Herzlich willkommen auf jurawelt.com

Zur neuen Webseite: jurawelt.com

Zum Forum: forum.jurawelt.com


Artikel 3445
Ralf Hansen

Furchtbare Ärzte

Eine Rezension zu:

Ebbinghaus/Dörner (Hrsg.)

Vernichten und Heilen
Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen

Berlin: Aufbau-Verlag, 2001
ISBN 3-351-02514-9

http://www.aufbau-verlag.de

Neben dem Nürnberger Prozeß gegen die Politiker und Militärs des Nazi-Regimes fand 1946/47 ein weiterer Prozeß in Nürnberg statt, der bei weitem nicht den Bekanntheitsgrad des ersten Prozesses hat, dessen Verfahren in 23 Bänden dokumentiert wurde (inzwischen ist ein Reprint in 11 Bänden erhältlich). Jener zweite Prozeß war der "Nürnberger Ärzteprozeß", dessen Akten erstmals vollständig 1999 in einer Mikrofiche - Edition auf Deutsch erschienen sind (Dörner u.a., Hrsg., Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, K.G. Saur - Verlag). Dieses Forschungsmaterial lag dem hier zu besprechenden Sammelband zugrunde. Die Beiträge untersuchen diesen Prozeß und sein Umfeld aus sieben verschiedenen Perspektiven.

Im ersten Teil führt Weindling vorzüglich in die Vorgeschichte dieses Prozesses ein, der in der Geschichte beispiellos ist. Indessen kann das Interesse der deutschen Medizinhistoriker und Rechtsmediziner an diesem "Forschungsgegenstand" nicht gerade als groß bezeichnet werden, sieht man von "Medizin ohne Menschlichkeit" von Mitscherlich/Mielke, einmal ab. Dafür spricht auch das vollständige Fehlen einer Dokumentenedition, deren Erstellung im Kontext der Entstehung dieses Buches stand und an deren Entstehung sich auch die Bundesärztekammer finanziell nicht mit einem noch so geringen Beitrag beteiligen wollte. Gespendet haben dann ca. 8000 Ärzte, was für eine deutliche Veränderung der "Landschaft""spricht. Auch der Wellcome-Trust hat sich beteiligt. Das Ergebnis dieses Forschungsprojektes, dessen Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden, ist bemerkenswert. Der einleitende Beitrag stellt die historisch-politischen Hintergründe dieses Verfahrens dar, daß durch die Anklageschrift vom 5. November 1946 eingeleitet wurde und für das der US-amerikanische Hauptankläger Telford Taylor federführend verantwortlich zeichnete, dessen Buch über die Nürnberger Prozesse eine ungemein wichtige Erkenntnisquelle ist (dt., Die Nürnberger Prozesse, München, 1994). Es ging dabei um "Experimente", die an KZ-Häftlingen ohne jede Gnade und Barmherzigkeit vorgenommen wurden und die mit den Tatvorwürfen, "Höhenversuche", Unterkühlungsversuche", "Malaria-Experimente", "Lost (Senfgas) -Experimente", "Sulfonamid-Experimente", "Versuche zu Knochen-, Muskel- und Nervengenerationen sowie Knochenmarktransplantationen", "Experimente mit Meerwasser", "Experimente mit epidemischer Gelbsucht", "Sterilisationsexeperimente", "Fleckfieber-Experimente", "Experimente mit Giften", "Brandbomben-Experimente", Anlegung einer "Skelettsammlung", "Ermordung tuberkoloser Polen" und "Euthanasie-Programm" nur in etwa beschrieben werden können. Hinreichend jedoch für einen ersten Einblick in einen Mikrokosmos des Grauens. Dem Leser bleibt in dieser Hinsicht in diesem Band naturgemäß nichts erspart, alles andere wäre Beschönigung. Es gab 23 Angeklagte, vom Polit-Funktionär bis zum Lagerarzt, deren Schicksal - soweit sie nicht hingerichtet wurden - in der Nachkriegszeit verblüfft. Auch diese Biographien finden hinreichend Berücksichtigung. In deutlicher Parallele zu jenen "furchtbaren Juristen", die ebenfalls wieder zu hohen Würden kamen. Zu dem von Taylor in Erwägung gezogenen "Nürnberger Juristen - Prozeß" ist es indessen nie gekommen. Diese Vorgeschichte wird im einzelnen sehr genau und auch für den juristischen und medizinischen Laien nachvollziehbar dargestellt.

In einem zweiten Teil beschäftigen sich die Beiträge mit dem Thema "Soziale Lage und Mentalitäten der deutschen Ärzteschaft". Kater hat dazu einen sehr wichtigen Beitrag über die soziale Lage der Ärzte im NS-Staat beigesteuert, der diese Lage so geschichtlich exakt und sehr fundiert untersucht. Labisch untersucht die "hygienische Revolution" im medizinischen Denken unter dem Aspekt der Durchsetzung des biologistisch-rassistischen Paradigmas, die zu dem politischen Modell des Rassegedankens des Nationalssozialismus parallel lag und dies sowohl legitimierte als auch exekutierte. Ein dritter Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Thema "Menschenversuche für Krieg und medizinischen Fortschritt". Hier untersucht Winau zunächst einmal den "Menschenversuch in der Medizin". Er zeigt klar auf, das die KZ-Versuche ihre deutsche Vorgeschichte hatten, allerdings schon früh ein Bewußtsein für die Grenze entstand, wie der Beschluß der Berliner Ärztekammer von 1928 wenigstens ansatzweise zeigt. Der Erkenntnis der Möglichkeit folgte die Pervertierung auf dem Fuß. Parallelen zur Genom-Forschung liegen hier auf der Hand, allerdings besteht hier und heute die Möglichkeit einer rechtsstaatlich-demokratischen Regulierung, an die unter den Nazis nicht zu denken war. Unter menschlichen Aspekten nicht leicht zu lesen sind die Ausführungen von Roth zu den Unterdruckkammer-Experimenten in Dachau, die für die luftfahrtmedizinische Forschung betrieben wurden. Die Lektüre macht das Grauen nachvollziehbar, soweit dies überhaupt möglich ist. Das Beweismaterial war hier zu dünn, um zu einer abschließenden Beurteilung zu gelangen. Roth hält sich daher mit einer Urteilskritik auch angenehm zurück. Nicht weniger erschreckend ist der Beitrag von Werther zur Fleckfieberforschung.

Teil 4 des Bandes beschäftigt sich mit der Perspektive der Opfer und Täter in Bezug auf kriegschiurgische Experimente in den KZ's Ravensbrück und Dachau. Der Beitrag von Ebbinghaus/Roth bringt diese "Forschungen" unter dem Titel "Kriegswunden" auf den Punkt, da dem Leser nichts zu ersparen war. In einem weiteren Beitrag analysiert Ebbinghaus die Perspektiven von Tätern und Opfern und kontrastiert sie miteinander. Schwer erträglich, aber ungemein wichtig auch die Interviews die Walz mit Überlebenden geführt hat. Teil 5 beschäftigt sich sodann mit dem "Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen", einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Medizingeschichte, der angesichts ihrer Geschichte bei der Euthanasiediskussion äußerste Zurückhaltung anzuraten ist. Ungemein lesenswert ist der Beitrag von Baader über "Heilen und Vernichten. Die Mentalität der NS-Ärzte", der weit ausholt und ruhig noch etwas ausführlicher hätte sein können. Schmuhl legt die Einzelheiten der Patientenmorde dar, durchaus mit einem Schwerpunkt auf der "Kinder - Euthanasie" bei körperlich und geistig behinderten Kindern. Eine Passage sei zur Illustration wörtlich zitiert: " Ein Teil der Kinder, die in die >Kinderfachabteilungen< eingewiesen wurden, war unmittelbar zum Tod bestimmt, die übrigen wurden - übrigens mit Hilfe der modernsten diagnostischen Methoden - untersucht. War der Tod eines Kindes beschlossene Sache, setzte eine bestialische Prozedur ein. Immer wieder verabreichte man den Kindern Überdosen Luminal, manchmal kombiniert mit Morphium-Skopalamin-Injektionen. Diese Medikamentengaben waren nicht unmittelbar tödlich, sie führten zu einem langsamen Siechtum, das schließlich mit dem Tod der völlig entkräfteten Kinder endete. Dieses Verfahren diente dazu einen natürlichen Krankheitsverlauf vorzutäuschen. Noch brutaler ging man z.B. in bayerischen >Kinderfachabteilungen< vor, wo man die zum Tode bestimmten Kinder einfach verhungern ließ. Die Zahl der Kinder, die auf diese Weise ums Leben kamen wird auf mindestens 5000 geschätzt" (S.302). Diese Ausführungen sprechen hinlänglich für sich.

Teil 6 beschäftigt sich mit dem immer wieder aktuellen Thema "Medizin und Ethik". Unbedingt lesenswert ist der Beitrag von Dörner über das medizinische Selbstverständnis der Angeklagten, die bar jeder Reue waren. Seidel beschäftigt sich mit zwei Sachverständigen in diesem Verfahren. Schmidt untersucht die Angeklagten Fischer, Romberg und Brandt aus der Perspektive des medizinischen Sachverständigen Leo Alexander, einer der Schlüsselpersonen des Verfahrens. Ursprünglich Österreicher, später nach der Flucht vor den Nazi-Schergen, Neuropsychiater in den USA, der als Gutachter den Auftrag erhielt, die medizinischen Verbrechen umfassend zu untersuchen, was mit Energie und wissenschaftlicher Akribie unternommen wurde. Besonders für Juristen interessant ist der Beitrag von Ebbinghaus über die Strategie der Verteidigung. Es handelte sich weitgehend um Rechtsanwälte, die sich bereits im ersten Nürnberger Prozeß und auch später als "Nazi-Verteidiger einen "Namen gemacht" haben wie etwa der Kölner Strafverteidiger Servatius. Der letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit den Folgen des Prozesses. So stellt Weindling die Internationale Wissenschaftskommission für Kriegsverbrechen von 1946/47 dar. Peter untersucht die unmittelbaren Reaktionen auf den Prozeß. Hier werden auch Rechtsstreitigkeiten thematisiert, die insbesondere Mitscherlich wegen seiner Veröffentlichungen zum Thema aushalten mußte. Wunder beschäftigt sich mit dem "Nürnberger Kodex" von 1947, der für die medizinische Forschung wenigstens moralische Verbindlichkeit haben sollte. Er faßt die Diskussion wie folgt zusammen: "Das Vermächtnis von Nürnberg ist die dringend gebotene individualethische Bindung der Medizin und die Absage an jede kollektiv-ethische Orientierung. Eine humane medizinische Forschung und die Medizin der Zukunft sind dem Wohl konkreter Menschen verpflichtet" (S.487). Dies ist heute aktueller denn je. Ein vorzüglicher Anhang enthält etwa die Kurzbiographien der Beteiligten am Nürnberger Ärzteprozeß.

Eine überaus wichtige Veröffentlichung, die umfassend zur Kenntnis genommen werden sollte, nicht zuletzt als Mahnung an die Medizin der Zukunft, die vor neuen Pervertierungen nicht gefeit ist.


Impressum | Datenschutz