Dr. Thorsten Kuthe
Erstes Buch zur Europäischen
Aktiengesellschaft
Eine Rezension zu:
Theisen, Manuel René / Wenz, Martin
Die Europäische Aktiengesellschaft
Recht, Steuern und Betriebswirtschaft der Societas Europaea
(SE)
Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2002, 703 S., 79,95 €
ISBN 3-7910-2061-7
http://www.schaeffer-poeschel.de
Das vielgerühmte "Wunder von Nizza" bezeichnet die
Einigung der EU-Mitgliedsstaaten auf einen Rechtsrahmen für eine
Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE). Mehr als 40 Jahre
hatte man in der EU an einer solchen Gesellschaftsform gearbeitet. Das
vorliegende Werk umfassend diese Gesellschaftsform. Dabei werden die Themen
Recht, Steuern und Betriebswirtschaft aufgegriffen und von verschiedenen
Autoren in Beiträgen bearbeitet, die sich jeweils sowohl mit den
Hintergründen, Fragen der praktischen Handhabung sowie aktuellen und
künftigen Entwicklungen beschäftigen. Die Autoren setzen sich aus
Wissenschaftlern und Praktikern der verschiedenen Fachrichtungen zusammen.
Teil A beschäftigt sich mit Hintergründen, historischen
Entwicklungen und Grundkonzeptionen. In sehr allgemeinen Beiträgen werden
die Bedeutung von Rechtsformen insbesondere in Europa sowie der
Gesetzgebung Weg hin zur Europäischen Aktiengesellschaft aufgezeigt.
Teil B beschäftigt sich mit der Gründung einer SE. Die
verschiedenen - in einem numerus clausus begrenzten - Möglichkeiten der
Gründung werden dargelegt. Es wird aufgezeigt, dass in vielen Punkten die
nationalen Gesetzgeber gefordert sind, Regeln zur Schaffung der SE mit
Bezug auf das jeweils nationale Aktienrecht zu kodifizieren. Knapp aber
praxisnah wird der Ablauf der Gründung einer SE erläutert, etwa im Fall der
Umwandlung, einschließlich der wichtigen Fragen, inwiefern eine Zustimmung
der Hauptversammlung notwendig ist oder ein solches Verfahren der
Rechtsmäßigkeitskontrolle durch Minderheitsaktionäre unterliegt.
Thema von Teil C ist die grenzüberschreitende Sitzverlegung einer
Europäischen Aktiengesellschaft. Hierzu wird zunächst allgemein dargelegt,
welche Bedeutung die Sitzverlegung in Zeiten der Globalisierung und
Internationalisierung hat und welchen Rechtsrahmen das Internationale
Gesellschaftsrecht im allgemeinen und das Europäische Gemeinschaftsrecht im
besonderen hierfür aufstellt. Die letztgenannten Ausführungen umfassen die
Daily Mail- und die Centros-Entscheidung des EuGH, jedoch noch nicht die
Heininger-Entscheidung, da diese erst später erging. Insofern sind die
Darlegungen an diesem Punkt etwas überholt, bleiben im allgemeinen jedoch
weiterhin gültig. Anschließend wendet sich die Darstellung den
Möglichkeiten einer grenzüberschreitende Sitzverlegung nach der Verordnung
zur Europäischen Aktiengesellschaft zu. Dabei wird sowohl die
innergemeinschaftliche Sitzverlegung, als auch die Sitzverlegung aus dem
oder in das EU-Ausland besprochen. Im einzelnen wird dargelegt, welche
Maßnahmen bei einer Sitzverlegung im Wegzugstaat und im Zuzugstaat bei der
praktischen Durchführung einer Sitzverlegung zu treffend sind
Als nächstes wird die Corporate Governance der SE behandelt, d.h.
die Organverfassung in der Gesellschaft. Die SE bietet bezogen auf die
Leitungsorgane die Möglichkeit, zwischen einem unitaristischem Modell nach
angelsächsischem Konzept und einem dualistischem Modell
kontinentaleuropäischer Prägung zu wählen. Die Grundstrukturen dieser
beiden Modelle (einheitliches Board einerseits, Vorstand/Aufsichtsrat
andererseits) werden dargelegt und kurz gewürdigt. Anschließend wird
gezeigt, welche Auswirkungen die SE auf die schwelende Auseinandersetzung
zwischen beiden Konzepten hat.
Jahrzehntelang stand der Streit über die Mitbestimmung in der
Europäischen Aktiengesellschaft einer Einigung der EU-Mitgliedsstaaten
bezüglich einer solchen Rechtsform im Weg. Gefunden wurde ein Kompromiss
mit Verhandlungsansatz, der aber auch neue praktische Fragen und
Rechtsfragen aufwirft. In einem hieran gemessen überraschend kurzem Kapital
wird im Wesentlichen dargelegt, in welchen einzelnen Stufen die
Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern bei der Gründung einer SE
erfolgen.
Kapitel F beschreibt die Finanzierung der Europäischen
Aktiengesellschaft, wobei Fremd- und Eigenmittelfinanzierung einschließlich
hybrider Finanzierungselemente wie etwa Gewinnschuldverschreibungen
behandelt werden. Aufgezeigt wird die grundsätzliche Orientierung der
Innenfinanzierung am nationalen Recht, die zu nicht unerheblichen
Unterschieden führen kann, wobei die Autoren zurecht zu dem Ergebnis
kommen, dass angesichts der Ausrichtung der SE auf große Unternehmen Fragen
der Mindestkapitalausstattung in der Praxis wohl eine untergeordnete Rolle
spielen werden.
Auch unabhängig von der Europäischen Aktiengesellschaft unterliegen
Rechnungslegung und Abschlussprüfung bei der (nationalen)
Aktiengesellschaft derzeit durch die zukünftig zwingende Bilanzierung
börsennotierter Gesellschaften nach IAS / IFRS einer starken
Internationalisierung. Die Europäische Aktiengesellschaft nimmt hierauf
Bezug und bringt insofern im Ergebnis wenig neues.
Ebenso spannend wie wissenschaftlich und praktisch relevant sind
die im Kapital H behandelten Fragen des Konzernrechts. Untersucht wird die
Anwendung der Grundsätze des deutschen Konzernrechts auf die Europäische
Aktiengesellschaft. Behandelt wird der Vertragskonzern, der faktische
Konzern und der qualifiziert faktische Konzern. Hierbei enthalten quasi
kusorisch eine kurze Auseinandersetzung mit der Frage der Auswirkungen der
sogenannten Haftung wegen Existenzvernichtung nach dem Bremer-Vulkan-Urteil
auf die Aktiengesellschaft - ein Thema, dass in der Literatur bisher kaum
behandelt wird. Von besonderem Interesse ist auch die Auseinandersetzung
mit der Frage, welches Konzernrecht in verschiedenen grenzüberschreitenden
Konzernen - etwa einer Gemeinschafts-SE, die von zwei Aktiengesellschaften
mit Sitz in unterschiedlichen Staaten gegründet wurden - anwendbar ist.
Ausführlich wird das als Motiv für die Gründung einer Europäische
Aktiengesellschaft wichtige Thema des Steuerrechts behandelt. Die Vorgaben
der Richtlinie zur Europäischen Aktiengesellschaft bei den verschiedenen
Formen der Gründung einer SE werden dargestellt. Es werden Vorschläge für
den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie unterbreitet
und damit einhergehender Handlungsbedarf im nationalen Steuerrecht wird
aufgezeigt. Behandelt wird neben der Gründung auch die Sitzverlegung einer
SE sowie dieBeteiligung einer SE an Umwandlungsmaßnahmen im weiteren Sinne.
Schließlich wird erläutert, wie sich die laufende Besteuerung gestaltet.
Kapital J zeigt auf, welche Einsatzmöglichkeiten es in der Praxis
für eine Europäsche Aktiengesellschaft gibt. Es werden 6 verschiedene
Modelle gebildet, in denen der Einsatz einer SE gegenüber anderen
Konstruktionen denkbar erscheint. Kurz werden Vorteile und
Gestaltungsmöglichkeiten dieser Modelle beleuchtet.
Das abschließende Kapital beschäftigt sich mit Handlungsbedarf bei
und Vorschlägen zur Ausgestaltung eines Ausführungsgesetzes zur SE-VO in
Deutschland.
Abgerundet wird das Buch durch einen Anhang, der die SE-VO, die
SE-RL und die EG-Richtlinien zu Verschmelzung und Fusionen enthält.
Insgesamt handelt es sich bezogen auf den Zeitpunkt der Druckung
ein umfassendes Werk zur europäischen Aktiengesellschaft, das wenig Wünsche
offen lässt. Alle denkbaren generellen Themen werden zumindest kurz
behandelt. Seien Grenzen findet das Buch in der noch ausstehenden
Rechtssetzung der Einzelstaaten, hier werden jedoch Hinweise für die
Diskussion gegeben und Probleme aufgezeigt. Inzwischen gibt es in
Deutschland einen Entwurf für ein Ausführungsgesetz zur Verordnung zur
Europäischen Aktiengesellschaft und einige Diskussionsbeiträge in
Zeitschriften - den Rückgriff und die Auseinandersetzung auf Gedanken und
Anregungen des vorliegenden Werkes merkt man dabei jedoch sowohl dem
Gesetzgeber als auch der Literatur an. Wer an der vertieften
Auseinandersetzung mit dieser neuen Rechtsform in Wissenschaft und Praxis
interessiert ist, kommt derzeit an dem vorliegenden Buch nicht vorbei.
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