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Artikel 421
Ralf Hansen

Materialien zu einer politischen Justizgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (II):

Heinrich Hannover Die Republik vor Gericht 1975-1995



Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwaltes
Berlin, 1999: Aufbau-Verlag, 495 S., DM 49,80,-
ISBN 3-351-02481-9

www.aufbau-verlag.de
www.kiepenheuer.de


I.


Der zweite Band der Erinnerungen von Heinrich Hannover ist nicht weniger brisant als der erste. Mitte der siebziger Jahre steuerte die Republik auf den Höhepunkt der Antiterroratmosphäre zu, die im "heißen Herbst" 1977 kulminierte, zum Schaden der Republik. Demokratie und Rechtsstaat haben in diesen Zeiten Schaden genommen durch die politischen Reaktionen auf eine Gruppe von Terroristen, die unter der Bezeichnung "RAF" (= "Rote Armee Fraktion") zu einem zweifelhaften Ruhm gelangt ist. Zu einer "Heroisierung" oder gar Mythologisierung dieser Organisation von "Menschenfeinden" ( Hannover spricht mehrdeutig von "vermeintlichen Staatsfeinden") besteht indessen keinerlei Anlaß. Tatsächlich bestand zu keinem Zeitpunkt die realistische Gefahr eines "Staatsstreiches". Doch schien der Anlaß willkommen, die aufgekeimte bürgerrechtsorientierte Praxis neuer sozialer Bewegungen jenseits des Parteienstaates unter soziale Kontrolle zu bringen, da diesbezüglich von einer breiten "Unterstützerszene" ausgegangen wurde, ohne die Gräben zwischen den terroristischen Pseudorevolutionären und diesen nicht lediglich "linken" Bewegungen näher zur Kenntnis zu nehmen. Die "RAF" hingegen fand für ihre pseudorevolutionären Phantasien niemals eine Massenbasis. Bereits die kognitiv depravierte Sprache ihrer Aufrufe und Rechtfertigungen sprach für eine zunehmend autistisch werdende Gruppenbildung im Untergrund, die ihrer auch sozialen Isolation innerhalb der Bevölkerung entsprach. Wie eine Bevölkerung jahrzehntelangen Terror mit entsprechenden Opfern empfindet, zeigt die Reaktion eines großen Teiles der "Massenbasis" des Baskenlandes gegen die ETA., die ungeachtet dessen weiter mordet, im Dienste vermeintlich hehrer "Ziele", die die Grenze zum Wahn verwischen. Tatsächlich aber wurde Mitte der 70er Jahre eine fundamentale Angst gegen militante Usurpation von "links" empfunden, die zu deutlichen symbolischen Aktionen maßgeblicher staatlicher Stellen geführt hat, um der Bevölkerung gegen dieses Häuflein von Autisten die Stärke eines wehrhaften Staates zu vermitteln, was nicht zuletzt mit Hilfe einschlägig bekannter Marktführer im Pressewesen auch deutlich gelang, jedoch ohne die Hintergründe des Terrorismus transparent zu machen. Unter derartigen Bedingungen wurde der symbolisch agierende Staat wieder in erster Linie zum strafenden Staat, der mit den Mitteln des Strafrechts sozialer Fehlsteuerung entgegenwirken wollte.

Wer "linke" Terroristen verteidigte, geriet seinerzeit ohnehin automatisch unter Komplizenverdacht. Möglicherweise ein "Nachleben" des germanistischen Recht des "Thing", wo der Vertreter mit der Sache des Vertretenen identifiziert wurde, selbst wenn er sich dessen Sache ausdrücklich nicht zu eigen machte. Eine Razzia jagte die nächste. Ausgedehnte Straßensperren und Personenkontrollen beim Grenzübertritt waren eher die Regel als die Ausnahme. Der zweite Band knüpft nahtlos an den Inhalt des ersten an und schildert die Aktion gegen den Rechtsanwalt Wolf Dieter Reinhard, der eine anarchistische Kommune verteidigte, von einem "Kronzeugen" denunziert wurde und schließlich der Begehung einer Straftat nach § 129 StGB (Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) beschuldigt wurde. Diese Kommune wurde des "Feme-Mordes" an dem Studenten Ulrich Schmücker im Juni 1974 verdächtigt. Ein berühmter Fall, der nie aufgeklärt wurde. Hannover schildert plastisch in welchen Sog von Verfahren der betreffende Rechtsanwalt verstrickt wurde. Tatsächlich sind Erfindungen von Kronzeugen zu ihrem eigenen Vorteil nichts Seltenes, was wohl auch einer der Gründe dafür war, die zum 31.12.1999 ausgelaufene Kronzeugenregelung vorerst nicht zu verlängern. Dem ersten Haftprüfungstermin beim BGH hielten die angebotenen Beweise nicht stand. Der vom Generalbundesanwalt angerufene Strafsenat sah es dann anders.

Eine derartige Situation stürzt jeden Strafverteidigter in ein Dilemma, das Hannover schonungslos offen legt: Darf ein Strafverteidiger, um sich selbst zu verteidigen, seine Verpflichtung zur Berufsverschwiegenheit brechen? Er darf, aber Hannovers Mandant machte davon keinen Gebrauch und schwieg, was zweifellos zulässig, aber nicht gerade günstig für die eigene Verteidigungsstrategie ist. In dieser Situation bleibt nur die Strategie, die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen zu erschüttern, zumal der verantwortliche Staatsanwalt in diesem Verfahren keine rühmliche Rollte spielte. Entsprechend süffisant ist die Darstellung Hannovers. Die Spekulation, ob ein Strafverteidiger ausgeschaltet werden sollte, der seinen Mandanten zur Aussageverweigerung geraten hatte, kann zwar von Hannover nicht wirklich erhärtet werden, ist aber nicht auszuschließen, sondern eine plausible Spekulation. Der BGH erkannte endlich nach Jahren auf Freispruch und festigte die Rechte der Verteidigung erneut. Hannover kommt zu folgender Schlußfolgerung: "Das alles war nichts Neues, sondern Substanz eines uralten rechtsstaatlichen Prinzips. Verhängnisvoll für die Betroffenen, daß es in Vergessenheit geraten konnte, als die Wellen der Empörung gegen angebliche Staatsfeinde hochschlugen und der aufgeputschten Volksseele ein Opfer präsentiert werden mußte. Für künftige Zeiten der Unruhe verdient es Aufmerksamkeit, daß deutsche Behörden, deren Aufgabe der Schutz des Rechts ist, noch immer mit Husarenbravour vorzugehen pflegen, wenn das Recht einer hysterischen Massenstimmung geopfert wird" (S.23). Die alten Fragen können allerdings nunmehr neu gestellt werden, da die "akustische Wohnraumüberwachung" unter bestimmten Umständen auch Strafverteidiger betreffen kann und sich die Frage stellt, ob die Wahrnehmung der Verteidigerrechte ein absolutes Beweisverwertungsverbot rechtfertigt (s. zur Kritik insgesamt jetzt, Roggan, F., Auf legalem Weg in einen Polizeistaat. Entwicklung des Rechts der inneren Sicherheit, 2000). Hannover wäre nicht Hannover, würde er diese Frage nicht wenigstens anschneiden, über die das BVerfG nach der Verfassungsbeschwerde einiger (teils ehemaliger) FDP-Abgeordneter und weiterer Beschwerdeführer zu entscheiden hat.


II.


Strafverteidigung ist daher immer der Versuch der Widerlegung der Geschichte der Anklage. Sie wurde wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen in Mittäterschaft erhoben und stand und fiel mit der Aussage des überlebenden Polizisten, der erschossene Wageninsasse hätte zuerst geschossen.

Der Prozeß gegen den schwerverletzten Angeklagten fand in einer durch die Vorphase des "heißen Herbstes '77" aufgeheizten Atmosphäre statt, die durch eine ungeschickte Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters noch verstärkt wurde, der die Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen ablehnte, um die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit zu prüfen, die die Verteidigung geltend gemacht hatte. Die Schilderung von Hannover ist ein Lehrstück, wie eine fragwürdige Polizeiversion trotz beschränkter Aussagegenehmigungen "dekonstruiert" werden kann. So konnte anhand von Pressefotos des Tatortes - ein Fotoreporter hatte den Polizeifunk abgehört und war schnell zur Stelle - nachgewiesen werden, daß Roth nicht geschossen hatte oder zur Pistole gegriffen haben konnte, da sie noch beim Abtransport in ein Krankenhaus in seinem Hosenbund steckte und keine Kugel fehlte. Die in die Darstellung eingebundenen Fotos machen die Argumentation plastisch. Das Verhalten des Vorsitzenden Richters war schikanös und gipfelte im "zivilen Ungehorsam" Hannovers, der nicht mehr aufstand, wenn das Gericht erschien: "Vor einem Gericht, das Verteidiger wie potentielle Verbrecher behandelt, stehe ich nicht auf". Dr. Draber, der Vorsitzende Richter, schied später aus der Verhandlung aus, weil er eine anstößige Arbeit zu gruppendynamischen Vorgängen in Strafprozessen veröffentlicht hatte, den er - auch soziologisch fragwürdig - als "sozialen Ausstoßungsmechanismus" bezeichnet hatte, nachdem er sich nach entsprechendem Antrag eines Verteidigers selbst für befangen erklärt hatte. Das Verfahren endete mit einem Freispruch von der Mordanklage, wurde aber belastet durch die Ermordung des Generalbundesanwaltes Buback im Herbst 1977, für den Hannover faire und respektvolle Worte findet, trotz aller Differenzen in der Sache. Das Kapitel über die Ermordung Bubacks und deren Folgen gehören sicher zu den zahlreichen Höhepunkten dieses überaus lesenswerten Bandes, der allerdings an manchen Stellen zu Widerspruch geradezu herausfordert.

III.


Wer über den heißen Herbst des Jahres 1977 spricht, muß notwendigerweise auf "Mescalero" zu sprechen kommen, eines der interessantesten Kapitel der politischen Rechtsgeschichte dieser Republik. "Mescalero", dessen wahre Identität nie aufgedeckt wurde, hatte nach dem mörderischen Attentat auf Generalbundesanwalt Buback und seine beiden Begleiter, eine in Göttingen veröffentlichte Erklärung verfaßt, die am 25.04.1977 unter dem Titel "Buback-Nachruf" in zahlreichen Exemplaren verbreitet wurde. Der Strafanzeige des RCDS folgte eine Hysteriewelle, die ihresgleichen suchte und in einer Intellektuellenhatz endete, die das politische Klima vergiftet hat. Eine Erklärung von 140 Hochschullehrern aus dem linksliberalen Bereich formulierte eine deutliche Absage an die Praktiken und die Ideologie des Terrorismus. Tatsächlich sprach - wie fast allgemein üblich - alles über diese Erklärung, aber kaum jemand kannte den Text. Ein Phänomen, das in öffentlichen Debatten auch heute noch gang und gäbe ist, in denen Mythologisierung und Aufklärung in einem endlos verwobenen Diskurs um "Rationalisierung" und "Gegenrationalisierung" kämpfen. Unter solchen Umständen verspricht in der liberalen Tradition der Aufklärung Publikation vielleicht eine Rationalisierung der Diskussion, ungeachtet aller Dialektik der Aufklärung, die allerdings nur durch Aufklärung zu durchbrechen ist. Sie wurde von 48 Hochschullehrern in einem Sammelband vorgenommen, der sich dieser Thematik sachbezogen annahm. Die staatliche Reaktion ließ unter diesen Bedingungen - nicht zuletzt unter dem Druck interessierter Medien - nicht auf sich warten und bestand in einer Anklage wegen öffentlicher Billigung von Straftaten. Ein Randgang entlang der Reichweite der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, der im Ergebnis diesmal zugunsten der Liberalität verlief.

Dieser "Mescalero-Text" spielt, wie Hannover treffend schreibt, mit einer "Primitivierung der Sprache", die bei näherer Lektüre bewußt gewählt zu sein scheint. Die Formulierungen stoßen ohne Zweifel ab. Der Text klingt auch nach 25 Jahren noch so, als wollte sich der Verfasser vor philologischen Nachforschungen "verstecken" und seine Identität verschleiern. Nichtsdestoweniger reflektiert der Text die Eskalation der Gewaltspirale durchaus kritisch, auch zur Durchsetzung politischer Ziele durch den Einsatz von Gewalt gegen Menschen. Die Schlußpassage enthält eine recht eindeutige Absage an derartige Strategien der Gewalt, die aber in ihrer Quintessenz durchaus eine gewisse Ambivalenz aufweist, sie sei wörtlich zitiert: "Unsere Waffen sind nicht lediglich Nachahmungen der militärischen, sondern solche, die sie nicht aus der Hand schießen können. Unsere Stärke braucht deswegen nicht in einer Phrase zu liegen (wie die der >Solidarität<). Unsere Gewalt endlich kann nicht die der Al Capones sein, eine Kopie des offenen Straßenterrors und des täglichen Terrors; nicht autoritär, sondern antiautoritär und deswegen um so wirksamer. Um der Machtfrage willen (o Gott!) dürfen Linke keine Killer sein, keine Brutalos, keine Vergewaltiger, aber auch sicher keine Heiligen, keine Unschuldslämmer. Einen Begriff und eine Praxis zu entfalten von Gewalt/Militanz, die fröhlich sind und die den Segen der beteiligten Massen haben, das ist (zum praktischen Ende gewendet) unsere Tagesaufgabe. Damit die Linken, die so handeln, nicht die gleichen Killervisagen wie die Bubacks kriegen. Ein bißchen klobig, wie? Aber ehrlich gemeint... Ein Göttinger Mescalero" (zitiert nach Hannover, 1999, S. 92 f). Alle Träume, zum Alptraum geworden, von einer "befreienden" Revolution zu einer Aufhebung der Bürgerlichkeit in einem sozialistischen Reich der Freiheit jenseits der Geschichte sind inzwischen ausgeträumt, von einer Realität eingeholt, die der Praxis eines rigiden Kollektivismus einen befreienden Individualismus pragmatischen Zuschnitts entgegenhalten muß, jenseits eines dionysischen Tanzes auf dem Grab der Geschichte vor dem Hintergrund einer fragwürdigen Begrifflichkeit von "antiautoritärer Gewalt", die nur in der "Gewalt" des Wortes liegen könnte. Trotz eindeutiger Absage an die von der RAF praktizierten Formen von Gewalt, wurde der Text zum Fanal, stigmatisiert zu einem hermetischen Text, der im Verborgenen, nur Eingeweihten zugänglich gemacht werden durfte, um der Bevölkerung eine Lektüre zu ersparen, vor der sie fürsorgend auf staatlichen Wunsch verschont werden sollte.

Statt Rationalisierung war Mythologisierung die natürliche Folge. Es wurden mehrere Strafverfahren eingeleitet, u.a. gegen den 1982 früh verstorbenen Sozialpsychologen Peter Brückner, der vielfach der Autorenschaft bezichtigt worden war, ohne daß dafür je irgendwelche nachprüfbaren Anhaltspunkte vorgewiesen werden konnten. In den Verfahren konnte angesichts der Struktur der mündlichen Hauptverhandlung eine Analyse des Textes nicht ausbleiben und führte in der Regel zur Einstellung des Verfahrens, da der Text in der Verhandlung als Beweismittel verlesen werden mußte. Anders im Fall Brückner, gegen den in Oldenburg verhandelt wurde und den Hannover dort vertrat. Ein Foto zeigt Hannover anläßlich der Verteidigung im Gerichtssaal mit dem heutigen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der seinerzeit einen Mitangeklagten vertrat. Unabhängig von den disziplinarischen Folgen, die noch Jahre, bis kurz vor dem Tode des Angeklagten, andauern sollten, war die Verteidigung erfolgreich: Freispruch! Ein Sieg für Meinungsfreiheit und Demokratie.


IV.


Die justizielle Bewältigung des Terrorismus-Problems zieht sich wie ein roter Faden durch die erste Hälfte des Buches. Wer in Strafsachen verteidigt, sollte im Gerichtsaal wissen, was er wann zu wem sagt. Unbedachte "Schnellschüsse" bei der Wortwahl zogen zumindest in den einschlägigen Verfahren der Phase um "1977" Strafanzeigen anderer Verfahrensbeteiligter nach sich, zumal in Deutschland oftmals die Tendenz besteht, gesellschaftliche Konflikte vornehmlich mit Mitteln des Strafrechts lösen zu wollen, das wieder als probates Mittel symbolischer Konfliktlösung entdeckt worden ist, nachdem die Phase der "Liberalisierung" des Strafrechts umfassen Präventionskonzepten nach und nach weicht, die das Strafrecht einbinden in staatliche Vorsorge vor Risiken der "inneren Sicherheit".

Otto Schily ist heute ein auch von der politischen Opposition weitgehend geschätzter Bundesinnenminister, den selbst böswillige Zungen kaum linkssozialistischer Umtriebe mit der ausgebliebenen Revolution mehr bezichtigen können. Als Verteidiger von Gudrun Ensslin in Stammheim wehte ihm seinerzeit ein anderer Wind ins Gesicht, ebenso wie allen anderen betroffenen Verteidigern der Stempel des "mißvergnügten" Terroristenanwaltes aufgedrückt wurde. Die Stammheim-Prozesse hatten über die strafprozessualen Regeln hinaus ihre festen sozialen Regeln ausgebildet: Scharfen "Attacken" der Staatsanwaltschaft folgten ebensolche der Verteidigung und umgekehrt. In der Hitze des Gefechtes und bei einem aufgeheizten Prozeßklima fallen dann schon einmal harte Worte. Im Stammheim-Verfahren gegen Baader, Ensslin und Raspe spielte die Frage eine Rolle, ob die festnehmenden Polizeidienstkräfte mit völkerrechtlich verbotener Dum-Dum-Munition auf Andreas Baader geschossen und ihn entsprechend am Oberschenkel verwundet hatte. Es geht dabei entscheidend um § 113 Abs.2 StGB. Ist die Diensthandlung nicht rechtmäßig, ist der Widerstand nicht strafbar. In diesem Zusammenhang sollte ein Beweisantrag des 1995 durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Darmstädter Strafverteidigers Dr. Hans Heinz Heldmann entsprechende Klärung erbringen. Der Beweisantrag wurde abgelehnt. Beweisanträge sind die wirkungsvollste Strategie der Verteidigung in der mündlichen Hauptverhandlung, auch mit Blick auf eine Revision. Das Stammheim-Verfahren (für das zahlreiche Gesetze eigens geändert wurden) brachte auch in dieser Hinsicht eine Neuerung: den Beweisantrag mit beleidigendem Inhalt. Hannover weist den in Strafsachen unerfahrenen Leser übrigens darauf hin, Beweisanträge nie in Frageform zu kleiden, da sie sonst als Beweisermittlungsanträge leicht abgelehnt werden können und entsprechend folgenlos bleiben. In dieser Hinsicht enthält auch dieser Band zahlreiche "Praktikertips". Straf- und Ehrengerichtsverfahren gegen die Betroffenen Rechtsanwälte waren die Folgen. Anklage wurde gegen die beiden Strafverteidiger wegen Verleumdung und Beleidigung erhoben. Da die Anzeige von Polizeidienstkräften stammte, wurde ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nach § 376 StPO wie selbstverständlich bejaht. Hannover hat Schily in dieser Sache, erst in letzter Instanz nach Zurückverweisung, erfolgreich verteidigt. Selbstredend kann der Antragsteller eines Beweisantrages auch versuchen, Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er lediglich für möglich hält, da alle denkbaren Tatsachen zugunsten des Angeklagten in Erwägung gezogen werden müssen. Auf Ehrenschutz kann es insoweit nach richtiger und überwiegender Auffassung nicht ankommen. Die Sache zog sich über fünf Instanzen (drei Tatsacheninstanzen; zwei Revisionen) und endete erst mit zweifelhafter Begründung, nachdem auch die zweite Revision der Staatsanwaltschaft nach Rückverweisung zu keinem Prozeßerfolg führte. Hannover mutmaßt, daß nicht zuletzt dieser Prozeß Schily bewogen hat, eine zweite Karriere in der Politik zunächst bei den "Grünen" und später bei der SPD einzuschlagen, deren Verlauf bekannt ist und andauert.


V.


Für erhebliches internationales Aufsehen sorgte der Frankfurter Strafprozeß gegen Astrid Proll. 1974 wegen schwerer Erkrankung aus der U-Haft in Köln-Preungesheim entlassen, setzte sie sich wenig später nach England ab, ohne den Kontakt mit der RAF je wieder aufzunehmen und arbeitete dort unauffällig als Automechanikerin. Verfahren gegen ehemalige vermeintliche oder tatsächliche Terroristen spielen angesichts nicht eingetretener Verjährung auch noch nach langen Jahren eine Rolle, wie der bald anlaufende Prozeß gegen Klein ("Bewegung 2. Juni") in Frankfurt zeigt. Da Astrid Proll nach englischem Recht nur ausgeliefert werden konnte, wenn der ersuchende Staat ein beschworenes Zeugenprotokoll vorlegen konnte, wurde dies durch den Schwur eines "Kronzeugen" erreicht, der selbst wegen der betreffenden Tat abgeurteilt worden war, was nach deutschem Recht nicht zulässig ist, § 61 Zif. 2 StPO, aber vom BGH als "fahrlässiger" Verstoß in zweifelhafter Weise unbeanstandet blieb. Nichtsdestoweniger fand der Prozeß in einer sachlichen Atmosphäre statt. Im Kern ging die Anklage auf zweifachen Mordversuches während eines (gescheiterten) Festnahmeversuchs, dessen Umstände im geheimdienstlichen "Graubereich" verblieben. Jedenfalls war Gegenstand der Anklage, daß Astrid Proll mehrfach auf diese Einsatzkräfte geschossen haben sollte, obwohl diesbezügliche Projektile nicht gefunden wurden. Die Wahrheitsfindung in derartigen Verfahren ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil sie durch Aussagebeschränkungen der zuständigen Behördenleiter regelmässig erschwert werden - aus "Staatsräson". Aussagebeschränkungen sind ein merkwürdiges Privileg. Ein Relikt aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten, kaum mehr in unsere Zeit passend, aber nichtsdestotrotz geltendes Recht. Tatsächlich konnte der Tathergang nur aufgeklärt werden aufgrund der Aussagegenehmigung des seinerzeitigen liberalen Bundesinnenministers Gerhard Baum. Es ergab sich, das die Angeklagte gar keine Waffe bei sich trug und es sich um Schutzbehauptungen handelte, um den Mißerfolg einer Aktion zu vertuschen, bei der die betreffenden Beamten durch ihr vorschnelles Handeln eine erfolgversprechende "Groß-Razzia" vereitelt hatten.

Vermutlich von diesem Verfahren positiv beeindruckt übernahm Heinrich Hannover die Verteidigung von Peter-Jürgen Boock. Es war das einzige Mal, daß Hannover in Stammheim verteidigt hat und auch dies angesichts einschlägiger Erfahrungen im Vorfeld solcher "Großverfahren" nur zögernd. Nicht zuletzt wegen tiefgreifender Zerwürfnisse über das Konzept der Stadtguerilla, das ein Pazifist nicht teilen können sollte: "Ich wußte von dem furchtbaren Prozeßklima, von den Verdächtigungen und Beschimpfungen, den entwürdigenden Durchsuchungen, denen die Verteidiger ausgesetzt waren. Ich hatte auch die existenzgefährdende finanzielle Belastung durch derartige Großprozesse kennengelernt und kannte die rücksichtslose Terminplanung autoritärer und anwaltsfeindlicher Vorsitzender, die den Verteidigern einen zeitlichen Einsatz abfordert, neben dem jede anwaltliche Tätigkeit für andere Mandanten zum Erliegen kommt. Auch die öffentliche Diskriminierung als >Terroristenverteidiger< und deren Folgen im privaten und im beruflichen Bereich hatte ich zur Genüge kennengelernt. Es war vorauszusehen, daß eine Verteidigung in Stammheim alle bisherigen Belastungen noch übertreffen würde, zumal ich aus meinen Erfahrungen mit Ulrike Meinhof wußte, daß auch von seiten der Angeklagten Zumutungen und Anfeindungen zu erwarten waren, denen ich mich nicht aussetzen wollte" (S. 177 f). Es ist bedauerlich, wenn auch verständlich, daß Heinrich Hannover nicht erläutert, unter welchen "falschen Voraussetzungen" er dieses Mandat übernommen hat. Immerhin macht er Andeutungen, die auf die Möglichkeit einer Entkrampfung des vergifteten Klimas deuten, bei der allerdings kein Anlaß besteht, die der RAF zugeschriebenen Straftaten zu "verniedlichen", was Hannover auch nicht vorzuwerfen ist. Auch eine "Jetzt-erst-Recht-Reaktion" liegt nahe, die Hannover allerdings an den Rand der finanziellen und existenziellen Gefährdung gebracht hat. Annahmen, die sich nach dem Regierungswechsel von 1982 als trügerisch erwiesen. Zwar wurde von Boock, der sich von der RAF losgesagt hatte, seitens der Behörden wohl erwartet, er würde als "Kronzeuge" fungieren. Jedoch hat der Angeklagte dieser Erwartung in keiner Weise entsprochen. Das "Klima" wandelte sich damit in einer für den Angeklagten sehr ungünstigen Weise, die die Erfolgsaussichten auch einer äußerst qualifizierten Verteidigung negativ beeinträchtigte. Die Schlußfolgerungen von Hannover sind auch überaus zwiespältig: "Daß auch Schuldige einen Anspruch auf einen fairen Prozeß haben, gerät immer wieder in Vergessenheit. Vor allem dann, wenn das schließlich ergangene Urteil in der Sache richtig zu sein scheint. Und so ist es um das Verfahren gegen den RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock still geworden, nachdem dieser eingestanden hat, daß er seine Beteiligung an den mit mehreren Morden verbundenen Anschlägen gegen Jürgen Ponto und Hanns-Martin Schleyer wahrheitswidrig bagatellisiert hatte. Es ist für mich nicht leicht, einen Fall darzustellen, ohne die Grenzen zu überschreiten, die mir als einem seiner Verteidiger durch fortwirkende anwaltliche Pflichtbindungen gezogen sind" (S.180; näheres in, KJ 1985, 396). Zwar wurde der Angeklagte im ersten Rechtszug zu dreimal Lebenslang und 15 Jahren Freiheitsentziehung verurteilt, doch wurde diese Entscheidung nach erfolgreicher Revision in einmal Lebenslang umgewandelt, der Angeklagte jedoch nach 17 Jahren Haft 1998 auf Bewährung entlassen. In keinem anderen der geschilderten Fälle äußert sich Hannover derart zurückhaltend, wie in diesem. Aber selbst, wenn er erläutert hätte, warum er das Mandat nicht niedergelegt hat, hätte er die von ihm beschriebenen Grenzen überschritten.

Die Vermutung ist nicht abwegig, daß die Erfahrungen mit diesem Prozeß Heinrich Hannover dazu veranlaßt haben könnten, sich von derartigen Verfahren in der Folge weitgehend zurückzuziehen, auch angesichts der Überwachung des Privat- und Berufslebens, der "Terroristenverteidiger" nahezu zwangsläufig ausgesetzt waren. Hannover berichtet darüber in einem anderen Kapitel des Bandes. Seither traut er auch seinen Wänden nicht mehr (S. 238). Wenigstens in einem Falle wurde er zuverlässig von einer Abhöraktion unterrichtet, die 1982 stattfand, wenn auch erst knapp vor dem Regierungswechsel 1982. Die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit hatte in allen Instanzen Erfolg, konnte aber das Ausmaß mangels Offenlegung des Informanten und der Informationen nicht mehr klären. Seit Fazit ist bitter, aber verständlich: "So war es also um die Vertraulichkeit anwaltlicher Arbeit und den Respekt vor Grundrechten unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung bestellt, schon bevor die konservativen Parteien, den >großen Lauschangriff< aus der Taufe gehoben haben. Nach meinen Erfahrungen mit staatlichen Überwachungsaktionen habe ich diese mit irreführenden Volksverdummungsparolen popularisierten Bemühungen, auch noch das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung abzuschaffen, mit großem Unbehagen verfolgt" (S.241).


VI.


Die vielleicht interessantesten Kapitel des Buches sind der Bewältigung der NS-Vergangenheit gewidmet, für die es einen Schlußstrich nicht geben kann, solange es Menschen gibt, die in der Lage sind, sich zu erinnern. Wer dieser Erinnerung sich verweigert, muß es sich gefallen lassen, erinnert zu werden. Der Fall von Richard Gehrke ist ein Trauerspiel des Wiedergutmachungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland - wie die Entschädigungsversagungen gegenüber Zwangsarbeitern und andern Opfern des imperialen Expansionswahns dieser menschenverachtenden Diktatur zeigen, leider kein Einzelfall. Ohne den Grund je erfahren zu haben, kam Gehrke 1940 mit 17 Jahren (sein weit älterer Bruder soll der KPD nahegestanden haben; sein jüngerer Bruder fiel im Krieg, da er durch freiwillige Meldung dem KZ entgehen wollte), in das KZ Moringen, in dem er fünf Jahre bis zur Befreiung überlebt hat, mit lebenslangen Schäden: "Ein Szenario des Terrors, das viele Menschen, die es erdulden mußten, in immer wiederkehrenden Alpträumen bis ins hohe Alter und bis in den Todeskampf verfolgt hat" (S.242). Sein "Pech" bestand darin, daß alle bis zum 01.04.1958 gestellten, später bis 1969 verlängerten Fristen für die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen verstrichen waren, als die Geltendmachung erfolgte, da das KZ Moringen (in Deutschland bedürfen sogar KZ's der behördlichen Anerkennung, die Lektüre ist auch insoweit lehrreich) erst Jahre später als solches anerkannt wurde und Gehrke die Nachfrist übersehen hatte. Wie Hannover treffend schreibt, lesen KZ-Opfer nicht regelmäßig das Bundesgesetzblatt, zumal die Lektüre bei Antragstellung vor 1958 auch keinen Sinn mehr hatte. Es spricht für den Betroffenen, daß er dennoch versuchte, seine Ansprüche durchzusetzen, wenn auch - trotz Hannover - ohne jeden Erfolg. Ein Fall von legislativem Unrecht - wie Hannover ihn annahm - lag hier tatsächlich nahe, wurde aber erst europarechtlich durchgesetzt, im Falle der Nichtumsetzung von EG-Richtlinien unter bestimmten Voraussetzungen. Das deutsche Recht sieht bis heute - mangels Drittbezogenheit - keine Möglichkeit der Staatshaftung für legislatives Unrecht vor (Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, 2000, § 9, Rdnr. 152). Es mag zynisch klingen, aber Hannover schreibt treffend, daß die Pensionsberechtigung der Peiniger wohl kaum an derartigen Formalien gescheitert ist, wo doch viele hohe, ehemalige, Nationalsozialisten in der Adenauer-Ära wieder bis in höchste Positionen gelangt sind. Der Gesetzgeber sah nie eine Veranlassung, einzuschreiten. Heute ist es fast zu spät, so daß derartige Regulationen fast peinlich wirken, als Feigenblatt zum Schutze vor nie eingestandener Verantwortung. Es gibt Fälle, wo auch der beste Anwalt mit seinem Vorbringen nicht durchdringt und scheitert. Gegen das Verstreichen von Fristen anzugehen, ist selten von Erfolg gekrönt.

Hannover vertrat auch die Nebenklage im Falle Thälmann, des am 18.08.1944 ermordeten letzten Vorsitzenden der KPD in der Vorkriegszeit, deren Abgeordnete nach dem Reichstagsbrand aus willkommenen Anlaß in "schwere Haft" genommen wurden: "Der Mord an Ernst Thälmann gehört zu den unzähligen Nazi-Verbrechen, die vor bundesdeutschen Gerichten keine Sühne gefunden haben" (S. 254). Bereits 1962 hatte der Ostberliner Rechtsanwelt Friedrich Karl Kaul (zu ihm: http://www.rewi.hu-berlin.de/FHI/98_08/roskp.htm) gegen zwei noch lebende Mittäter Strafanzeige erstattet, die aber im Sande verlief, wohl nicht zuletzt, weil der seinerzeit bearbeitende StA Ankläger beim Sondergericht Stettin gewesen war. Nazis fanden sich zuhauf in der Justiz des Nachkriegsdeutschland (näher jetzt, Rasehorn, ZRP 2000, 127 m.w.N.). Nachdem RA Kaul 1982 im Alter von 75 Jahren verstorben war, wurde Hannover mit der Wahrnehmung des Mandates im Klageezwingungsverfahren von der Tochter des Opfers betraut. Daß beigefügte Foto vom "Rotfrontkämpfertag 1927", das Thälmann und Genossen in besagter Uniform zeigt, dürfte heute - nach der Erfahrung zweier verschiedener Totalitarismen und ihrer durchaus unterschiedlichen Ausprägungen - eher abstoßend wirken. So verbrecherisch der Mord und seine Vorgeschichte an Ernst Thälmann ohne jeden Zweifel war, können demokratische Defizite der KPD in der Weimarer Republik nicht verschwiegen werden, was die Anstrengungen des oft unter großen Opfern agierenden kommunistischen Widerstands gegen Hitlers aber nicht schmälern kann (s. Barbara Beuys, Vergeßt uns nicht. Menschen im Widerstand, 1987). Der mitgeteilte Zeugenbericht eines Mannes, der die "Reste" der Opfer aus dem Krematorium zu beseitigen hatte, ist zu erschütternd, um auch nur annährend wiedergegeben werden zu können. Ein Foto zeigt Hannover bei einer Ortsbesichtigung in Buchenwald, das ihn mit abgekehrtem Gesicht vom Augenscheinsobjekt zeigt. Wer Dachau besucht hat, wird als Demokrat und Mensch wohl ähnlichen Ekel empfunden haben. Nach der weitgehend erfolgreich verlaufenden Hauptverhandlung vor dem LG Krefeld wurde das Verfahren jedoch nach Revision zum OLG Düsselorf vor dem LG Düsseldorf neu eröffnet, das mit einem unerklärlichen Freispruch des Angeklagten Otto endet, der ja nur seine Pflicht erfüllt hatte, und von dem Hannover folgendes sagt: "Es hängt mit meiner grundsätzlichen Einstellung zum Strafverfahren zusammen, daß ich zwar den Schuldspruch gegen Wolfgang Otto gewünscht, seine Begnadigung aber befürwortet hätte, wenn nicht ohnehin Alter und Krankheit eine Haftunfähigkeit begründet hätten. Für Herrn Otto hätte der Schuldspruch ohnehin nur noch symbolische Bedeutung gehabt. Für das kollektive Rechtsbewußtsein aber, das von der mit Naziverbrechen befaßten deutschen Justiz seit Jahrzehnten mit Füßen getreten wurde, wäre ein Schuldspruch so etwas wie eine Wiedergutmachung in eigener Sache gewesen, ein Lichtblick, der es erlaubt hätte, dieses traurige Kapitel deutscher Justiztgeschichte wenigstens halbwegs versöhnlich abzuschließen" (S. 277). Unterdessen ist es immer noch nicht abgeschlossen, wie die (erfolglosen) Klagen von ehemaligen Zwangsarbeitern zeigen, die jetzt, 55 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, "entschädigt" werden sollen, mit welchen Brosamen auch immer. Es ist bezeichnend, daß die Stasi einen weiteren Verdächtigen, Erich Gust, der ein Prominententenlokal in Ostbverlin führte, geschützt hat, obwohl sie zur weiteren Aufklärung hätte beitragen können. Hannover beschönigt in seinen beiden Bänden manche Entwicklungen im ehemaligen Nachbarstaat, ist aber hier übnerzeugend konsequent: "Eine der vielen Enttäuschungen, die man als Sozialist mit der DDR erlebt hat" und weiter auf die Frage, warum Thälmann während der kurzen Dauer des Hitler-Stalin-Paktes nicht ausgetauscht worden ist: "Nicht nur Hitler scheint nicht daran interessiert gewesen zu sein, Thälmann nicht überleben zu lassen" (S. 278). In der Tat hat so gut wie kein deutscher Kommunist das "Hotel Moskau" unter Stalin überlebt. Derartige Passagen kritischer Reflektion gegenüber der Sowjetunion und dem verblichenen "Arbeiter- und Bauern-Unrechtsstaat" hätte man sich mehr gewünscht. Ein Mandat eines Opfers der Stasi-Herrschaft scheint Hannover hingegen nicht bearbeitet zu habem, da derartige Fragen in seinem Buch keine Rolle spielen.


VII.


Allerdings boten die beiden Kapitel über "Hans Modrow und die Fälschung der Kommunalwahlen in der DDR vom Mai 1989" und "Deutsch-deutscher Landesverrat und zweierlei Recht" Gelegenheit zur Aufarbeitung auch jenes Teiles der deutschen Vergangenheit, der von "realsozialistischen" Dogmen geprägt wurde und in einer staatlich organisierten Gefängniskultur endete, in der unterging, wem das Haupt vom Dogmenbeil gespalten wurde, um der Bewahrung einer "reinen Wahrheit" willen, die allein durch die - im übrigen nachhaltig verfälschten und in sich selbst fragwürdigen Lehren - von "Histomat" ("Historischer Materialismus") und "Diamat" ("Dialektischer Materialismus") verbürgt wurde. Selbstredend hat Hannover Recht, daß sich in den 50er Jahren zweimal die Gelegenheit zur Wiedervereinigung bot, die allerdings Neutralität (wie etwa im Falle Österreichs) vorausgesetzt hätte. Eine Chance, deren Realisierung angesichts der Westbindung der Bundesrepublik Deutschland schon aus außenpolitischen Rücksichten damals unrealistisch war, zumal die Folgen kaum zu kalkulieren waren und die Bundesrepublik Deutschland ihre volle Souveränität erst 1990 wiedergewonnen hat. Die Möglichkeit, doch in den stalinistisch geprägten Einflußbereich zu gelangen, dürfte überdies der Idee von einem "neutralen", wiedervereinigten Deutschand viel von ihrem Reiz genommen haben.

Der Realismus, den Hannover für die Einschätzung der DDR-Strukturen in jener Zeit einfordert, ist daher umgekehrt nicht weniger zu beachten. Beide deutsche Staaten waren Gefangene ihrer selbst zu verantwortenden Geschichte. Nichtsdestoweniger vertritt Hannover einen Ansatz, der Differenzierung einfordert, den er aber selbst nur ansatzweise einlöst: "Wer heute über die DDR, ihre geistige Unfreiheit, ihre politische Justiz, ihr Überwachungssystem, ihre Wahlfälschungen und ihr Grenzregime klagt und Gesetze sucht (und findet), um die Verantwortlichen ins Gefängnis zu schicken, sollte sich schon ein bißchen über den westdeutschen Beitrag zum kalten Krieg und über die historischen Tatsachen informieren, die die jetzt für schuldig Erklärten vorgefunden haben. Nicht eine revolutionäre Bewegung einer von der kapitalistischen Herrschaft unterdrückten und ausgebeuteten Klasse, sondern die Dekrete einer Militärregierung standen am Anfang dieses auch für die Sowjetregierung unfreiwilligen Versuchs aus dem östlichen Teil eines Landes, dessen Bevölkerungsmehrheiten bis zum bitteren Ende an ihren >Führer< geglaubt hatte, eine Bastion des realsozialistischen Systems zu machen. Und das auf der Basis einer kommunistischen Minderheit, den Resten einer Partei, deren beste Köpfe von Hitlers und Stalins Schergen umgebracht worden waren. Das konnte nur mit Wahltricks und Staatsgewalt funktionieren, aber keinen Sozialismus hervorbringen, wie ihn einst die Arbeiterbewegung erträumt hatte. Auch Stalin mußte gewußt haben, daß >Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt< (Rosa Luxemburg). Wenn er eine Ahnung davon gehabt haben sollte, daß der Sozialismus, den Rosa Luxemburg gemeint hat, nichts mit dem zu tun hatte, was er und seine Gefolgsleute der Welt als Sozialismus präsentiert haben".

Ob indessen die Schlußfolgerung berechtigt ist, dieser Sozialismus hätte sich zu einem freiheitlichen Sozialismus entwickeln können, wenn die DDR sich hätte fortentwickeln können, ist eine rein hypothetische Frage (im Sinne von Max Webers Theorie der objektiven Möglichkeit), die angesichts der realen Entwicklung der DDR bis zum Scheitern des "realsozialistischen" Projektes durchaus als fragwürdig bezeichnet werden kann, haben doch gerade die Mitglieder des Politbüros diesen panoptischen Gefängnisstaat einer kollektiven Einschließung verwaltet und dabei durchaus auch gegen eigenes Recht verstoßen, dessen Befolgung allerdings unter den Verhältnissen des "real-existierenden Sozialismus" unrealistisch war und die "Pflicht" zum Widerstand auf der Basis des geltenden Rechts fragwürdig erscheinen läßt, zumal die oft gezogene Parallele zum "Behemoth" der Nationalsozialisten nicht in jeder Hinsicht statthaft ist. Nichtdestoweniger spielt aber auch bei der justiziellen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit die Frage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Nichtachtung unveräußerlicher Menschenrechte eine entscheidende Frage (so jetzt ausdrücklich, BGH, NJW 2000, 443, 450 f). Wenn auch selbstredend nicht in jenem Maße, wie vor dem völkerrechtlichen ad-hoc-Tribunal in Nürnberg 1946/47. Infolgedessen geht es auch nicht ausschließlich um die Alternative der Anwendung von Naturrecht (im Vollzug der sog. Radbruch-Formel, s. dazu Radbruch, G., Rechtsphilosophie. Studienausgabe, Anhang 3, 1999, S. 211 ff = SJZ 1946, S. 105 - 108) oder von im Vollzug der Wiedervereinigung aufgehobenem Recht der DDR (plastisch dargelegt von Wesel, U., Ein Staat vor Gericht, 1994, S.33 ff), sondern um die Modifikation des elementaren Ansatzes von Radbruch durch den Rückgriff auf inzwischen weitgehend positivierte Strukturen der Menschenrechte.

Hannover vertritt indessen erwartungsgemäß die These, daß die Bestrafung der Angeklagten nach dem aufgebobenen DDR-Strafrecht wegen des Grundsatzes nulla poene sine lege, der in Art. 103 Abs.2 GG niedergelegt ist, und des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes nicht möglich und Art. 315 EGStGB folglich verfassungswidrig ist. Die Rechtsentwicklung hat einen anderen Verlauf genommen und die Überleitung durch den Einigungsvertrag, der in § 315 EGStGB zum Ausdruck kommt, für verfassungskonform gehalten (Nachw. n BGH, NJW 2000, 443, 450; BVerfG, NJW 2000, 1480).

Der Vergleich der justiziellen Aufarbeitung der DDR durch die bundesdeutsche Justiz mit den Ketzerverfolgungen im Mittelalter, den Hannover vornimmt und mit einem rigiden Antikommunismus in Verbindung bringt, ist allerdings wenigstens einseitig, steigert sich aber noch durch die ausgesprochene Hoffnung, daß die als "Kriminelle" verurteilten Funktionäre der SED und ihre Schergen als gescheiterte Vorkämpfer einer gerechteren Gesellschaftsordnung (an deren Schaffung sie die aktive Möglichkeit der Mitwirkung ja durchaus im Rahmen gewisser Handlungsspielräume hatten) und einer friedlicheren Welt rehabilitiert würden (s. jetzt die teils autobiographische "Rechtfertigung" von Krenz, E., Herbst '89, 2000). Zu einer derart vorgezogenen "Heiligsprechung" besteht indessen kein Anlaß, auch wenn die Frage berechtigt ist, ob die Justiz der Bundesrepublik Deutschland dazu berufen war, eine solche Aufarbeitung vorzunehmen, nachdem eine völkerstrafrechtliche Aufarbeitung nicht realisiert werden konnte. Allerdings kommen in den beiden Kapiteln Merkwürdigkeiten zur Sprache, die durchaus Anlaß zur kritischen Reflexion geben.

Im Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt, die mit dem üblichen Ergebnis endeten, also gefälscht waren, wenigstens aber geschönt wurden, was Hannover auch in keiner Weise beschönigt, statt dessen aber den Blick auf die historischen Realitäten lenkt. Die Anklage stützte sich auf §§ 211 DDR-STGB und § 107 a StGB (Wahlfälschung). Es ging also um Tatbestände, die die elementare Vorgänge der Legitimationsbildung in einer Demokratie sichern und die in der DDR in Art. 21, 22 DDR-Verfassung v. 06.04.1968 i.d.F. des Gesetzes vom 07.10.1974 durchaus verbürgt war, ohne daß ein ausdrücklicher Rechtfertigungsgrund wie in § 27 Grenzgesetz zur Verfügung stand, der in den "Mauerschützenprozessen" eine tragende Rolle spielte, als Rechtfertigungsgrund aber verworfen wurde. Die DDR-Verfassung war indessen das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt war. Entgegen der Darstellung Hannovers findet sich mit § 211 Abs.1 DDR-StGB durchaus eine Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Verfolgung, die über Art. 9 des Einigungsvertrages und § 315 Abs.1 EGStGB durchaus zur Anwendung kommen konnte, sofern die Regelung nicht wegen des Rückwirkungsverbots verfassungswidrig war, was das BVerfG mehrfach verneint hat, so daß das erkennende Landgericht Dresden dies zugrundezulegen hatte (die grundlegenden Rechtsprobleme sind erörtert bei, Lüderssen, Klaus, Der Staat geht unter - das Unrecht bleibt, 1992). Allerdings fehlt es hier im Vergleich zu den Mauerschützenprozessen an einer menschenrechtlichen Relevanz, so daß die diesbezügliche Einschränkung des Rückwirkungsverbots (BVerfGE 95, 96, 132 ff) hier nicht zum Tragen kommen konnte. Hannover argumentiert indessen weitgehend historisch-politisch, nicht juristisch.

Zutreffend ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung der historischen Situation, in der Funktionäre wie Modrow gegen Pläne Honneckers den Einsatz von Panzern und bewaffneten Streitkräften gegen jene Menschen verhinderten, die ihr Selbstbestimmungsrecht in ihre Hand genommen hatten und das "realsozialistische" Projekt letztlich durch ihren freien, zu respektierenden Willen, zum Scheitern brachten. Sich im Mai 1989 gegen den Strom zu stellen, hätte nichts bewirkt, aber diese Frage der hypothetischen Kausalität spielt strafjuristisch keine entscheidende Rolle (so BGH, NJW 2000, 443, 448). Der kairos winkte nicht im Frühjahr 1989, sondern erst im Herbst. Hannover veröffentlicht in diesem Kapitel weite Teile seines äußerst lesenswerten Plädoyers, in dem er die historischen Hintergründe schildert und auch den Faden einer Kritik am Justizsystem des "realexistierenden Sozialismus" aufnimmt und darzulegen versucht, daß Opposition gegen die Wahlfälschungen nur zum Austausch der Personen geführt, nicht aber zu einer Einhaltung des auf dem Papier vorhandenen Gesetzes (ein Argument, das der BGH schon mehrfach nicht gelten ließ). Hieraus läßt sich aber letztlich nur dann ein Rechtfertigungsgrund konstruieren, wenn man mit Pieroth (VVStRL 51, 91-115) davon ausgeht, daß die Rechtspraxis zur Rechtsordnung eines jeden Staates dazugehört, da kein DDR-Gericht jemals diese Praxis verworfen hätte. Ein Auffassung, die sich nicht durchgesetzt hat. Das hartnäckige Gerücht, die Staatsanwaltschaft hätte die Absicht gehabt, dieses Verfahren bereits im Vorfeld einzustellen, wäre daran aber durch eine Weisung des sächsischen Justizministers Heitmann gehindert, kann zwar durch die Ausführungen nicht "bewiesen" werden, gewinnt aber einige Plausibilität. Jedenfalls hätte unter den waltenden Umständen eine Verfahrenseinstellung wegen geringer Schuld nach §§ 153, 153 a StPO nahegelegen, nachdem die höchstrichterliche Rechtsprechung einen Freispruch nicht ermöglicht hat. Das Gericht ging einen Mittelweg und verhängte eine Verwarnung nach § 59 StGB, also die mildeste Sanktion des Sanktionenrechts des StGB, die später nach Revision zum BGH aufgehoben wurde. Das Verfahren endete nach Zurückverweisung mit einer neunmonatigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von DM 5.000,-, um der "Segelanweisung" des BGH zu genügen, der an seiner Linie mit Differenzierungen in den Einzelheiten bis heute festhält (s. nur BGH, NJW 2000, 443). Dies alles einfach als "Siegesjustiz" zu brandmarken, erscheint angesichts der nicht unerheblichen Menschenrechtsverletzungen in der DDR schwer.

Hannover streitet energisch für die These, daß eine justizielle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit der richtige Weg gewesen sei und plädiert für eine rein historische Aufarbeitung, die in jedem Falle neben eine justizielle Aufarbeitung zu treten hätte, aber weitgehend gemieden wird. Ob dieses Verfahren justizpolitisch in diesem konkreten Fall der richtige Weg war, muß in der Tat bezweifelt werden. Eine vollständige Ausklammerung einer auch justiziellen Aufarbeitung hätte indessen die Opfer der SED-Justiz und der Schergen des Politbüros verhöhnt, die erhebliches Leid verursacht haben, für das Honecker etwa im Gerichtssaal in einer interessanten Rechtfertigungsrede Gründe zu geben versucht hat (in Wesel, a.a.O., S. 64 ff). Mit dieser "Opferperspektive" setzt sich Hannover indessen nicht auseinander. Der eigentliche Fehler lag im Einigungsprozeß und im Einigungsvertrag, da nicht einmal versucht wurde, eine politische Bewältigung etwa durch ein Tribunal einzuschlagen (Wesel, a.a.O., S. 145 ff). Nach Abschluß des dritten Mauerschützenprozesses handelt es sich um weithin abgeschlossene Fragen der Zeitgeschichte, wenn nicht der von Krenz angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Gründe liefert, diese Verfahren erneut aufzurollen. Allzu wahrscheinlich ist dies nicht. Nichtdestoweniger ist es interessant, diese Verfahren aus der Perspektive eines ehemaligen Verfahrensbeteiligten kritisiert zu sehen, der es anders sieht.


VIII.


"Der Justizmord an einem >Volksschädling<" enthält mit Sicherheit das erschütterndste Kapitel dieses Buches. Auch hier geht es um die Bewältigung der NS-Vergangenheit. Walerjan Wróbel, ein sechzehnjähriger Zwangsarbeiter aus Polen, war 1942 wegen einer Straftat zum Tode verurteilt worden und wurde auf der Guillotine hingerichtet. Ein erschütterndes, justizschändliches Todesurteil (wie alle Todesurteile), um dessen Aufhebung Hannover sich verdient gemacht hat. Die "Straftaten": Ein Ausrißversuch aus Heimweh und eine Brandstiftung (der Brandherd wurde unter seiner Mithilfe gelöscht) an einem Heuschober, um als unbrauchbare Arbeitskraft wieder nach Hause geschickt zu werden. Dem Gestapo-Verhör verständlicherweise nicht gewachsen, erfolgte ein Geständnis, mit der Folge einer KZ-Internierung und eines Strafverfahrens vor unerbittlichen Richtern. Ein überlebender Leidensgenosse schildert diese Zeit aus eigener Anschauung, so daß die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht (näher Christoph Schminck-Gustavus, Das Heimweh des Walerjan Wróbel. Ein Sondergerichtsverfahren 1941/42).

Die Anklage beruhte insoweit auf § 3 der "Verordnung gegen Volksschädlinge" v. 05.09.1939 (abgedruckt bei v. Münch, Hrsg., Gesetze des NS-Staates, 3. Aufl., 1994, Nr. 53, S.96 f). Überdies ließ die "Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten" vom 04.12.1941 in deren Teil 1 III (2) die Erstreckung der Todesstrafe auch auf Jugendliche zu (abgedruckt bei v. Münch, a.a.O., Nr. 81, S. 141 - 144). Wie aus erhalten gebliebenen Protokollen ersichtlich ist, stand das Todesurteil bereits vor der Verhandlung fest, vermutlich um ein "Exempel" zu statuieren. Hannover ist völlig zuzustimmen: Es bestand kein >Sachzwang<, hier zu einem Todesurteil zu kommen. Er belegt dies sehr anschaulich anhand der Auslegung der einschlägigen Tatbestandsmerkmale, da niemand das Gericht gezwungen hat, das Tatbestandsmerkmal der Schädigung der "Widerstandskraft des deutschen Volkes" zu bejahen, das subjektiv Absicht voraussetzte. Erst im Gnadenverfahren besann sich die Kammer eines anderen und fühlte sich bemüssigt - nicht zuletzt aufgrund einer recht tapferen Verteidigung durch den beauftragten Pflichtverteidiger - sich gegen die Vollstreckung des Urteils einzusetzen, wenn auch mehr als halbherzig. Doch die Sache gelangte beim Reichsjustizministerium an einen deutschen Beamten, dessen Name wohl für alle Zeiten ein Schandfleck der deutschen Justiz bleiben wird: Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, dessen Verhandlungsführung gegenüber den Widerstandskämpfern aus dem Kreis des 20. Juli in Bild und Ton weitgehend überliefert ist. Das gnadenlose Diktum dieses "Blutrichters" ist im Wortlaut mitgeteilt: "...habe ich mit Ermächtigung des Führers beschlossen, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen" (S. 296). Die Einzelheiten der Hinrichtung sind genau überliefert, bis auf die Minute, mit deutscher Gründlichkeit. Der Henker brauchte ganze 11 Sekunden, um sein grausiges Werk zu vollbringen. Und die Richter? Hannover schildert kurz ihren Werdegang in der frühen bundesrepublikanischen Justiz. Einen von ihnen, Vorsitzender Richter an einer Zivilkammer in Bremen, hat Hannover als Referendar noch selbst kennengelernt. Die Aufhebung war eine "glatte" Sache. Die überlieferten Briefe des Jungen sprechen eine beredte Sprache, eine Sprache von Schuld, die unsühnbar ist, vielleicht weil nie gesühnt wurde - von den Verantwortlichen.


IX.


Carl von Ossietzky war in den 20er Jahren ein berühmter Publizist, Pazifist aus Überzeugung und einer der ersten, die nach der Machtergreifung von den Nazi-Machthabern in einem KZ interniert wurden, deren Existenz offenkundig war. Nichts hatten die Nazis - wie jede Diktatur - so zu fürchten, wie das Wort. Und Ossietzky war ein wortgewaltiger Mann, den Hitler persönlich haßte. Nicht zuletzt der Haß ist einer der tragenden Pfeiler der Nazi-Ideologie, anhand dessen alle Werte "umgewertet" wurden. In einem politischen Verfahren war Ossietzky bereits 1931 wegen Landesverrats verurteilt worden, nachdem 1929 in der von Ossietzky herausgegebenen Weltbühne ein Artikel mit dem Titel "Windiges aus der deutschen Luftfahrt" erschien, unterschrieben mit Heinz Jäger, einem Pseudonym für den seinerzeit bekannten Journalisten Walter Kreiser, der frühzeitig nach Frankreich emigrierte. Erst 1988 wurde versucht, dieses Schandurteil aufzuheben, das den Angeklagten zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilte, die er dementsprechend antreten mußte, bis die Weihnachtsamnestie 1932 eine kurze Atempause verschaffte. Der Fall sorgte bereits seinerzeit international für Wirbel, die letztlich im Vorwurf der "geistigen Sabotage" gipfelte (S. 373), da den Angeklagten vorgeworfen wurde, Nachrichten bekanntgemacht zu haben, deren Geheimhaltung aus Staatsräson erforderlich sei. Es ist ein altes Spiel autoritärer Regime, Kritiker durch Strafverfahren mundtot zu machen, ein Kernbereich sog. "politischer Justiz" (s. Otto Kirchheimer, Politische Justiz, 1965). Zuständig war der vierte Strafsenat des Reichsgerichtes, der für seine autoritäre und antidemokratische Rechtsprechung bekannt war, und dessen Urteile in der kritischen Öffentlichkeit heftig kritisiert wurden. Hannover zitiert eine Einschätzung von Kurt Tucholsky, der in dieser Zeit zahlreiche Prozeßberichte schrieb: "Die Talarvereinigung, die sich in Deutschland >Reichsgericht< nennt, hat seit jeher über Landesverräter geradezu barbarische Strafen verhängt. Diese rein administrativen Maßnahmen werden in geheimen Sitzungen vorgenommen; es ist immer wieder zu betonen, daß eine juristische Kritik hier nicht vorzunehmen ist; mit Rechtsprechung hat das, was da getrieben wird, nichts zu tun". Wer sich die Mühe macht, diese Urteile nachzulesen und zu analysieren, wird diese Einschätzung nur bestätigen können.

Ossietzky hatte überdies den Oberreichsanwalt Werner, unterstützt durch sein Vize Jorns und auch diesen, in der Weltbühne mehrfach wegen ihrer antidemokratischen und rechtsstaatswidrigen Haltung angeprangert. Nicht zuletzt wegen des politischen Prozesses gegen die Journalisten Küster und Jacob, der 1927 vor dem RG stattfand. Das Verfahren gegen Ossietzky war gewissermaßen eine Neuauflage dieses Verfahrens, jedenfalls wies es vergleichbare Strukturen auf (näher Hannover/Hannover-Drück, Politische Justiz in der Weimarer Republik, 2. Aufl., 1987). Deutlich wird aus der plastischen Darstellung jedenfalls: Diesen Senat mußte nach 1933 niemand mehr gleichschalten, so pointiert betrieb der Senat die Parteinahme für die politische Rechte unter Wahrung der gesellschaftlich angebrachten Formen, gegen alle Grundsätze eines objektiven Strafverfahrens. Der Senat unterließ es auch nicht, Adolf Hitler ein Forum zu verschaffen, um eine zweistündige Propagandarede zu halten, in der er seine "legalen" Ambitionen darlegen konnte, von denen man sich bereits im Programm der NSDAP von 1920 und in weiteren Dokumenten (wie etwa: "Mein Kampf") überzeugen konnte. Jedenfalls konnte niemand ernsthaft behaupten, er hätte es nicht habe wissen können, um wiederum eine Formulierung von Kurt Tucholsky aufzugreifen. Was nach 1933 geschah war völlig vorhersehbar.

Ossietzky hatte profunde Strafverteidiger: Max Alsberg, Alfred Apfel, Rudolf Olden, Kurt Rosenfeld - mit die herausragendsten Strafverteidiger ihrer Zeit. Hannover gelingt es, die historischen Zusammenhänge so dicht zu schildern, daß die Vergangenheit wieder aufersteht - vor dem geistigen Auge. Es half nichts: Ossietzky wurde zu anderthalb Jahren Haft verurteilt, die er auch antreten mußte, bis eine Weihnachtsamnestie eine kurze Atempause vor dem Gang ins KZ verschaffte, in dem er schwer gefoltert wurde. Nicht völlig nachvollziehbar ist die Kritik an dem Mitangeklagten Kreiser, der Deutschland sofort nach dem Urteil verlassen hatte, um von Frankreich aus publizistische Opposition gegen Deutschland zu betreiben (S. 390). Unter den gegebenen Umständen war realistischerweise nicht mehr zu erwarten, daß der "Kampf um Menschenrechte" im Deutschland der späten Weimarer Republik erfolgversprechend sein konnte, unter einer Verfassungsinterpretation, die Grundrechte nur als Programmsätze ansah, unter einer Strafjustiz, die vieles was folgte, bereits vorwegnahm, in einer Demokratie, die weithin ohne Demokraten auskommen mußte (näher: Kühnl, Die Weimarer Republik, 1987). Ob Ossietzky nicht besser daran getan hätte, ihm zu folgen, ist eine hinfällige Frage, gleichwohl die Republik, die nie funktioniert hat, kaum mehr zu retten gewesen sein dürfte. Hannover stellt gegen Schluß des Kapitels in einer äußerst unklaren Formulierung die Frage, ob das kommende Elend vermeidbar gewesen wäre, wenn die Staatengemeinschaft früher "interveniert" hätte. Eine solche Intervention hätte eines eingeschränkten Souveränitätskonzeptes bedurft, um das heute noch lebhaft gestritten wird und sich einem strukturkonservativen Beharrungsvermögen von mehreren Seiten ausgesetzt sieht. Eine Nichtreaktion wird allerdings durch jene Lehre im Völkerrecht begünstigt, die die Souveränität über alles stellt und gegenüber dem Demokratiepostulat systemblind agiert, damals noch völlig herrschende Meinung. Erst die Verleihung des Friedensnobelpreises 1936 konnte bewirken, Ossietzky, der inzwischen an einer offenen TBC litt, in ein Polizeikrankenhaus zu verlegen, wenn auch vergeblich. Dem Verlangen des Faschisten Göring, den Preis abzulehnen, kam er nicht nach und starb im Mai 1938 an den Folgen der KZ Haft. Ein aufrechter Kämpfer für Freiheit und Demokratie, dessen Andenken in Ehren gehalten werden sollte.

Das Wiederaufnahmeverfahren von 1988 hat allerdings auch Justizgeschichte geschrieben, indem Ossietzky praktisch noch einmal verurteilt wurde, nachdem unerfüllbare Beweisanforderungen gestellt wurden, um die allgemeine Bekanntheit der damals (1929) in Rede stehenden Behauptungen zu beweisen. Hannovers Wort von erneuter Justizschande ist angesichts der betreffenden BGH-Entscheidung kaum verfehlt. Erst in BGHSt 41, 217 fand der BGH deutliche Worte über das Verhältnis der "Aufarbeitung der Vergangenheit" durch die deutsche Justiz der Nachkriegszeit. Damit gilt ein Friedensnobelpreisträger, der aktiv gegen das anging, was kommen sollte, immer noch als Landesverräter, ohne daß die Funktionäre der Nazis anders als in Nürnberg und ihre willigen Vollstrecker nur gelegentlich zur Rechenschaft gezogen worden wären, worüber auch in einem weiteren Kapitel berichtet wird, daß die Aufarbeitung der Euthansasie-Verbrechen der Nationalsozialisten zum Gegenstand hat (Kap. 16).


X.


Niemand wird es wundern, daß Hannover auch in Mutlangen verteidigt hat, als es um den zivilen Ungehorsam gegen die Raktenstationierung der Pershing II Raketen ging, die heute schon Geschichte ist, auch wenn sich die Rüstungsproblematik keineswegs erledigt hat, wie ein einschlägiges Kapitel zeigt, das die legendäre "Richter-Blockade" zum Gegenstand hat. Auch über Strafverteidigungen in "normalen" Strafverfahren (etwa im Fall "Paradiso") wird interessent berichtet. Nun ist Rüstungsproblematik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Nach Meinung einiger schien sich die Debatte ohnehin auf die Rüstungsanstrengungen der USA zu beschränken. Doch die Welt hat sich gewandelt nachdem die Blöcke zerfallen sind, ohne daß es auf der Welt friedlicher geworden wäre. Regionale Konflikte und ihre Bewältigung gehören zum Alltag der UNO, sei es nach Kap. VI oder VII der UN-Charta. Die GRÜNEN hatten während des Golfkrieges zur Desertation deutscher Soldaten ebenso aufgerufen, wie andere Gruppen während des bewaffneten Kosovo-Konfliktes 1999, den man "Krieg" nennen muß, so daß diese Problematik vergleichbar ist und die Ausführungen angesichts der Berliner Verfahren gegen Unterzeichner eines vergleichbaren Aufrufes von aktueller Brisanz sind. Innerhalb der Linken war der militärische Einsatz der Bundeswehr damals wie im Kosovo-Konflikt umstritten. Die völkerrechtliche Ausgangslage war indessen eine andere, da der Weltsicherheitsrat ein Vorgehen nach Kap. VII der UN-Charta beschlossen hatte, ohne daß dies hier näher angesprochen werden könnte.
Die deutsche Mitschuld durch Lieferungen an den Irak durch die deutsche Industrie kam in diesen Verfahren deutlich zu Sprache. Hannover hält mit Recht in diesem Buch erneut ein Plädoyer gegen die Sinnlosigkeit des Krieges, kann aber nicht recht plausibel machen, ob ein Wirtschaftsembargo die gleiche Wirksamkeit gezeitigt hätte, so daß die international-politischen Fragen letztlich offenbleiben müssen. Seine Argumentation richtet sich insoweit vielmehr eher gegen sich selbst: Wenn der Kapitalismus allein der Grund für die Intervention war, nachdem wirtschaftliche Interessen einen Vollzug des Wirtschaftsembargos verhindert hatten, dann kann keine "staatsmonopolitische" Identität" zwischen den Interessen von Staat und ideellen Gesamtkapitalisten bestehen, vielmehr sind die realen "Partialkapitalisten" an einer Koordination durch den "Staat" kaum mehr interessiert. Hier aber lagen UN-Resolutionen vor, deren Fehlen im Kosovo-Konflikt zu Recht kritisiert wird.

Der richtige Ansatz einer qualifizierten Verteidigung konnte nicht in der völkerrechtlichen Brandmarkung bestehen, sondern in der Berufung auf die grundrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit, um deren Durchsetzung sich Hannover in seiner langen Tätigkeit verdient gemacht hat. Ein Problem, das sich auch bei den Desertationsaufrufen im Kosovo-Konflikt in ähnlicher Weise stellt. Die Entscheidung nach Zurückverweisung infolge Revision gegen das freisprechende Ausgangsurteil ging zu Lasten der Angeklagten aus. Dies aber allein dem Remilitarisierungsdrang christlicher Politiker zuschreiben zu wollen, dürfte eine unsichere Kritikbasis darstellen, zumal eine rot-grüne Bundesregierung in dieser Hinsicht die Tendenzen eher noch verschärft hat. Die Wahl zwischen zwei Übeln ist immer übel und sicher das Übel unserer Zeit, zu denen eine plausible "linke" Alternative indessen nicht besteht. Die Frage kann unter derartigen Umständen nur lauten, ob die Meinungsfreiheit so weit reichen kann, zu einer Desertation aufzurufen. Sie wird es solange können, wie lebhaft umstritten ist, ob eine bewaffnete Intervention völkerrechtswidrig ist. Eine Entscheidung darüber steht nicht in der Hand einer einzelnen Regierung und kann die Meinungsfreiheit insoweit nicht durch ein allgemeines Gesetz beschränken, dessen Reichweite unter diesen Umständen fraglich sein muß, so daß es durch die Meinungsfreiheit selbst wieder entscheidend begrenzt wird. Die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit als dem vornehmensten demokratischen Grundrecht ist ein großes Gewicht zuzubilligen, gegen das die Staatsräson in einer freiheitlichen Demokratie nicht entscheidend in Abwägung gebracht werden sollte.

Hannover hat zwei Bände mit den Lebenserinnerungen eines Anwaltes gefüllt, die hochinteressant zu lesen sind. Ihm sind damit zwei "Seller" der juristischen Sachbuchliteratur gelungen, die gegenwärtig ihresgleichen suchen und eine große Leserschaft ansprechen, deren Wissensbegierde mit interessant aufbereiteten Informationen gestillt wird, die zudem literarisch und buchästhetisch interessant aufbereitet sind. Nicht mit den Positionen des Verfassers in jeder Hinsicht übereinzustimmen, macht die Lektüre eher anregend und die Lektüre um so spannender! Wer sich für die jüngere Justizgeschichte interessiert, wird diese Bände mit großem Gewinn zur Hand nehmen.

15.05.2000

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