Umgangssprache: Im Gedächtnis bewahrter
Eindruck
b) Juristischer Fachausdruck: Rechtsmittel gem. §§ 104, 107,
766 ZPO
Der beabsichtigte Bedeutungsgehalt mehrdeutiger Wörter, die
Intension
[25], muß also vom
Empfänger aus den Umständen der Verwendung erschlossen werden. Bei der
Gesetzesanwendung oder bei einer Vertragsauslegung entsteht für den
Juristen das Problem, daß er eine Entscheidung treffen muß, was die
Wortbedeutung im konkreten Fall ist. Mit welchen Methoden die Feststellung der
Bedeutung eines Wortes im konkreten Fall im juristischen Bereich geschieht, wird
im zweiten Teil der Arbeit gezeigt werden.
bb) Die Unbestimmtheit von Wortbedeutungen
Eine weitere Eigenschaft von Sprache macht die Auslegung von Texten
erforderlich: die Unbestimmheit von Wortbedeutungen. Die Unbestimmheit entsteht
oft daraus, daß der Alltagsgebrauch zugunsten einer breiten Verwendbarkeit
auf eine eindeutige Definition
verzichtet
[26].
(1) Welche Zeitspanne umfaßt der Begriff “Nacht”, wenn er
etwa im Januar, im Juni oder undifferenziert für das ganze Jahr verwendet
wird?
(2) Wie viele Bäume sind erforderlich, damit zutreffend von einem
“Wald” gesprochen werden kann?
(3) Von wann bis wann dauert der “Hochsommer” oder der
“Spätherbst”?
cc) Die Veränderlichkeit von Wortbedeutungen
Nicht nur die Lebensumstände ändern sich mit der Zeit, auch Worte
können ihre Bedeutung ändern. Die Gründe dafür sind sehr
verschieden, sie können gesellschaftlicher, politischer oder auch
technischer Natur (Stichwort: Internet) sein. Das Wort als Laut- oder
Schriftbild erweist sich als Hülse (“Worthülse”), deren
Inhalt ganz oder teilweise ausgetauscht
wird
[27]. Auch hier ist das Verstehen nur
möglich, wenn alle Beteiligten den selben Verständnishorizont haben,
also z.B. alle die aktuelle Bedeutung des Wortes zu Grunde legen, nicht die
Bedeutung die es vor x Jahren hatte.
Ein Beispiel für den schnellen Bedeutungswandel aus dem juristischen
Bereich bietet der Begriff der “guten Sitten”, der als
Bewertungsmaßstab in §§ 138, 826 BGB und § 1 UWG auftaucht.
Besonders deutlich was dies im Wirtschaftsrecht während und nach dem
zweiten Weltkrieg, als z.B. durch den Krieg unterbrochene
Geschäftsbeziehungen Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen wurden
oder man die Folgen der Inflation bewältigen mußte. Auch der Beginn
des Nationalsozialismus hatte großen Einfluß auf das
Verständnis der Gerichte von den “guten Sitten”. So entschied
der Große Senat für Zivilsachen beim Reichsgericht am 13.03.1936:
“Der Begriff eines ´Verstoßes gegen die guten
Sitten´...erhält seinem Wesen nach den Inhalt durch das seit dem
Umbruch herrschende Volksempfinden, die nationalsozialistische
Weltanschauung”
[28]. Der heutige Begriff
der “guten Sitten” hat sich wiederum völlig
gewandelt.
dd) Die kalkulierte Unbestimmtheit und Offenheit von
Gesetzesbegriffen
Eine juristische Besonderheit ist die kalkulierte Unbestimmtheit und
Offenheit von Gesetzesbegriffen.
Sie entsteht dadurch, daß durch das Recht verschiedene
Lebensvorgänge erfaßt werden sollen, deren Zahl nahezu unendlich
groß ist. Es ist aber unmöglich, für jeden Fall eine eigene
Regel aufzustellen. Die Zahl der Rechtsvorschriften und dogmatischen Sätze
muß aus vielen Gründen überschaubar
bleiben
[29]. Hinzu kommt, daß der
Gesetzgeber nicht alle Fälle vorhersehen kann und deshalb generelle,
verallgemeinernde Beurteilungsmaßstäbe verwenden muß, um
Elastizität zu schaffen, damit das Gesetz auch auf veränderte
Sachverhalte und gewandelte soziale und politische Wertvorstellungen angewendet
werden kann
[30]. Eine gewollte Offenheit findet
sich zum einen in unbestimmten Rechtsbegriffen (“angemessen”,
verhältnismäßig”, “fahrlässig”,
“grober Undank”, “ehrloses Verhalten”), zum anderen in
Generalklauseln (“wichtiger Grund”, “Treu und Glauben”,
“gute Sitten”, “billiges Ermessen”). Das Gesetz
erhält dadurch einen breiten Anwendungsbereich. Diese Offenheit bietet aber
auch wieder Mißbrauchsmöglichkeiten, auf die im zweiten Teil der
Arbeit näher eingegangen werden wird.
b) rechtliche Faktoren
Neben den oben gezeigten sprachlichen Faktoren hat auch das Recht selbst
Auswirkungen auf die Macht der Gesetzesinterpreten. Zu nennen sind hier die
Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat und das Rechtsverweigerungsverbot,
in dem man den Hauptgrund für die Entstehung von Richterrecht sehen
kann.
aa) Gewaltenteilung
Nach Art. 20 Abs.2 S.2 GG erfolgt die Ausübung der Staatsgewalt durch
besondere Organe der gesetzgebenden Gewalt, der vollziehenden Gewalt und er
Rechtsprechung. Dadurch wird der Grundsatz der Gewaltenteilung festgelegt. Die
drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative stehen allerdings
nicht strikt getrennt gegenüber, sondern sollen durch wechselseitige
Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Teilgewalten (“checks and
balances”) zur Begrenzung staatlicher Machtausübung, zu ihrer
Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Verantwortlichkeit
gelangen
[31].
(1) Die Legislative, im freiheitlich-demokratischen System das Parlament,
hat dabei die Aufgabe der Normsetzung, deren Verfahren im Grundgesetz geregelt
ist. Schon hier tauchen Auslegungsfragen auf, etwa wie das
Gesetzgebungsverfahren genau durchgeführt werden soll. Dieser Bereich kann
aber im Rahmen dieser Arbeit nicht abgedeckt werden. Wichtig ist hier, daß
das Parlament nicht die Bedeutung des Gesetzes für den Einzelfall
verbindlich feststellen kann - das ist Aufgabe der Judikative.
(2) Für die Exekutive enthält das Grundgesetz keine
Funktionsbestimmung, ihre typische Aufgabe ist aber jedenfalls der Vollzug von
Gesetzen
[32]. Um die Gesetze vollziehen zu
können, müssen sie von der Exekutive ausgelegt und angewendet werden.
Hier wird die Macht der Gesetzesinterpreten schon deutlicher. Wie bestimmte
Normen ausgelegt und angewendet werden, hat großen Einfluß auf den
Einzelnen. Ein Beispiel hierfür ist das Verwaltungsrecht. So hat die
Auslegung der Frist des § 48 IV VwVfG große Auswirkungen für die
Möglichkeit der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte durch ein
Behörde und entscheidet mitunter, ob große Geldsummen
zurückgezahlt werden müssen.
(3) Die Macht der Interpreten ist aber in der Judikative wohl am
stärksten ausgeprägt. Das ergibt sich aus der Funktion der Justiz im
System der Gewaltenteilung. Zum einen hat die Justiz die Aufgabe,
Rechtsstreitigkeiten zwischen Bürgern zu entscheiden. Zum anderen
kontrollieren die Gerichte auch das Verhältnis von Bürger und Staat
oder innerstaatliche Konflikte. Die Gerichte haben ihnen vorgelegte
Streitfälle für die Parteien bindend zu entscheiden. Wie oben schon
kurz angesprochen, kommt dabei den letztinstanzlichen Entscheidungen ein ganz
besonderes Gewicht zu. Da der Rechtsverkehr von der Kontinuität der
Rechtsprechung oberster Bundesgerichte ausgeht, haben solche
Grundsatzentscheidungen in der Praxis gesetzesähnliche
Wirkung
[33].
bb) Justizgewährungsprinzip
Rechtsprechung ist aber nicht auf die Entscheidung von Streitfällen
beschränkt. Die Macht der Gesetztesinterpreten, vor allem der Gerichte,
wird durch das Prinzip der allgemeinen Justizgewährung weiter
verstärkt. Dieses Prinzip der allgemeinen Justizgewährung wird als
staatliche Pflicht und individuelles Recht angesehen, das die Kehrseite des
staatlichen Gewaltmonopols, der bürgerlichen Friedenspflicht und des
Selbsthilfeverbots bildet
[34]. Wenn der
Bürger seine Rechte nicht selbst durchsetzen darf, muß der Staat ihm
dafür geeignete Institutionen und Verfahren zur Verfügung stellen.
Daraus folgt, daß die Gerichte in jedem Fall innerhalb angemessener Zeit
eine Entscheidung treffen müssen. Das bedeutet wiederum, daß die
Richter auch über Fälle entscheiden müssen, die gesetzlich nicht
geregelt sind (Gesetzeslücken, Rechtslücken) oder in denen zwar
gesetzliche Regelungen vorhanden sind, diese aber wegen der veränderten
Umstände nicht mehr anwendbar sind. In dieser Ausnahmesituation entsteht
Richterrecht. Richterrecht sind Rechtssätze, die in
höchstrichterlichen oder letztinstanzlichen Entscheidungen verwendet
werden, aber in der gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Rechtsordnung nicht
enthalten sind. Richterrecht sind alle Entscheidungsnormen
(Wertmaßstäbe), die ohne wertende, gebotsbildende Akte des Richters
dem Gesetz nicht entnommen werden
können
[35]. Die Rechtsquellenqualität
von Richterrecht ist umstritten und wird unter Hinweis auf das Prinzip der
Gewaltentrennung überwiegend verneint. Als Rechtsquellen innerstaatlichen
Rechts werden nur Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht
anerkannt
[36]. Dennoch sprechen gewichtige
Faktoren für die Anerkennung von Richterrecht als Rechtsquelle: auch die
Gegner der Rechtsquellenqualität des Richterrechts gehen von einer
faktischen Bindungswirkung durch letztinstanzliche Entscheidungen
aus
[37]. Da der Bereich des Richterrechts
ständig wächst und dabei eine Machtverschiebung von der Legislative
hin zur Judikative stattfindet, ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten.
Problematisch wird dieser Bereich der Rechtsfortbildung, wenn die
Richterrechtssetzung versteckt stattfindet ohne die maßgeblichen
Entscheidungsmaßstäbe offenzulegen und als “Auslegung”
von Gesetzen präsentiert wird. Darauf wird unten noch ausführlich
eingegangen werden.
II. Ausübung der Interpretationsmacht
Im zweiten Teil der Arbeit geht es um die Ausübung der Macht, die
durch die Interpretation von Rechtstexten entsteht. Zur Verdeutlichung
möchte ich dazu auf die Elemente der Auslegung im juristischen Bereich
eingehen, die Ziele der Auslegung darstellen, mögliche Grenzen der
Auslegung aufzeigen, den Gebrauch der Interpretationsmacht in der
Argumentationsfigur der “herrschenden Meinung” kritisch beleuchten
und auf Mißbrauch der Interpretationsmacht eingehen.
1. die juristischen Auslegungsmethoden
Die “klassischen” Elemente der juristischen Auslegung wurden
1840 von Friedrich Carl von Savigny in die Rechtswissenschaft
eingeführt
[38]. Er bezeichnete sie als
grammatikalische, historische, systematische und logische
Auslegung
[39]. Diese vier Auslegungskriterien,
oft als “Auslegungskanon” bezeichnet, werden heute noch als
gültig angesehen und bei der Gesetzesauslegung
angewendet
[40]. An die Stelle von Savignys
logischer Auslegung ist heute allerdings die teleologische Auslegung getreten,
die nach dem Zweck der auszulegenden Regelung
fragt
[41]. In neuerer Zeit wird auch die
rechtsvergleichende Auslegung als Auslegungsmethode diskutiert. Obwohl es keine
gesetzliche Beschränkung auf diese vier Kriterien gibt, richten sich heute
im Grundsatz alle Rechtsanwender nach dem Kanon von F.C.v.Savigny. Bei der
Anwendung hat nach Savigny keine der Auslegungsmethoden Vorrang, man müsse
bei der Auslegung alle beachten. Seiner Ansicht nach werde aber “...bald
die eine, bald die andere wichtiger sein und sichtbarer hervortreten, so
daß nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten
unerläßlich ist”
[42]. Was das
für die Macht der Gesetzesinterpreten bedeutet, wird im Anschluß an
einen Überblick über die Auslegungsmethoden gezeigt werden.
a) grammatikalische Auslegung
Ausgangspunkt jeder Analyse einer Rechtsnorm ist die Ermittlung des
semantisch möglichen Wortsinns
[43].
Darunter versteht man die Bedeutung, die ein Ausdruck oder eine Wortverbindung
im allgemeinen Sprachgebrauch oder im besonderen Sprachgebrauch wie etwa in
einem Gesetz hat
[44]. Allerdings sind
Abweichungen von der Wortbedeutung bei der Auslegung möglich und notwendig,
wenn Sinn und Zweck der Norm es erforderlich
machen
[45]. Dies ist nicht nur beim
allgemeinen, umgangssprachlichen Sprachgebrauch der Fall, sondern sogar bei
gesetzlich definiertem Sprachgebrauch. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die
Auslegung des Begriffs “Sache” in § 119 II BGB. Nach der
Legaldefinition des § 90 BGB sind Sachen nur körperliche
Gegenstände. Das Reichsgericht (und die seitdem h.M.) sieht davon auch
unkörperliche Gegenstände erfaßt: “Das Gesetz gebraucht
hier, wenn es von einer ´Sache´ spricht, diesen Begriff nicht im
Wortsinn des § 90 BGB”
[46]. Dies
zeigt deutlich die Unhaltbarkeit der aus dem römischen Recht stammenden
sog. “Sens-Clair-Doktrin”, nach der eine klar und eindeutig
formulierte Gesetzesvorschrift keiner Auslegung zugänglich sei: auch in
“eindeutig” formulierten Gesetzesvorschriften können
Redaktionsversehen oder Wertungswidersprüche der normsetzenden Instanz
enthalten sein, die bei der Anwendung der Vorschriften zu berücksichtigen
und eventuell zu korrigieren sind
[47]. Ein
weiteres Problem bei der Wortlautauslegung ist das maßgebliche
Textverständnis: kommt es auf den heutigen Sprachgebrauch an oder ist der
Sprachgebrauch zur Zeit der Normsetzung ausschlaggebend? Nimmt man die
Gesetzesbindung der Rechtsanwender ernst, dann muß bei der Auslegung auf
den Sprachgebrauch zur Zeit der Normsetzung abgestellt werden. Sonst wären
letztlich die Vorstellungen des Rechtsanwenders entscheidend und dieser
könnte sich unter Berufung auf den heutigen Sprachgebrauch über die
Wertentscheidungen des Normsetzers
hinwegsetzen
[48]. Das wird bei den Zielen der
Auslegung noch näher erläutert werden.
b) historische Auslegung
Die historische Auslegung sucht den Gebotsgehalt und den Normzweck
gesetzlicher Vorschriften aus dem Kontext ihrer Entstehungsgeschichte zu
ermitteln
[49]. Es geht darum aufzudecken,
welche Fallgestaltungen und Interessenkonflikte der historische Gesetzgeber
regeln wollte. Deshalb kommt es auf verschieden Faktoren aus der Zeit an, in der
die Norm erlassen wurde. Zu nennen wären hier technische und
wirtschaftliche Verhältnisse, Sozialstruktur, gesellschaftliche, politische
und religiöse Weltanschauungen sowie das gesamte politische System und
Verfassung. Die historische Auslegung beschränkt sich dabei deswegen meist
nicht auf die Entstehungsgeschichte einer Einzelnorm, etwa an Hand von
Gesetzesmaterialien
[50]. Sehr umstritten ist
die Frage, ob das Gesetz “entstehungszeitlich” oder
“geltungszeitlich” zu interpretieren
ist
[51]. Ohne näher auf diesen Streit
einzugehen, kann man sagen, daß wegen der Gesetzesbindung der
Rechtsanwender der ursprüngliche, vom Gesetzgeber gewollte Normzweck zu
ermitteln ist. Erst dann stellt sich für den Rechtsanwender die Frage, ob
sich seit dem Erlaß der Norm die geregelte Materie oder die
Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft so geändert haben, daß die
vorgesehenen Rechtsfolgen modifiziert werden müssen oder die Norm insgesamt
unanwendbar geworden ist
[52].
c) systematische Auslegung
Die systematische Auslegung geht von der Grundeinsicht aus, daß die
einzelne Norm nicht isoliert ausgelegt werden darf, sondern im
Gesamtzusammenhang des Gesetzes und der Rechtsordnung zu verstehen
ist
[53]. Sie hat das Ziel, dasjenige
Auslegungsergebnis zu ermitteln, das die einen Wirklichkeitsausschnitt
beherrschenden Rechtssätze zu einem möglichst widerspruchsfreien,
kohärenten Sinnganzen
zusammenfügt
[54]. Grundannahmen sind dabei
zum einen die “Einheit der Rechtsordnung”, zum anderen die
Vorstellung eines hierarchisch-pyramidalen Stufenbaus der Rechtsordnung und der
daraus folgenden unterschiedlichen Ranghöhe der
Normen
[55]. Ein Unterfall der systematischen
Auslegung ist die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung
praktizierte verfassungskonforme Auslegung vom Bundes- und
Landesrecht
[56]. Verfassungskonforme Auslegung
bedeutet, daß bei verschiedenen möglichen Bedeutungen einer
Vorschrift diejenige den Vorzug erhält, die den Wertentscheidungen der
Verfassung besser entspricht. Drei Regeln, die aus der allgemeinen
Rechtstradition stammen, sollen eine möglichst einheitliche und
widerspruchsfreie Gesetzesanwendung im Rahmen der systematischen Auslegung
garantieren
[57]:
“Ausnahmebestimmungen dürfen nicht erweiternd ausgelegt werden
(singularia non sunt extendenda). Ein Spezialgesetz geht einer allgemeinen Regel
vor (Lex specialis derogat legi generali), ein späteres Gesetz geht einem
früheren vor (Lex posterior derogat legi priori)”.
d) teleologische Auslegung
Maßgeblich für jede Auslegung ist die Bestimmung des
Gesetzeszwecks (“ratio legis”). Die teleologische Interpretation,
die den Gesetzeszweck, die immanente Teleologie des Gesetzes ermittelt, fragt
nach Sinn und Tragweite der gesetzlichen Regelung im Hinblick auf das konkret zu
lösende Sachproblem
[58]. Sie bildet das
wichtigste Kriterium unter den vier Elementen des
“Auslegungskanons”. Große Bedeutung hat die teleologische
Auslegung in Fällen, in denen die generelle Anwendbarkeit oder der
Anwendungsbereich einer Norm fraglich geworden ist. Im Wege der teleologischen
Auslegung kann es dann dazu kommen, daß die Unanwendbarkeit einer Norm
festgestellt wird, wenn sich die “Normsituation” so verändert
hat, daß der Gesetzeszweck generell nicht mehr erreicht werden
kann
[59]. Wird der Gesetzeszweck nur bei
einigen Sachverhaltsgruppen nicht mehr erreicht, die an sich vom
abstrakt-begrifflichen Gesetzestatbestand umfaßt sind, ist eine sog.
teleologische Reduktion geboten, die nur den Anwendungsbereich der Norm
reduziert
[60].
2. Ziel der Auslegung: objektive oder subjektive
Auslegung?
Wie oben bereits kurz angesprochen, ist weder die Anwendung noch die
Gewichtung der vier Elemente des “Auslegungskanons” gesetzlich
normiert. Damit bleibt bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzen ein breiter
Spielraum für den Rechtsanwender. Ein Vorteil dieses Spielraums ist die
große Flexibilität bei der Auslegung von Gesetzen. Dem stehen
allerdings als Nachteil die Mißbrauchsmöglichkeiten entgegen, die
sich durch eine beliebige Wahl der Auslegungsmethoden eröffnen. Im
Extremfall läßt sich durch eine selektive Anwendung bestimmter
Methoden unter Ausblendung der anderen Elemente des
“Auslegungskanons” das gewünschte Ergebnis als rein formale
Ableitung aus dem Gesetz präsentieren, ohne die eigenen und die
gesetzlichen Wertungsmaßstäbe hinreichend offenzulegen und zu
berücksichtigen. Noch weitreichender als die selektive Anwendung bestimmter
Auslegungselemente ist allerdings die grundsätzliche Entscheidung
darüber, was das Ziel der Auslegung sein soll. Da auch hier keine
gesetzlichen Bestimmungen bestehen, besteht darüber ein Streit mit
weitreichenden Konsequenzen.
a) Die Vertreter der sogenannten “subjektiven” Auslegung sehen
als Ziel der Auslegung die Feststellung des Willens und der Absichten des
historischen Gesetzgebers
[61]. Dadurch wird der
Rechtsanwender an die Wertentscheidungen des historischen Gesetzgebers gebunden,
sie begrenzen die Möglichkeiten der
Auslegung
[62].
b) Die Vertreter der sog. “objektiven” Auslegung sehen dagegen
das Ziel der Auslegung darin, den im Gesetzeswortlaut niedergelegten
objektivierten Willen des Gesetzes zu
ermitteln
[63]. Dabei unterstellen sie,
daß das Gesetz eine vernünftige, gerechte und zweckmäßige
Ordnung habe treffen wollen. Diese objektiv vernünftige Ordnung sucht sie
aus dem Gesetz zu ermitteln
[64]. Dadurch wird
der Interpret von den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers befreit und es
eröffnet sich für ihn die Möglichkeit, den objektiven
Regelungsgehalt über die Schranken der Vorstellungen dieses historischen
Gesetzgebers hinaus zu entfalten
[65].
c) Die Konsequenzen einer Entscheidung für eine der beiden Ansichten
sind groß: folgt man der subjektiven Auslegung, bindet man den
Rechtsanwender (in erster Linie die Gerichte) an die Wertentscheidungen des
Gesetzgebers. Entscheidet man sich für die objektive Auslegung, dann
entledigt man sich dieses Rahmens und eigene Wertvorstellungen können
letzlich zum Entscheidungsmaßstab werden. Ob die Wahl des Auslegungsziels
beliebig vorgenommen werden kann, ist angesichts der Auswirkungen der
Entscheidung für eine der beiden Standpunkte auf die Rechtsordnung, vor
allem in Hinblick auf Gewaltenteilung und Demokratieprinzip, fraglich. Gegen die
“objektive” Auslegung sprechen eine Reihe von Faktoren. Durch die
Loslösung vom Willen des Gesetzgebers sucht die “objektive”
Auslegung den Aussagegehalt des (Norm-)Textes zu erweitern. Denn eine wirkliche
Auslegung eines Gesetzestextes ist nur soweit möglich, wie die Wertungen
des Gesetzgebers in ihn eingeflossen sind. Alles was darüber hinaus geht
ist die (versteckte) “Einlegung” von eigenen Wertungen in den Text.
Eine Erweiterung des Aussagegehalts ist aber in einem objektiv kontrollierbaren
Verfahren nicht möglich
[66]. Die
Entscheidungen des Rechtsanwenders sind damit praktisch objektiv nicht
nachprüfbar. Dies ist nun besonders unter dem Aspekt der Gesetzesbindung
der Rechtsanwender gem. Art. 20 III GG äußerst problematisch. Die
Gewaltentrennung von Judikative und Legislative gerät durch eine
Verwischung der Grenzen zwischen Auslegung und (Richter-)Rechtsetzung bei
Gesetzeslücken in Gefahr
[67].
Die Wahl der Methode ist auch unter dem Gesichtspunkt des
Demokratieprinzips zu sehen. Im demokratischen Rechtsstaat liegt die vorrangige
Zuständigkeit für die Setzung von Rechtsnormen bei der Gesetzgebung.
Diese Zuständigkeit wird von den demokratisch legitimierten
Gesetzgebungsorganen (Bundestag, Bundesrat) wahrgenommen. Vom Parlament
verfassungsgemäß verabschiedete Gesetze sind der demokratisch
gebildete Gemeinwille, die konkrete normativ verbindliche Entscheidung des
Souveräns. Die Bindung der Gerichte an die Gesetze bedeutet ihre Bindung an
demokratisch zustande gekommene Willensentscheidungen. Sie ist elementarer
Bestandteil des Demokratieprinzips. Richter sind in der Demokratie
unabhängig (Art. 97 I GG, § 1 GVG) und können es sein, weil und
solange sie dem Gesetz unterworfen sind. Der Richter ist also der (denkend)
gehorsame Diener des demokratisch erlassenen Gesetzes, nicht sein Herr. Jede
Lockerung der Gesetzesbindung (etwa durch die “objektive” Auslegung)
führt deswegen zu einem Abbau des Demokratieprinzips. Denn sie führt
dazu, daß der im Gesetz verbindlich geäußerte Gemeinwille durch
den Subjektivismus der jeweils entscheidenden Richter verdrängt
wird
[68]. Richterrechtsetzung bei Rechts- oder
Gesetzeslücken muß deshalb die Ausnahme sein, zudem müssen die
Entscheidungsmaßstäbe offengelegt werden, um dieses Verfahren
objektiv überprüfbar zu machen.
Neben diesen juristischen Argumenten sprechen auch linguistische und
sprachphilosophische Untersuchungen dafür, Gesetzesauslegung und
Rechtsfortbildung nach Maßgabe der subjektiven Auslegungstheorie
voneinander abzugrenzen
[69].
Die Linguistik, die die Bedeutung eines Textes zu ermitteln versucht, hat
gezeigt, daß Bedeutung (“meaning”) an ein
Erklärungsverhalten bzw. einen Text gebunden ist, und diese Tatsache hebt
den empfänger- bzw. zuhörerbezogenen Aspekt des Textes stärker
hervor
[70]. Wort- und Textbedeutungen
unterliegen nicht dem Belieben des Textverwenders, sondern sind
konventionsgebunden
[71].
Die semantische Forschung hat gezeigt, daß es keine notwendige
“natürliche” Korrelation zwischen Wortkörper und
Wortbedeutung in dem Sinne gibt, daß mit ein und demselben Laut immer der
selbe Begriff bezeichnet wird
[72]. Die
Verbindung von Wortkörper (Laut, sprachliches Zeichen) und Bedeutung (Sinn,
Begriff) ist logisch willkürlich und lediglich traditionsgebunden, wie ein
Blick auf historische oder gegenwärtige Bedeutungsveränderungen
zeigt
[73].
Zuletzt stützen Studien zur linguistischen Pragmatik, die das
Funktionieren sprachlicher Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer
beschreibt, den Vorrang der “subjektiven” Auslegung vor der
“objektiven”. Sie haben gezeigt, daß sich die Bedeutung eines
Ausdrucks aus dem komplexen Zusammenspiel von Kontext, Redesituation,
Kommunikationsgeschichte, antizipierter Sprecher- bzw. Hörererwartung und
auch der Sprecherintention ergibt
[74]. Zu den
Sprachregeln gehört, daß der Hörer einer Äußerung
aufgrund seines Wissens, z.B. über bekannte oder gewiß vermutete
Absichten und Interessen des Sprechers interpretiert, ebenso wie auch der
Sprecher seine Äußerung dem Wissen des Hörers anpaßt,
indem er die Sprechsituation mitbenutzt, statt Überflüssiges in Worten
auzudrücken
[75]. Daraus folgt, daß
der Boden der Gesetzesauslegung dort verlassen wird, wo der Wille und die
Absichten des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden. An diesem Punkt
beginnt die Rechtsfortbildung.
3. Grenzen der Auslegung
Ob es Grenzen der Auslegung gibt, an denen die Füllung von Lücken
beginnt und wenn ja welche, ist seit langem umstritten. In Betracht kommen
sprachliche und rechtliche Grenzen.
a) sprachliche Grenzen
Hierher gehören die sog. “sens-clair-doctrin” (s.o.) auf
der einen Seite und die sog. “Wortlaut-” oder
“Wortsinngrenze” auf der anderen Seite.
Als sprachliche Grenze der Auslegung wird immer wieder der
“mögliche Wortsinn” genannt. Ausgangspunkt ist ein Zitat von
Philipp Heck: “Die Grenze der Auslegungshypothesen ist der
“mögliche Wortsinn”
[76]. Eine
große Rolle spielt die Wortlautgrenze im Strafrecht in Hinblick auf den in
Art. 103 II GG, § 1 StGB normierten Grundsatz “nullum crimen sine
lege”. Hier sollen unter Berufung auf die Wortlautgrenze Analogien
vermieden werden. Auch in anderen Rechtsgebieten soll - mit unterschiedlichen
Begründungen - der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung sein.
Die Vertreter der sog. “Andeutungstheorie” gehen von der These aus,
daß bei mehrdeutigem Wortsinn nur solche Auslegungshypothesen erwogen
werden dürfen, die im Wortlaut der Vorschrift einen wenn auch noch so
unvollkommenen Ausdruck gefunden haben und damit “angedeutet”
sind
[77]. Andere führen
verfassungsrechtliche Gesichtspunkte ins Feld, um die Auslegung unter Berufung
auf den Wortsinn von der Rechtsfortbildung
abzugrenzen
[78].
Richtig daran ist zwar, daß der Wortlaut eines Rechtstextes immer der
erste Anknüpfungspunkt für eine zutreffende Auslegung ist. Es sprechen
aber eine Reihe Argumente gegen eine wirkliche “Grenze des möglichen
Worstsinns”:
- Zum einen gibt es keinen für das Verständnis zweifelsfreien und
eindeutigen Gesetzeswortsinn, an den eine Bindung möglich
wäre
[79].
- Zum anderen ist der Wortsinn für eine angemessene Auslegung oft
nicht ausreichend. Das wird offensichtlich, wenn bei den sog. Redaktionsversehen
über die Begrenzung durch den möglichen Wortsinn hinweggegangen werden
muß
[80].
- Ein letztes Argument gegen das Kriterium der möglichen Wortbedeutung
als Grenze der Auslegung ist die Unschärfe dieses Begriffs: die
Feststellung der möglichen Wortbedeutung ist an sich schon ein Akt der
Interpretation; hinzu kommt, daß das Ergebnis verschieden ausfallen kann,
abhängig davon ob man auf den Entstehungs- oder den Geltungszeitraum der
Norm abstellt
[81].
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Wortlaut und Wortsinn
einer Vorschrift bei der Interpretation besonders sorgfältig beachtet
werden müssen, da sie das wichtigste Mittel des Normerzeugers sind, seine
Wertvorstellungen zu transportieren. Aufgrund der oben angeführten
Argumente läßt sich aber sagen, daß die Wortsinngrenze wegen
ihrer Unbestimmtheit und Wandelbarkeit in Ausnahmefällen nicht geeignet
ist, die Auslegung zu begrenzen.
b) rechtliche Grenzen
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es mehrere Vorschriften,
die die Gewaltenteilung verwirklichen wollen und der Auslegung Grenzen ziehen.
Hier ist in erster Linie Art. 20 III GG zu nennen, aber auch Art. 19 IV, 97 I,
103 I GG. Eine andere rechtliche Grenze für die Auslegung bildet das oben
angesprochene Analogieverbot im Strafrecht, das in Art. 103 GG und § 1
StGB gesetzlich verankert ist. Hier stellt sich wieder das Problem, daß
die Macht der Interpreten durch Vorschriften begrenzt werde soll, die ihrerseits
wieder ausgelegt werden müssen.
4. Gebrauch der Interpretationsmacht: die “herrschende
Meinung”
Ein Beispiel für die Macht, die durch Interpretation von Texten und
dem Umgang mit den gewonnen Ergebnissen entsteht, bildet die häufig
anzutreffende Argumentationsfigur der “herrschenden Meinung”. Im
Folgenden sollen Verwendung und Entstehung dieser Argumentation sowie die Ziele
dargestellt werden, die die Verwender damit anstreben und welche Folgen für
den juristischen Diskurs sich daraus ergeben.
a) Verwendung
Das Argument der “herrschenden Meinung” taucht in
Gerichtsentscheidungen und in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf. Der
Begriff “herrschende Meinung/Lehre” oder “h.M/h.L.” wird
häufig durch verschiedene Synonyme ersetzt: so findet man auch die
Bezeichnungen “herrschende Ansicht (Auffassung)”, “allgemeine
Meinung (Auffassung)”, “ (ganz) überwiegende Meinung”
oder Wendungen wie “es ist überwiegend anerkannt”, “es
wird ganz überwiegend
vertreten”
[82]. Oft ist auch die Praxis
anzutreffen, einzelne Auffassungen mit einer großen Anzahl von Zitaten
oder Fußnoten zu belegen, ohne explizit von der “h.M.” zu
sprechen. Eine Untersuchung zugänglicher Rechtsprechung hat ergeben,
daß der h.M. dabei in Urteilen überwiegend normative Funktion
zuerkannt wurde
[83]. Dies zeigt, nicht zuletzt
unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der
Richter, die nach Art. 97 I GG ja nur dem Gesetz unterworfen sind, die Macht der
Verwendung dieses Arguments. Neben der Funktion der h.M. als normative
Begründung wurde in geringerem Maße auch affirmative, diskursive,
informative und dissentierende Verwendung sowie eine Sondergruppe gefunden, die
dadurch charakerisiert ist, daß Formulierungen angetroffen werden wie:
“Der erkennende Senat schließt sich der h.M.
an...”
[84]. Zusammenfassend
läßt sich sagen, die “herrschende Meinung” kann als
Produkt einer dogmatischen Diskussion beschrieben werden und symbolisiert als
Kürzel die Mehrzahl der Anhänger einer
Auffassung
[85]. Auffallend ist noch, daß
die zu bestimmten Problemen existierenden “h.M.” vorgeblich
interessenneutral und objektiv sind. Ob dies wirklich der Fall ist, muß
untersucht werden.
b) Entstehung
Da das Argument der “herrschenden Meinung” oft
gesetzesähnlichen Status hat, muß untersucht werden, welche Faktoren
bei der Entstehung einer “herrschenden” Meinung eine Rolle spielen,
um abschätzen zu können, wie tragfähig die “h.M.” als
Argumentationsform ist oder ob sie gar als Rechtsquelle in Betracht kommt. Dabei
ist zum einen darauf einzugehen, wo Meinungsäußerungen von Autoren
erscheinen, auf die Bezug genommen wird und welches Gewicht die Publikationsform
dem Beitrag verleiht. Zum anderen sind Faktoren wie die wissenschaftliche
Reputation der Autoren zu berücksichtigen, die Einfluß auf das
Gewicht der “Meinung” haben.
aa) Wenn eine Ansicht zu einer dogmatischen Frage oder einer Definition als
“herrschend” dargestellt wird, geschieht das unter Bezugnahme auf
unterschiedliche Beiträge verschiedener Autoren, meist in Fußnoten.
Ansatzpunkt für die Form der Meinungsäußerung ist also die
veröffentlichte juristische Literatur, die allgemein zugänglich
ist
[86]. In Betracht kommen hierbei
Gerichtsurteile, Kommentare, Lehrbücher, Monographien und Aufsätze in
juristischen Fachzeitschriften.
(1) Gerichtsurteile spielen in diesem Zusammenhang nur eine geringe Rolle.
Relevant für die Bildung einer “h.M.” werden sie nur dann, wenn
es nicht um Präjudizien geht, sondern um eine vom Gericht darüber
hinaus geäußerte Auffassung zu einer
Rechtsfrage
[87]. Deshalb braucht hier nicht
näher darauf eingegangen werden.
(2) Eine große Rolle spielt die Meinungsäußerung im Rahmen
eines Kommentars. Eine knappe Kommentarbemerkung wird oft für wichtiger
genommen als eine ausführliche monographische
Argumentation
[88]. Kommentare sind (im
deutschsprachigen Rechtskreis) nicht so sehr wegen ihrer Geschlossenheit und
angestrebten Vollständigkeit bedeutend, Grund ist eher, daß die
Systematisierung als besondere fachliche Leistung
gilt
[89]. Auch wenn in einem Kommentar
verschiedene Ansichten zu einer dogmatischen Frage dargestellt werden, ist er
kein “Reservat absichtsloser Meinungsbildung”: gerade wegen der
Wertschätzung der Kommentarbearbeitungen liegt es für organisierte
Interessen wie z.B. Verbände mit großer Finanzkraft auf der Hand,
geeignete Bearbeiter für einen Kommentar einzusetzen und die
Meinungsbildung möglichst früh und nachhaltig in die gewünschte
Richtung zu steuern
[90].
(3) Beim Lehrbuch ist der Einfluß organisierter Interessen wohl nicht
so stark wie bei Kommentarbearbeitungen, da sie von Rechtslehrern geschrieben
werden. Lehrbücher genießen ähnlich hohes Ansehen wie
Kommentare, allerdings geht ihr Einfluß zurück, da sich das Recht
durch die zunehmende Kurzlebigkeit und Masse von Normen immer mehr der
Systematisierung entzieht. Auch Monographien, die Einzelthemen eingehend
behandeln, verlieren wegen der rasanten Rechtsentwicklung immer mehr Gewicht bei
der Meinungsbildung.
(4) Den größten Einfluß auf die Meinungsbildung haben die
Aufsätze in juristischen Fachzeitschriten. Dafür gibt es mehrere
Gründe. Zum einen lassen sich Aufsätze schneller schreiben und
veröffentlichen als ein Lehrbuch oder eine Monographie. Ein Aufsatz
ermöglicht es, auch mit schnellen Änderungen eines Rechtsgebiets
Schritt zu halten. Zum anderen bietet der Zwang, sich kurz fassen zu müssen
eine größere Möglichkeit, Einfluß zu nehmen, wenn man auf
umständliche Argumentationen verzichtet und nur
“Leitsätze” aneinander
reiht
[91]. Der Einfluß dieser
Publikationsform zeigt sich an der große Zahl der Aufsätze, die in
den verschiedenen Fachzeitschriten abgedruckt werden, die monatlich,
vierzehntäglich oder sogar wöchentlich erscheinen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Möglichkeiten der
Einflußnahme auf den Meinungsbildungsprozeß, die sich organisierten
Interessen durch die Herausgabe und Leitung eigener Fachzeitschriften bieten.
Diese Zeitschriften werden versuchen, das Interesse an bestimmten Meinungen
nicht zu deutlich hervortreten zu lassen, um ihren Einfluß auf die
Meinungsbildung nicht zu verlieren. Solche Blätter werden in der Regel, vor
allem in bestimmten wichtigen Fragen, die ihnen genehmen Tendenzen bevorzugt
vertreten lassen
[92].
An dieser Stelle muß auch kurz auf den Einfluß der Redaktionen
bzw. Herausgeber von Zeitschriften auf die Bildung einer “herrschenden
Meinung” eingegangen werden. Man sollte davon ausgehen können,
daß die Redaktion bei der Auswahl der Beiträge nur auf die
Qualität und nicht auf die geäußerte Ansicht achtet. Trotzdem
ist es leicht möglich, hier Einfluß zu nehmen, ohne daß dies
offensichtlich wird. Zum ersten lassen sich genügend Gründe für
die Ablehung eines Beitrags finden, ohne darauf eingehen zu müssen,
daß der Redaktion die “Richtung” der Meinung nicht
gefällt
[93]. Zum zweiten ist als Beispiel
eine vor allem in politisch unruhigen Zeiten praktizierte Redaktionspolitik zu
nennen
[94]: Die Redaktion kann unsachliche,
diskriminierende Äußerungen über andere Ansichten oder Autoren
zulassen und dadurch erreichen, daß ein solchermaßen angegriffener
Autor das Interesse an Meinungsäußerungen verliert. Als dritte
Möglichkeit der Einflußnahme kann man andere Zeitschriften als
“nicht-ojektiv” diskriminieren, wodurch ihre Wertschätzung und
die der dort geäußerten Meinungen im Meinungsbildungsprozeß
sinken kann
[95].
bb) Wie gerade dargestellt hat schon der Publikationsort einer schriftlich
geäußerten Ansicht Auswirkungen auf ihren Einfluß auf die
Meinungsbildung. Es kommen noch andere Faktoren hinzu, die eine Erfassung einer
“h.M.” durch zahlenmäßige Bestimmung der
geäußerten Ansichten zu einem bestimmten Problem unmöglich
machen. Der wichtigste ist der Autoritätsaspekt. Es kommt nicht nur auf die
Form der Meinungsäußerung an, sondern auch maßgeblich auf die
Reputation der Person, von der sie stammt
[96].
Die Entstehung der Reputation ist ein längerer Prozeß der von
verschiedenen Faktoren abhängt: Jedes Zitat, Publikationen in
auflagestarken Zeitschriften, die Aufnahme in Standardkommentare, Bezugnahmen im
Urteil und die daran anknüpfende Generalisierung von Einzelleistungen,
deren Qualität anerkannt wurde, schafft Prestige, das beispielsweise durch
die Berufung an bestimmte Universitäten stabilisiert werden
kann
[97]. Bemerkenswert ist dabei die
Irrationalität dieses Vorgangs, der auf das Ansehen gewisser
“Meinungen” so großen Einfluß hat. Ausgangspunkt
für das Einzelprestige der Wissenschaftler ist weniger die sachliche
Qualität der Veröffentlichungen - obwohl auch diese sicher ein
Kriterium für das Prestige darstellt - sondern eher die Anzahl der
Nennungen in Fußnotenapparaten auflagenträchtiger
Publikationen
[98]. Der genaue Einfluß des
Prestiges auf die Meinungsbildung kann aber nicht festgestellt werden, da diese
Faktoren letztlich auf subjektiver Einschätzung beruhen und deshalb nicht
nachprüfbar sind, und auch eine Prestigeordnung nicht auf Dauer stabil ist,
da sie wandelnden Wertschätzungen unterworfen
ist
[99].
c) Funktionen, Ziele
Argumentation dient der Herstellung der Glaubwürdigkeit des
vertretenen Parteienstandpunkts
[100]. Die
große Bedeutung der “h.M.” als Argument in der
Rechtswissenschaft erklärt sich daraus, daß die Struktur unserer
Sprache und der Rechtsnormen Auslegungsfragen entstehen lassen (siehe oben). Bei
diesen Auslegungsfragen geht es nicht um “wahr” oder
“falsch”, sondern um mehr oder weniger überzeugend. Die
Berufung auf die “h.M.” dient der Absicherung des eigenen
Standpunktes in der Argumentation durch die Berufung auf andere
“Autoritäten”. Daneben soll eine Berufung auf die
“h.M.” ähnlich wie Präjudizien oder die Dogmatik zur
Gleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte beitragen.
d) Folgen
Die unreflektierte Verwendung der “h.M.” als Argument hat
weitreichende Folgen. Zum einen bekommt die “h.M.” dadurch einen
rechtsquellenähnlichen Status. Dies ist aus verfassungsrechtlicher Sicht
problematisch, da der Richter laut Grundgesetz grundsätzlich frei und nur
dem Gesetz unterworfen ist. Die Praxis sieht allerdings wegen der breiten
Verwendung dieser Argumentation anders aus. Außerdem sprechen
rechtstheoretische Argumente gegen die “h.M.” als Rechtsquelle,
zumindest wenn man an eine Rechtsquelle die Anforderung stellt, rational
nachprüfbar zu sein
[101]. Denn wie oben
gezeigt, spielen bei der Entstehung von “herrschenden Meinungen”
viele Faktoren eine Rolle, die auf subjektiven Einschätzungen beruhen oder
auch vom Zufall abhängen.
Zum anderen besteht die Gefahr einer Erstarrung des Rechts, wenn statt
ausführlicher Argumentation zu umstrittenen Fragen nur pauschal auf andere
Autoren Bezug genommen wird
[102].
Problematisch ist auch der Einfluß auf abweichende Ansichten. Die oben
angesprochenen Mechanismen bei der Entstehung von “herrschenden
Meinungen” machen es schwierig für andere Ansichten zu
Rechtsproblemen, sich im juristischen Diskurs durchzusetzen. Trotz dieser
Argumente ist die Bindungswirkung einer Argumentation mit der “h.M.”
enorm. Die Ausübung von Interpretationsmacht tritt an diesem Punkt deutlich
zu Tage.
5. Mißbrauch der Interpretationsmacht: versteckte Normsetzung
statt Auslegung
Die Macht der Interpreten von Gesetzestexten, besonders der Richter, ist
wie oben gezeigt durch das System der Gewaltenteilung beschränkt. Gerade im
Bereich der Judikative kann es aber zu einem Mißbrauch der
Interpretationsmacht kommen. Das ist der Fall, wenn der Bereich der
Rechtsanwendung verlassen wird und die versteckte Rechtsetzung beginnt. Die
Schaffung von Richterrecht in Streitfällen auf Gebieten, die der
Gesetzgeber nicht geregelt hat (Rechtslücken bzw. Gesetzeslücken), ist
heute zwar anerkannt und wegen des Justizgewährungsgebotes legitim: wenn
der Staat den Bürger für Streitigkeiten an die Gerichte verweist,
muß der Bürger eine Entscheidung
bekommen
[103]. Problematisch sind die
Fälle, in denen die Normsetzung versteckt stattfindet, als Auslegung
getarnt, die vorgibt, nur eine wissenschaftlich besonders qualifizierte Form der
Rechtsanwendung zu sein. Diese versteckte Rechtsetzung findet sich in vielen
gängigen Argumentationsmustern. Ich möchte vier wichtige Bereiche
herausgreifen, die anfällig für eine als Rechtsanwendung deklarierte
(Richter)Rechtsetzung sind.
a) Ausfüllung von Generalklauseln und unbestimmten
Rechtsbegriffen
Eine Möglichkeit, neue Wertvorstellungen oder geänderte
Lebensverhältnisse als Auslegung getarnt in vorhandene Gesetze
einzubringen, bietet die Ausfüllung von Generalklauseln und unbestimmten
Rechtsbegriffen wie z.B. billiges Ermessen (§ 315 BGB), Treu und Glauben
(§ 242 BGB) oder die guten Sitten (§ 138, 826 BGB). Solche
Vorschriften wurden schon von Philipp Heck als “Delegationsnormen”
definiert: sie weisen dem Richter normsetzende Aufgaben
zu
[104]. Der Gesetzgeber will für
bestimmte Fallgruppen eine elastische richterliche Normsetzung entsprechend der
jeweiligen technisch-ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen
Entwicklung ermöglichen. Durch diese von der Gesetzgebung offengelassenen
Stellen entstanden viele neue Rechtsfiguren wie z.B. Aufklärungs- und
Auskunftspflichten, Rechtsmißbrauch, Verwirkung oder die Lehre vom Wegfall
der Geschäftsgrundlage im Rahmen von § 242
BGB
[105].
Da der Interpretationsspielraum dieser Vorschriften sehr weit ist, lassen
sich im Wege der “Auslegung” dieser Vorschriften rechtspolitisch
gewünschte Ergebnisse leicht erzielen, ohne die eigenen
Entscheidungskriterien offenzulegen und damit überprüfbar zu
machen.
b) neue Begriffslehren: konkretes Ordnungsdenken, konkret-allgemeiner
Begriff
Eine andere Möglichkeit der versteckten Normsetzung, sogar der
versteckten Umwälzung einer Rechtsordnung, bietet die Einführung neuer
Begriffslehren. Obwohl die Begriffsjurisprudenz durch die Vertreter der
Interessenjurisprudenz widerlegt wurde, hat sie doch noch starke Nachwirkungen
auf das deutsche Recht. Besonders deutlich wurde dies bei der sog.
“völkischen Rechtserneuerung” durch den Nationalsozialismus. Um
die nationalsozialistische Weltanschauung ohne umfangreiche
Gesetzesänderungen in die bestehende Rechtsordnung einzubauen, wurden neue
Begriffslehren geschaffen. Großen Einfluß hatte dabei das von Carl
Schmitt geprägte “konkrete Ordnungsdenken” und der von Karl
Larenz eingeführte “konkret-allgemeine Begriff”.
aa) Nach Carl Schmitt geht die Lebensordnung der Rechtsordnung vor:
“Die Norm oder Regel schafft nicht die Ordnung; sie hat vielmehr nur auf
dem Boden und im Rahmen einer gegebenen Ordnung eine gewisse regulierende
Funktion mit einem relativ kleinen Maß in sich selbständigen, von der
Lage der Sache unabhängigen
Geltens”
[106]. “Alle diese
Ordnungen bringen ihr inneres Recht mit sich. ...Unser Streben aber hat die
Richtung des lebendigen Wachstums auf seiner Seite und unsere neue Ordnung kommt
aus uns selbst”
[107].
Damit wurde ein Rechtsquellen-Dualismus zwischen der realen
(“konkreten”) Lebensordnung und dem geltenden Gesetz verkündet.
Bei Widersprüchen hatte die “konkrete Ordnung” den
Vorrang
[108]. Das “konkrete
Ordnungsdenken” ermöglichte es, sich bei der Rechtsfindung auf das
“Wesen” einer Sache oder eines Instituts zu berufen. Was das
“Wesen” einer Sache ist, hängt aber vom jeweiligen Interpreten
ab. Durch diese Scheinargumente
[109] konnten
außergesetzliche, ideologisch begründete Werturteile in die
bestehende Rechtsordnung eingeschleust
werden
[110].
bb) Die selbe Funktion hatte der “konkret-allgemeine Begriff”
von Karl Larenz. Er ging dabei von Hegels Vorstellung aus, daß Begriffe
wie z.B. der Eigentumsbegriff rechtserzeugende Funktion
hätten
[111]. Nach Hegel ist der Begriff
“...das wahrhaft Erste, die Dinge sind das, was sie sind, durch die
Tätigkeit des ihnen innewohnenden
Begriffes”
[112]. Der Begriff wird als
etwas selbständiges angesehen, das sich in der Wirklichkeit
“offenbart”. Larenz übertrug diese Lehre auf die
Rechtswissenschaft, und versuchte, die abstrakten Allgemeinbegriffe (etwa des
Zivilrechts) durch “konkret-allgemeine Begriffe” zu
ersetzen
[113]. Das diente als
Überleitung zur These von der rechtserzeugenden Kraft des
“Typus” und der “Typenreihe”. Der jeweilige spezielle
Typus einer rechtlichen Erscheinung, etwa des Eigentums (z.B. Geld, Ware,
Wohnhaus usw.) erhalte seine Besonderheit durch die “konkrete
Sonderordnung”, in die er einbezogen
ist
[114]. Hier wird die Verwandtschaft mit
dem “konkreten Ordnungsdenken” offensichtlich. Was den jeweiligen
“Typus” ausmacht, hängt wiederum ganz vom Interpreten ab, ihm
bleibt ein breiter Spielraum. “Konkret-allgemeine” Begriffe sind
fast unbegrenzt dynamisch, offen und elastisch, um neue Inhalte und
Wertvorstellungen aufzunehmen. Die Rechtsänderung vollzieht sich hier durch
Begriffsänderung, ein Wiederaufleben der durch die Interessenjurisprudenz
widerlegten Begriffsjurisprudenz
[115]. Da
eine klare Begrifflichkeit vermieden wird, kann die Rechtsanwendung nicht
objektiv überprüft werden.
c) “Natur des Sache”
Ein anderes oft benutztes Instrument der Rechtsfortbildung ist das Argument
der “Natur der Sache”. Mit der “Natur der Sache” wird
häufig argumentiert, wenn der Verwender eine juristische
Problemlösung, etwa seine Vorschläge für die Ausfüllung
einer Lücke für plausibel, für unbestritten, für nach Lage
der Dinge “vernünftig”, also intersubjektiv
zustimmungsfähig hält
[116]. Solange
der eingeforderte Konsens tatsächlich besteht, ist das Argument eigentlich
überflüssig. Wird aber die Rechtsauffassung in Frage gestellt,
muß offengelegt werden, um welche “Natur” es sich handelt,
woher sie kommt und wer die Definitionskompetenz über die “Natur der
Sache” besitzt
[117]. Eine Diskussion
über die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte ist
sonst unmöglich.
Bei der Berufung auf die “Natur der Sache” wird häufig
eine Formulierung von H. Dernburg zitiert: “Die Lebensverhältnisse
tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung
in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man Natur der Sache. Auf
sie muß der denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven
Norm fehlt oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar
ist”
[118]. Die “Natur der
Sache” wird also durch die Berufung auf die “innere Ordnung”
bzw. die “sachlogischen Strukturen” des zu regelnden
Lebenssachverhalts in den Rang einer (versteckten) Rechtsquelle erhoben. Es wird
dabei aber verschwiegen, daß der Richter eine Entscheidung treffen
muß, wo der Gesetzgeber schweigt, er also Richterrecht schafft. Es findet
keine “Auslegung” statt, sondern Richterrechtsetzung. Bei
Ableitungen von Rechtsgeboten aus der “Natur der Sache” entscheidet
allein der Rechtsanwender, was die “Natur” und was die
“Sache” ist und was sie
gebieten
[119]. Daß das weltanschauliche
Vorverständnis des Rechtsanwenders und seine Sinndeutung des zu regelnden
Lebensbereichs vor dem Hintergrund ihres Menschen- und Weltbildes das
Ableitungsergebnis entscheidend mitbeeinflussen können, bleibt dabei
verborgen
[120].
Letztlich wird mit dem Argument der “Natur der Sache” der
wissenschaftstheoretisch unhaltbare Versuch gemacht, ein konkretes Sollen aus
dem Sein eines bestimmten Lebensbereichs abzuleiten; die dabei stattfindende
reale Normsetzung wird als wissenschaftlich zwingende Normfindung
ausgegeben
[121].
d) “Erfinden” von Rechts- und
Gesetzeslücken
Ein letztes Mittel, rechtspolitisch erwünschte Ergebnisse ohne
gesetzliche Grundlage zu erzielen, ist das gezielte Suchen oder gar
“Erfinden” von Lücken, da dadurch der Weg für richterliche
Normsetzung in der Lücke freigemacht wird. Der Akt der Feststellung
teleologischer Lücken ist für die Justiz der Eingang, der aus der Enge
der Gesetzesbindung in das Reich der Freiheit richterlicher
Normsetzungskompetenz führt. Dieser Freiheitsrahmen ist umso
größer, je mehr die Gerichte die Chance sehen, den Normzweck
losgelöst vom Wortlaut und von der Entstehungsgeschichte der anzuwendenden
Vorschriften selbst zu bestimmen
[122]. Die
Feststellung einer Lücke kommt dabei keineswegs durch formal-rationale
Schlüsse zustande, es handelt sich immer auch um eine wertende
Tätigkeit
[123]: die anzuwendende Norm
bzw. das anzuwendende Gesetz muß ja erst ausgelegt werden, bevor ein
Regelungsdefizit für die konkrete Situation festgestellt werden kann.
Der Richter kann sich durch die bewußte Suche nach Lücken unter
Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips zum “Ersatzgesetzgeber”
aufschwingen. Diese verfassungsrechtliche Problematik wird auch nicht vom
Bundesverfassungsgericht gesehen. Es führt in einer
Entscheidung
[124] aus: “Die
verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Lückensuche und
–schließung findet ihre Rechtfertigung unter anderem darin,
daß Gesetze einem Alterungsprozeß unterworfen sind”.
Es besteht hier die Gefahr, daß regelungsfreudige Gerichte bei
rechtspolitisch motivierter Unzufriedenheit mit gesetzlichen Regelungen auf die
Suche nach Lücken gehen, um ihre eigenen Vorstellungen
durchzusetzen
[125].
Fazit
Recht und die Kommunikation über Recht sind nur durch Sprache
möglich. Da Rechtssätze zum Großteil aus Umgangssprache
bestehen, die oft unbestimmte Begriffe enthält und mehrere Deutungen
zuläßt, müssen Rechtssätze ausgelegt werden. Die Macht, die
durch die Auslegung von Rechtsnormen entsteht, wird durch das Grundgesetz auf
die Bereiche Legislative, Exekutive und Judikative aufgeteilt. Der Judikative
kommt dabei die Funktion zu, verbindliche Entscheidungen zu treffen, was
geltendes Recht ist und wie die Normen im Einzelfall auszulegen sind. Wo ein
Gesetz Lücken aufweist, sind die Richter wegen des
Justizgewährungsgebots dazu verpflichtet, eine eigene Entscheidung
innerhalb der Wertmaßstäbe der Rechtsordnung zu treffen. Diese
richterliche Freiheit eröffnet aber auch verschiedene
Mißbrauchsmöglichkeiten. Ein Mißbrauch der Macht der Richter
bei der Lückenschließung findet immer dann statt, wenn die
Wertmaßstäbe, die zur Entscheidungsfindung herangezogen wurden nicht
offengelegt werden, sondern als Ergebnis einer “Auslegung”
präsentiert wird. Neben dieser Problematik im Lückenbereich wird auch
durch die Argumentationsfigur der “herrschenden Meinung” Macht durch
Interpretation ausgeübt. Es ist wichtig, die Verwendung dieser
Argumentationsfigur kritisch zu betrachten, um auch abweichende Auffassungen zur
Lösung bestimmter Rechtsprobleme nicht von vornherein als abwegig zu
klassifizieren und ihnen eine Chance im Meinungskampf offenzuhalten.
[1] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
72
[2] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
74
[3] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
75
[4] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
79
[5] vgl. Horn, Einführung in die
Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 38
[6] vgl. Rüthers, Rechtstheorie,
Rn.87
[7] z.B. BverfGE 7, 198
[8] Horn, Einführung in die
Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 33
[9] Rüthers, Rechtstheorie,
Rn.83
[10] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
84
[11] aaO
[12] MüKo
[13] Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht,
§ 28, Rn.20ff
[14] vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
233
[15] vgl. zur Normsetzung in der BRD Art.
70ff GG
[16] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der
Neuzeit, S. 399
[17] vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
459 f
[18] vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
471
[19] Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.
260
[20] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
109
[21] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
121
[22] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
123
[23] aaO
[24] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
165
[25] aaO
[26] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
166
[27] Rüthers, Rechtstheorie,
Rn.172
[28] RGZ 150, 1 (4)
[29] Rüthers, Rechtstheorie,
Rn.177
[30] Hart, The Concept of Law, S.130
ff
[31] Degenhart, Staatsrecht I, Rn.
218
[32] Degenhart, Staatsrecht I, Rn.
221
[33] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
84
[34]
Maunz-Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 19 IV, Rn.16
[35] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
235
[36] Larenz, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, S. 356, 429ff, 477ff
[37] vgl. aaO
[38] F.C.v.Savigny, System des heutigen
römischen Rechts, Bd I, S. 213 ff
[39] F.C.v.Savigny, System des heutigen
römischen Rechts, Bd.I, S.213; Bd.III, S.244
[40] Bydlinski, Juristische Medthodenlehre
und Rechtsbegriff, S. 428ff; Larenz/Canaris, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, S. 141ff; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S.
39ff
[41] Kramer, Juristische Methodenlehre, S.
42
[42] F.C.v.Savigny, System des heutigen
römischen Rechts, Bd.I, S.215
[43] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn.119
[44] Larenz/Canaris, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, S.208
[45] Staudinger/Coing, Einleitung,
Rn.140
[46] RGZ 149, 235 (238)
[47] Rüthers, Rechtstheorie,
Rn.732
[48] Staudinger/Coing, Einleitung, Rn.
143
[49] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
780
[50] Staudinger/Coing, Einleitung, Rn.
160
[51] Kramer, Juristische Methodenlehre,
S.88
[52] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
795
[53] Staudinger/Coing, Einleitung,
Rn.143
[54] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 125
[55] Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 744;
MüKo/Säcker, Einleitung, Rn. 126
[56] BVerfGE 2, 266, 282;
MüKo/Säcker, Einleitung, Fn.307 m.w.N.
[57] Staudinger/Coing, Einleitung, Rn.
147
[58] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 128
[59] aaO
[60] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 129
[61] Staudinger/Coing, Einleitung, Rn.
132
[62] vgl. dazu Forsthoff, Recht und
Sprache, S. 46f.
[63] Staudinger/Coing, Einleitung, Rn.
133
[64] aaO
[65] aaO
[66] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 106
[67] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
706
[68] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
708
[69] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 110
[70] aaO
[71] aaO
[72] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 111
[73] aaO
[74] Hegenbarth, Juristische Hermeneutik
und linguistische Pragmatik, S.113
[75] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 112 m.w.N.
[76] Heck, AcP 112, S.33
[77] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 98; vgl. RGZ 52, 334, 342; 169, 122, 124; BGHZ 4, 369, 375
[78] siehe Müller, Juristische
Methodik, S.183
[79] vgl. Mennicken, Das Ziel der
Gesetzesauslegung, S.14; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft,
S.241ff.
[80] Mennicken, Das Ziel der
Gesetzesauslegung, S.15
[81] MüKo/Säcker, Einleitung,
Rn. 100
[82] Drosdeck, Die herrschende Meinung,
S.20
[83] vgl. die Tabelle bei Drosdeck, Die
herrschende Meinung, S.25!
[84] Drosdeck, Die herrschende Meinung,
S.21
[85] Drosdeck, Die herrschende Meinung,
S.99
[86] Schnur, Forsthoff-FS, S.56
[87] aaO
[88] Schnur, Forsthoff-FS, S.57
[89] aaO
[90] Schnur, Forsthoff-FS, S.57
f.
[91] Schnur, Forsthoff-FS, S.60
[92] vgl. Schnur, Forsthoff-FS,
S.61f.
[93] aaO
[94] vgl. Schnur, Forsthoff-FS,
S.62
[95] aaO
[96] Drosdeck, Die herrschende Meinung, S.
108
[97] aaO; Klausa, Deutsche und
amerikanische Rechtslehrer, S. 241ff
[98] Drosdeck, Die herrschende Meinung,
S.109
[99] aaO
[100] Schnur, Forsthoff-FS,
S.45
[101] Drosdeck, Die herrschende Meinung,
S.120
[102] vgl. Schnur, Der Begriff der
“herrschenden Meinung”, S.46
[103] siehe 1.Teil!
[104] Heck, Grundriß des
Schuldrechts, § 4, 1
[105] vgl. MüKo/Roth, § 242,
Rn. 183 ff
[106] Schmitt, Über die drei Arten
rechtswissenschaftlichen Denkens, S.13
[107] Schmitt, Nationalsozialistisches
Rechtsdenken, DR 1934, 225 (228)
[108] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
561
[109] Scheuerle, AcP 163, S. 429
ff.
[110] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
561
[111] Hegel, Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften, Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, Zusatz
zu § 160
[112] Hegel, Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften, Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, Zusatz
2 zu § 163
[113] vgl. Rüthers, Rechtstheorie,
Rn. 564
[114] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
565
[115] aaO
[116] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
921
[117] aaO
[118] Dernburg, Pandekten Bd.I,
S.84
[119] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
923
[120] aaO
[121] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
924
[122] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
873
[123] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
865
[124] BverfGE 82, 6
[125] Rüthers, Rechtstheorie, Rn.
875