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Artikel 2015
Ralf Hansen

Im Schatten des Leviathan

Eine Rezension zu:

Karl Loewenstein

Verfassungslehre


4. Aufl., als unveränderter Nachdruck der 3. Auflage, übersetzt von Rüdiger Boerner, Tübingen: Mohr-Siebeck, 2000 ISBN 3-16-147432-5

http://www.mohr.de

Das Verlagshaus Mohr-Siebeck begeht in diesem Jahr die Wiederkehr des 200. Jahrestages seiner Gründung (http://www.mohr.de/jubilaeum.html). Ein Datum, das sich auch im aktuellen Verlagsprogramm wiederspiegelt. So hat sich dieses renommierte Verlagshaus entschlossen, einen der wirklichen Klassiker der politikwissenschaftlichen und verfassungsrechtswissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts in einem Nachdruck vorzulegen. Das berühmte Werk von Karl Loewenstein erschien zuerst in US-amerikanischer Sprache 1957 unter dem Titel Political Power and the Governmental Process (University of Chicago Press) als Beitrag zur Diskussion im Diskurs des Comparative Government und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien es in einer vom Verfasser überarbeiteten Fassung zuerst 1959. Die US-amerikanische Fassung wurde 1968 um einen Nachtrag erweitert, der erstmals in die 3. deutsche Auflage (1975) Eingang fand. Wenig später ist der Verfasser, einer der bedeutensten Verfassungstheoretiker dieses Jahrhunderts verstorben. Leben und Werk hier würdigen zu wollen, wäre vermessen. Loewenstein war ein deutscher Rechtsgelehrter judaischer Religionszugehörigkeit, der unter der Diktatur des Nationalsozialismus seine Ämter als Staatsrechtslehrer verlor und schon früh in die USA auswanderte, wo er in Amherst/Massachusetts eine Professur für Politikwissenschaft erhielt, ähnlich wie etwa Otto Kirchheimer, Franz Leopold Neumann oder Ernst Fraenkel. Man muß diese Verfassungslehre daher auch im Kontext der „deutschen Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts lesen. Gerade in Zeiten eines über Gebühr wieder aufkeimenden Neo-Nationalsozialismus in Deutschland gebührt dem Verlag Dank für die Veröffentlichung des Nachdruckes der dritten Auflage, zumal der Verfasser schon früh das Problem der legislativen Kontrolle über politischen Extremismus wissenschaftlich untersucht hat („Legislative Control of Political Extremism in European Democracies“, in, Columbia Law Review, Jg. 38, S. 591-622 und, S. 726-774). Das von ihm hinterlassene Werk ist sowohl in quantitativer als auch in qualititativer Hinsicht nach wie vor beeindruckend. Die noch heute maßgeblichen Werke des Verfassers über die US-amerikanische Verfassung und die Verfassung von Großbritannien legen davon beredt Zeugnis ab (s. nur, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, 1967; Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959) und sind noch heute in der Verfassungsvergleichung von erheblicher Bedeutung.

Die Verfassungslehre von Loewenstein steht einer anderen Verfassungslehre eines Autors diametral entgegen, der im Text nicht genannt wird und dem Loewenstein die wissenschaftliche Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang verweigert hat: jener von Carl Schmitt (s. Verfassungslehre, Berlin, 1929, div. Nachdrucke). In gewisser Weise ist es ein „Anti-Schmitt“ aus der Perspektive einer republikanischen Lesart des politischen Liberalismus. In diesen Kontext gehört auch die Verfassungslehre von Hermann Heller (ebenfalls bei Mohr-Siebeck verlegt) aus dem Jahre 1933, die das Strukturprinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaat nach dem deutschen Grundgesetzes sehr geprägt hat. Die Bezüge zu Schmitt liegen zu offen zutage, als daß man sie ignorieren könnte, etwa wenn Loewenstein pointiert diametral zu Schmitt (Politische Theologie I) den Begriff des Souveräns formuliert: „Souverän ist, wer in einer Staatsgemeinschaft die Legitimation zur Ausübung der Macht besitzt oder sie letzten Endes ausübt“. Bereits in dieser Definition kommt der enge Bezug seines Ansatzes zur Staatssoziologie Max Webers und insbesondere zu dessen Konzept der legitimen Herrschaft zum Ausdruck. Anders als etwa Carl Schmitt wählt Loewenstein - unter dem Eindruck der Entwicklung der US-amerikanischen political theory der 40 und 50er Jahre - nicht den Ausgangspunkt einer abstrakt-theoretischen Diskussion des „Wesens“ der Verfassung im Allgemeinen, sondern stellt in verfassungsvergleichender Perspektive auf die tatsächliche Verfassungspraxis, der wirklichen Dynamik der Verfassung im Nationalstaat der Moderne ab und untersucht die Bedeutung der Verfassung im Kontext der Prozesse politischer Macht. Seine Methode kann mit „strukturbegrifflicher Verfassungsvergleichung“ umschrieben werden, die auf eine Analyse der Wirklichkeit politischer Machtprozesse zielt. Es handelt sich daher primär um einen staats- und machtsoziologischen Ansatz, der sich auch Untersuchungsmethoden der Verfassungsrechtswissenschaft bedient, sich aber jedenfalls auf sie als Untersuchungsgegenstand bezieht. Politikwissenschaftlicher Realismus spricht aus nahezu jedem Satz und prägt auch das Selbstverständnisses dieses Werkes: „Jede Verfassungslehre zeigt notwendigerweise das Profil ihrer Zeit“. Loewenstein zeigt selbst die Differenz zu einem anderen maßgeblichen Text der Verfassungslehre auf (Jellinek, Allgemeine Verfassungslehre), der noch der monarchischen Verfassung verhaftet war und in dem für das Problem der „Dämonie der Macht“ noch kein Platz war. Insofern wird der zeithistorische Kontext auch stets betont: „Eine Verfassungslehre von heute, zu Beginn des Atomzeitalters zu Papier gebracht, wird vermutlich im Jahre 2000 nicht minder veraltet erscheinen als uns ein zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unternommener Versuch dieser Art“. Loewenstein stellt daher den Staat in das Verhältnis zur Macht, als einer psycho-sozial wirksamen Relationsweise, in der Gesellschaft - insoweit Hannah Arendt nicht unähnlich - begriffen wird als ein System von Machtbeziehungen, deren konkrete Gestalt in den verschiedenen Institutionen ihren Ausdruck finden. Der machttheoretische Ansatz von Loewenstein erteilt dabei jedem metaphysischem Konzept und jedem Versuch einer ontologischen Begriffsbildung eine bewußte Absage, da sich nur die Wirkungen wissenschaftlich konkret erfassen lassen, so daß eine Reflexion auf das „Sein“ des politischen Prozesses sinnlos ist und sich in Mythologie erschöpft.

Ein derartiger Ansatz ist analytisch gezwungen, zunächst einmal die Machträger institutionell zu identifizieren, die im politischen Konstitutionalismus der Moderne entpersonalisiert sind und die vier Konstruktionen der Regierung, der Versammlung, des Machtadressaten als Souveräns und der Justiz umfaßt. Hinzu kommen in einer pluralistischen Gesellschaft, in der Technik und Wissenschaft zur ersten Produktivkraft geworden sind, Gruppen und Interessenverbände, als deren Vorhut Loewenstein pressure groups und lobbies bezeichnet. Der jeweilige Standard der technischen Entwicklung gibt dabei die Möglichkeiten vor, innerhalb deren Massen- und Individualkommunikationstechniken zu jenem Band geworden sind, durch das sozio-politischen Tatsachen den Massen ideologisch vermittelt werden und in den politischen Diskurs zurückströmen. Loewenstein hat sehr früh erkannt, daß diese Kommunikationstechniken es sind, die über den Charakter eines politischen Systems entscheiden, wenn die Zugangsweisen liberal, sozialstaatsbezogen oder autoritär reguliert werden.

Loewenstein erörtert die Zusammenhänge zwischen politischen Machtprozessen und Regierungsverfahren anhand einer Vielzahl von Informationen zu einzelnen Verfassungen, die den Leser aber aufgrund der Souveränität der Darstellung nicht verwirren können, da die Argumentationsführung derart systematisch ist, daß man den Wissenshorizont des Verfassers mit Ehrfurcht zur Kenntnis nimmt. Die Analyse des Regierungsprozesses im Verhältnis zur Macht führt dazu, daß Loewenstein zwei grundlegende Typen von politischen Systemen trennt, die auch heute noch weithin gültig ist: Autokratie und konstitutionelle Demokratie. Für den politischen Realismus des Verfassers spricht die Einbeziehung des Phänomens der „Dämonie der Macht“, da politische Macht, wo sie nicht institutionell eingedämmt wird, die Tendenz zur Übersteigerung aufweist und außer Kontrolle gerät: „Die Macht birgt in sich den Keim des Machtrausches. Wird sie nicht in Schranken gehalten, so verwandelt sich Herrschaft in Tyrannei ohne Grenzen und Despotismus ohne Maß“. Auch Demokratie bedarf insoweit der Implementation von institutionellen Sicherungen durch Verfahrensgrundsätze, die die Entscheidungsfindung in einer gewissen Machtbalance sichern. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat dies zu eindeutig gezeigt als daß es nötig wäre, das Modell des totalitären Staates als Gegenbild zur rechtsstaatlichen Demokratie noch zu beschwören. Im Zentrum des Werkes steht daher auch Fragen der institutionellen Machtkontrolle. Thematisiert wird etwa, wie Macht durch politische Kontrolle reguliert werden kann, wobei der Verfasser zwischen horizontaler (als Kontrolle zwischen und innerhalb von Machtorganen) und vertikaler Kontrolle (Kontrollen zwischen den verschiedenen Ebenen der Staatsgesellschaft) trennt.

Bereits die Ausführungen über die „Anatomie des Regierungsprozesses“ haben ein Argumentationsniveau, das dieses Buch - und andere des Verfassers - zu einem „Klassiker“ macht, der Denkanstöße für ein Weiterdenken, weiterforschen und Wiederbegreifen des Verfassungsprozesses bereitstellt, die in einer Lage nötig sind, in der sich die Auflösung nationaler Verfassungen in Europa wenigstens anbahnen könnte und die territorial begrenzte nationale Verfassung zum Problem werden läßt, ohne daß schon geeignete Lösungen in Sicht werden - eine Situation der verfassungspolitischen Unübersichtlichkeit, die die gesamte Debatte um eine „gesamteuropäische Verfassung“ prägt. Eine Rezension kann die zahlreichen Facetten des Buches weder ausloten, noch die theoretische Auseinandersetzung suchen, so verlockend dieser Reiz auch ist. Das Werk ist aber nicht zuletzt deshalb interessant, weil es Ansätze zu einer politischen Medientheorie bietet, deren systematische Ausarbeitung bis heute Postulat geblieben ist, trotz zahlreicher Einzelstudien zu diversen Phänomenen: „Heute sind die letzten Schranken für das Eindringen in den entferntesten Winkel des Staates und aller Staaten gefallen. In der modernen Gesellschaft hängt das Regieren, gleichgültig ob demokratisch oder autokratisch, ... von Rundfunk und Fernsehen ab. Mit ihrer Hilfe präparieren die politischen Parteien die Massen für ihre Teilnahme am politischen Prozeß“. Heute muß man ergänzen: und durch die Medien des Internets. Loewenstein sah aber schon klar voraus, daß die Gegentendenz einer Übersättigung mit Politik, das Abschalten der Massen sein wird, die in der Utopie des „totalen“ E-Commerce den Ausdruck einer radikal entpolitisierten Gesellschaft ihren vorerst letzten Ausdruck gefunden hat, mit durchaus kulturell offenem Ende.

Zwar ist die konstitutionelle Demokratie heute - entgegen der Ausgangssituation Loewensteins - global zum Paradigma einer angemessenen politischen Staatsverfassung geworden, immer noch gebrochen in großen Teilen der Welt in Okkupation der wirtschaftlichen Rechtsregeln der westlichen Demokratien ohne Übernahme ihres politischen Liberalismus. Doch immer noch entwickelt sich die rechtsstaatliche Demokratie im Schatten des Leviathans, der auch im völligen Niedergang staatlicher Institutionen zum Vorschein kommen kann. Loewenstein hat die politischen Probleme, deren Notwendigkeit zur Regulation sich heute stellen, bereits klar gesehen: „Wird das nächste politische System, dem die Menschheit zustrebt - vorausgesetzt sie hat den Verstand sich nicht selbst zu vernichten - die Herrschaft der Technokraten sein, welche über die entfesselten und mühsam gebändigten Naturkräfte verfügen? Aber dies erscheint sicher: Die ungeregelte Freiheit der pluralistischen Kräfte, der politischen Parteien nicht weniger als der Interessengruppen, wird das Hauptproblem der Staatskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden. Wiederum wird der Brennpunkt jener ewige Konflikt sein, dem jede Staatsgesellschaft gegenübersteht: Kann ein Ausgleich zwischen der Freiheit des einzelnen und der Autorität des Staates hergestellt werden?“. Diese Frage stellt sich heute unter den Voraussetzungen der sog. „Globalisierung“, der Erosionserscheinungen des Nationalstaates und dem Druck wirtschaftlicher Interessenverbände auf Staat und Zivilgesellschaft in einem allumfassenden ökonomischen Imperialismus nicht weniger drängend als damals. Auch wenn der von Loewenstein ins Auge gefaßte republikanische Weg heute so nicht mehr gangbar scheint, da der Staat nicht mehr die maßgebliche Klammer zu sein scheint, die die Zivilgesellschaft „zusammenhält“, indessen eine Leerstelle im Entstehen begriffen ist, die einen Identitätsverlust bezeichnet, dessen Kompensation in einer global gewordenen Welt durch globale Institutionen - auch nichtstaatlicher Art - schier nicht gelingen will.

Auch dieses „klassische“ Werk von Karl Loewenstein hat an Brisanz nichts eingebüßt, mag die Zeit auch über manches Detail hinweggeschritten sein. Eben dies macht jedoch einen „klassischen“ Text aus, da es nur gelingt über diese Texte ein Selbstverständnis zu gewinnen, das „Jetzt und Hier“ wissenschaftlich zu reflektieren. Der Sinn der Lektüre solcher Texte liegt daher in der Wiederaneignung von Problembewußtsein für die Lösung heute drängender Fragestellungen. Es ist ein Glücksfall, daß dieser Text gerade jetzt wieder nachgedruckt wurde.

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