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Artikel 5488
Dr. Paul Tiedemann




Eine Rezension zu:

Walter Leisner

Krise des Gesetzes: Die Auflösung des Normenstaates


Duncker& Humblot, Berlin 2001, 247 S., 48,- €
ISBN 3-428-10581-8

http://www.duncker-humblot.de


Dass das Gesetz sich in einer Krise befindet, ist nicht neu. Allenthalben verlautet die Klage über die unübersehbare Normenflut, die über den Bürger hereinbricht und auch die juristischen Fachleute zunehmend überfordert. Die ständige Änderung der Gesetze, die jede Arbeit mit einem redaktionell überarbeiteten Gesetzestext oder einer Loseblattsammlung schon für den Juristen zum unkalkulierbaren Risiko werden lässt, ist hinreichend bekannt. Wenn man nun noch berücksichtigt, dass neben den Bundesgesetzen auch die Landesgesetze, Rechtsverordnungen des Bundes und der Länder, die Verordnungen und Richtlinien der EU sowie zahllose Satzungen und Verwaltungsvorschriften zu berücksichtigen sind, die über den Gleichheitssatz rechtsrelevant werden, dann wird die erschreckende Unübersichtlichkeit noch immer nicht in ihrem vollen Umfang deutlich. Denn um das geltende Recht zutreffend zu erfassen, muss man bekanntlich auch noch die Judikatur der Gerichte kennen, die sich häufig nicht nur darauf beschränken, gesetzliche Unklarheiten durch Auslegung zu beseitigen, sondern gern auch selbstständig eigene Rechtssätze schaffen - das sogenannte Richterrecht. Zugleich wenden sich die Gesetze immer öfter nicht an grundsätzlich jeden, sondern regeln nur noch die Lebensverhältnisse für kleine, sehr spezialisierte Subsysteme oder Subkulturen der Gesellschaft. Sie bedienen sich dabei einer Fachsprache, die nicht mehr von allen verstanden werden kann. All dies führt dazu, dass nicht nur das Risiko der Rechtsunkenntnis wächst, sondern auch als Reaktion darauf Lebensstrategien provoziert werden, die gerade darin bestehen, die Kunst der Gesetzesumgehung und der unsanktionierten Gesetzesübertretung zu kultivieren und zu optimieren (S. 234). Mit anderen Worten: Je zahlreicher die Gesetze und Normen, die zu beachten sind, umso geringer die Wirksamkeit des Gesetzes.

Angesichts dieses Befundes, der als solcher hinreichend bekannt ist, widmet man sich mit Spannung der Lektüre eines Buches, das im Titel bereits die Gefahr andeutet, die aus dieser Krise des Gesetzes erwachsen kann, nämlich die Auflösung des Normenstaates. Es liegt nahe, dies als Warnung zu verstehen und sich von dem Autor Vorschläge zu erwarten, wie diesen Gefahren zu wehren ist. Doch wer mit einer solchen Erwartung an die Lektüre geht, wird enttäuscht werden.

Schon die Analyse der Krise erscheint streckenweise kaum nachvollziehbar. Da wird suggeriert, dass in der guten alten Zeit die Welt noch heil gewesen und das Gesetz einfach, überschaubar und klar gewesen sei. Gerade diese Eigenschaften hätten die allgemeine Akzeptanz des Gesetzes, seine unangefochtene Legitimität und damit seine "Majestät" begründet, und zwar unabhängig von der Legitimität desjenigen, der es erlassen hatte. Der Leser, der sich fragt, wann und wo es diesen Zustand je gegeben hat, wird von Leisner auf das römische Zwölf-Tafel-Gesetz, auf die mosaischen Gesetze und auf die islamische Scharia verwiesen. Diese Auskunft überzeugt zweifellos wenig, zumal Leisner selbst darauf hinweist, dass das römische Zivilrecht reines Richter- und Gelehrtenrecht war und somit keineswegs durch einen kurzen Blick in die Zwölf Tafeln zu ermitteln war. Nichts anderes gilt für das jüdische oder islamische Religionsrecht. Die Auskunft ist auch deshalb etwas verwirrend, weil Leisner gleich zu Beginn des Buches darauf hinweist, dass die Identifikation von Recht und Gesetz auf einen Paradigmenwechsel zurückgeht, der mit der Französischen Revolution vollzogen worden ist. Zuvor nämlich verstand man unter Recht gerade nicht in erster Linie das Gesetz, sondern jenes "common law", dass die römischen Prätoren in Einzelfallentscheidungen geboren und die römischen Rechtsgelehrten in Lehrtexten kompiliert haben und das schließlich unter Kaiser Justinian im Codex Juris Civilis zusammengefasst und mit höchsten kaiserlichen Weihen verkündet wurde. Die römischen Richter und ihre späteren Nachfolger haben das freilich nicht im Sinne eines Abschlusses von Richterrecht verstanden, sondern eher im Gegenteil als Ermutigung zur Fortsetzung ihres kreativen Schaffens. Vor der europäischen Aufklärung war das Gesetz im modernen Sinne also keineswegs höchster Ausdruck des Rechts. Deshalb wird es auch schief, wenn man nach der mythologischen Schablone vom Goldenen Zeitalter den gegenwärtigen Zustand des Gesetzes als einen Niedergang begreift, als eine Krise, in der zahlreiche böse Mächte die "Majestät des Gesetzes" gestürzt haben. Genau das ist aber die Art der Darstellung, die Leisner vornimmt.

Freilich ist das nicht seine einzige Argumentationslinie. Dass er sie überhaupt bringt, hat wohl eher etwas mit seinem Anliegen zu tun, das Gesetz als staatsformübergreifende Legitimationsgrundlage zu beschreiben, dessen Anerkennung allein daraus folgt, dass es verlässliche Ordnung verbürgt (S.22) Damit will er wohl andeuten, welche Folgen es hat, wenn das Gesetz als Instrument zur Herstellung von Rechtsordnung verloren geht. Doch sein Rekurs auf antike Gesetzgebungswerke steht in einem nicht erklärten Spannungsverhältnis, wenn nicht gar Widerspruch zu der These, dass das Gesetz in seinen Anfängen ein Kind der Volkssouveränität gewesen sei (S. 218).

Jedenfalls sieht Leisner durchaus deutlich den engen Zusammenhang zwischen Gesetz und Demokratie. Er betont, dass der Verlust des Gesetzes für jede Rechtsordnung problematisch sein mag; gerade für die Demokratie sei er jedoch von existenzieller Bedeutung. Das folgt für Leisner daraus, dass das Gesetz das einzige Herrschaftsinstrument sei, durch das überhaupt demokratische Herrschaft ausgeübt werden könne. Weder die Volksversammlung noch das Parlament seien in der Lage, Einzelfälle angemessen zu bearbeiten, also zu verwalten oder Recht zu sprechen. Vielmehr könnten solche Organe nur abstrakt-generelle Regelungen hervorbringen, durch die die Staatstätigkeit in Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung mehr oder weniger präzise programmiert werden könne (S. 219). Die demokratische Wahl von Beamten und Richtern scheint ihm kein Mittel zu sein, das demokratische Instrumentarium auszuweiten, ohne dass er dies näher erläutert. Jedenfalls ist für Leisner die Krise des Gesetzes auch eine Krise der Demokratie. Da wird man ihm kaum widersprechen können.

Leisners Analyse der Gründe für die krisenhafte Entwicklung sind dagegen nicht auf ganzer Strecke nachvollziehbar. Das gilt etwa für die These, dass die Abwertung des Gesetzes schon durch die Einführung der geschriebenen Verfassung eingeleitet worden sei, weil die Verfassung das Gesetz bestreitbarer und zufälliger mache (S. 46). Erst recht die Verfassungsgerichtsbarkeit habe dem Gesetz seine Autorität geraubt und den Richter über den Gesetzgeber gesetzt und damit, wie Leisner formuliert, den "Mufti über das Gesetz" (S. 47). Aber nicht nur den Wandel des "Gesetzesstaates zum Richterstaat" (S. 48) macht Leisner verantwortlich, sondern auch das Aufkommen des Öffentlichen Rechts und der Grundrechte (S. 52). Seitdem werde das Gesetz als Ausdruck des Staatswillens aufgefasst und nicht mehr als prinzipiell unwandelbare Ordnung zwischen Privaten. Das mache es ständig abänderbar, verstärkungs- und verbesserungswürdig. (S. 52) Eine sozialwissenschaftliche Analyse der Gründe für diese Entwicklung bleibt er schuldig. Weiter beklagt der Autor den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und die Wesentlichkeitstheorie. Dadurch sei das Gesetz, das ursprünglich und noch bei Rousseau Garant der Freiheit gewesen sei (S. 55), nunmehr zum Instrument der Freiheitsbeschränkung geworden. Es bedürfe nur eines Gesetzes, um Freiheit einzuschränken und niemand müsse mehr überlegen, ob die Freiheitseinschränkung doch zu weit gehe (S. 58). Die Rechtsprechung zum Verhältnismäßigkeitsprinzip wird mit keinem Wort erwähnt.

Aber nicht nur das Parlament wird für die Krise des Gesetzes verantwortlich gemacht. Insbesondere arbeiten nach der Einschätzung Leisners auch die Richter an der Demontage des Gesetzes. Sie tun es vor allem durch die Schaffung von Richterrecht, das über das Gesetz hinaus und am Gesetz vorbei geht. (S. 88ff.) Sie tun es ferner, indem sie die demokratische Legitimation des Gesetzes untergraben. Das Gesetz werde faktisch erst dadurch in Geltung gesetzt, dass die Richter es akzeptieren. Dadurch fungiere die Rechtsprechung gleichsam wie eine dritte gesetzgebende Kammer. (S. 94) Die Richter beriefen sich nur dann auf die Gesetzesbindung, wenn sie Schutz suchten gegen gesellschaftliche und politische Pressionen (S. 95) Leisner weist aber auch darauf hin, dass insbesondere die Richtermacht als Interpretationsmacht in dem Maße wächst, in dem die Qualität der Gesetze nachlässt (S. 97)

Als Insider kann man manchen Thesen Leisners aus eigenem Wissen zustimmen, andere Thesen bleiben mangels eigener Erfahrung oder eigenen Wissens nebulös. Denn der Autor verweigert jeglichen Beleg für seine Behauptungen. Es gibt keine Fußnoten in seinem Werk und auch kein Literaturverzeichnis. Dadurch wirkt der ganze Text außerordentlich autoritär. Der Leser ist dazu verdammt, dem Autor seine teilweise höchst ungewöhnlichen, teilweise wegen ihrer abstrakten Darstellung auch schwer nachzuvollziehenden Thesen entweder blind zu glauben oder er zieht wenig Gewinn aus dem Werk. Von dieser Regel gibt es allerdings eine einzige Ausnahme. Gleich zu Beginn des Buches nennt der Autor jenen Artikel des Grundgesetzes, in dem von der Bindung an Gesetz und Recht die Rede ist - leider allerdings den falschen. Denn statt von Artikel 20 Absatz 3 GG ist an dieser Stelle von Artikel 1 die Rede.

Dramatischer wird es, wenn der Leser inhaltliche Fehler entdeckt, die nicht mehr dem Druckfehlerteufel anzulasten sind. Spätestens dann geht der vom Autor stillschweigend angemaßte Anspruch auf gläubigen Nachvollzug endgültig verloren und man begegnet auch jenen Thesen mit Skepsis, die man in Ermangelung eigenen Vorwissens nicht nachprüfen kann. Für mich war der Punkt erreicht, als ich mich durch die völlig verquere Darstellung der Wesentlichkeitstheorie quälen musste, die Leisner als eine der Ursachen der Normenflut abhandelt (S. 56ff.). Der Autor vertritt hier die abenteuerliche These, dass die Wesentlichkeitstheorie Ausdruck der Resignation des Bundesverfassungsgerichts sei, das die Grundrechte nicht mehr gegen den "gesetzesgierigen demokratischen Gesetzgeber" verteidigen konnte und es dem Gesetzgeber deshalb anheim gestellt habe, durch Gesetz selbst zu regeln, wie viel Freiheit es geben soll und wie viel nicht. Indessen ist das Gegenteil richtig. Die Wesentlichkeitstheorie wendet sich nicht gegen den gesetzesgierigen Gesetzgeber, sondern eher gegen den "gesetzeslahmen" Gesetzgeber, der es unterlässt, wesentliche Lebensbereiche, in denen der Freiheitsgebrauch weniger für viele zum Schicksal werden kann, gesetzlich zu regeln.

Bei anderen, teilweise höchst ungewöhnlichen Thesen des Autors wird dem aufmerksamen Leser die Entscheidung über die Plausibilität dadurch leicht gemacht, dass der Autor sich in Widersprüche verstrickt. So behauptet er apodiktisch, dass die Verabschiedung des Haushalts in Gesetzesform nichts anderes sei als ein Missbrauch des Gesetzesbegriffs (S. 209), um dann fünf Seiten später kund zu tun, dass das Parlament seine Kontrollfunktion nicht anders wahrnehmen könne als durch ein Haushaltsgesetz (S. 214).

Schließlich fragt sich der Leser natürlich nach der Nutzanwendung der Leisnerschen Erkenntnisse. Was können wir tun, um dem Gesetz aus der Krise zu verhelfen? Naheliegend wäre es wohl gewesen, die vielfältigen Ursachen des Problems zunächst einmal danach zu unterscheiden, ob sie revidierbar sind oder nicht. Zu den vermeidbaren Ursachen gehört m.E. zweifellos das von Leisner zutreffend diagnostizierte Selbstverständnis weiter Kreise der Richterschaft als legitime Quelle eigenen Rechts, des Richterrechts. Erst kürzlich wurde ich Zeuge einer ganz selbstverständlichen Äußerung eines jungen Proberichters auf einer Tagung der Deutschen Richterakademie, der sich beglückt darüber zeigte, dass man den Positivismus ja zum Glück überwunden habe. Er erntete keinen Widerspruch.

Leisner geht diesen Weg nicht. Seine Antwort ist eher deprimierend. Er scheint der Auffassung zu sein, dass hier eine unheilvolle und unumkehrbare Dialektik des Niedergangs am Werk ist, die man nicht aufhalten kann (S. 165). Das Ideal des vorhersehbaren und berechenbaren Gesetzesbefehls werden wir nach Leisners Einschätzung jedenfalls aufgeben müssen (S. 240). An seine Stelle treten politische Direktiven und Machtsprüche verschiedener Machtebenen, der "Ordre de Mufti" (S. 240).

Muss man dieses Buch gelesen haben? - Eigentlich nicht! Warum ich es dennoch hier vorstelle, hat allerdings einen Grund: Leisner vertritt - wiederum ohne jegliche Nachweise und Begründungen - eine These, die mir interessant genug erscheint, um auf sie aufmerksam zu machen und sie der weiteren wissenschaftlichen Überprüfung anzuempfehlen. Die These lautet, dass die Richter des 19. Jahrhunderts und "bereits ihre historischen Vorgänger" (?) die territorialfürstlichen Gesetze wie auch später die des Volkssouveräns unter Berufung auf das römische Recht relativiert hätten. Die Pandektistik sei in der richterlichen Praxis nicht als subsidiäre, sondern als höherrangige Rechtsquelle verstanden worden, die es den Richtern erlaubte, neben und über dem Gesetz stets ihr eigenes Richterrecht weiter zu entwickeln (S. 103). Diese These, würde sie sich bewahrheiten, wäre sicher ein wichtiger Baustein in der Geschichte eines richterlichen Selbstverständnisses, das bis auf den heutigen Tag über weite Strecken die Rolle und Legitimation des Richters in der Demokratie nicht integrieren konnte und noch immer vom Leitbild des kaiserlichen Prätors ausgeht, der sich selbst als Rechtsquelle betrachtet. Diese These Leisners anhand der historischen Quellen zu überprüfen, wäre m.E. ein lohnenswertes Dissertationsprojekt.


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