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"Reformen im Sanktionssystem", dazu Interview mit Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen

Reformen im Sanktionssystem


Im Dezember hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet, der das strafrechtliche Sanktionssystem reformieren soll. Der Entwurf lag im Januar dem Rechtsausschuss vor, auch der Bundesrat hat bereits Stellung genommen.

Die wichtigsten – vorgeschlagenen – Änderungen des Sanktionenrechts im Überblick:
  1. Zweckbestimmung der Geldstrafe
    5% des Geldstrafenaufkommens, das normalerweise komplett den Ländern zusteht, soll in Zukunft gemeinnützigen Organisationen der Opferhilfe zukommen (§ 40a n.F. StGB)

  2. Gemeinnützige Arbeit als Ersatz für die uneinbringliche Geldstrafe
    Die uneinbringliche Geldstrafe soll künftig mit Zustimmung des Verurteilten durch gemeinnützige Arbeit ersetzt werden (§ 43 n.F. StGB, "Ersatzstrafen"). Einem Tagessatz der Geldstrafe entsprechen drei Stunden gemeinnütziger Arbeit. Erst wenn die Arbeit nicht erfüllt wird oder der Verurteilte nicht zustimmt, wird – wie bereits heute – Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet. Der Umrechnungsfaktor wird geändert; so sollen zwei Tagessätze einem Tag Freiheitsstrafe entsprechen.

  3. Abwendung der kurzen Freiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit
    Die Vollstreckung einer kurzen Freiheitsstrafe (bis zu sechs Monaten) kann durch gemeinnützige Arbeit abgewendet werden, wenn das Gericht dies gestattet. Hier entsprechen einem Tag Freiheitsstrafe sechs Stunden gemeinnütziger Arbeit. Die Arbeitsauflage ist in einer Frist von höchstens 18 Monaten zu erfüllen. (§ 55a n.F. StGB)

  4. Fahrverbot als Hauptstrafe
    Das Fahrverbot soll bis zu sechs Monate verhängt werden können, um die Lücke zur Entziehung der Fahrerlaubnis zu schließen. Gleichzeitig wird das Fahrverbot eine Hauptstrafe, so dass es unabhängig von Geld- oder Freiheitsstrafe angeordnet werden kann. Verurteilung ist jedoch weiterhin nur möglich, wenn die Tat in Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs steht. (§ 44 n.F. StGB)

  5. Verurteilung mit Strafvorbehalt
    Bisher war die Verwarnung mit Strafvorbehalt Ausnahme, künftig soll sie bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen die Regel darstellen (§ 50 n.F. StGB).

Die notwendigen Änderungen erstrecken sich auf das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung, das Jugendgerichtsgesetz, das Wehrstrafgesetz, das Bundeszentralregistergesetz, das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln, das Gerichtskostengesetz, das Sozialgesetzbuch (3. Buch), die Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte sowie das Straßenverkehrsgesetz.

Der komplette Gesetzentwurf ist abrufbar unter http://www.bmj.bund.de/images/11729.pdf.

Zu den Gründen hat Prof. Dr. Sonnen vom Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der Universität Hamburg in einem Gespräch Stellung genommen.



"Mein Appell: Strafrecht muss durchschaubar und transparent sein"

Interview zur Reform des Sanktionssystems mit Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen (Universität Hamburg)


Das folgende Interview führte Roland Meyer für Jurawelt.

Professor Dr. Sonnen war zunächst an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in den Bereichen Familien-, Jugend- und Jugendstrafrecht tätig. Seit 1978 ist er Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Er unterrichtet auch im Wahlschwerpunkt Kriminalität, seine Forschungsbiete sind Jugendstrafrecht und Kriminalpolitik. Ursprünglich in der "einstufigen Juristenausbildung" begonnen, übernimmt er vereinzelt Strafverteidigungen, hauptsächlich im Jugendbereich. Seine Mandate entsprechen seinem Interessenschwerpunkt – so kommt es schon einmal vor, dass er einen seiner Studenten verteidigt. Besonders interessiert er sich für die Verbindung zwischen Jugendkriminalrechtspflege und soziologisch-psychologischen Arbeitsfeldern sowie der Sozialpädagogik. Auf den in der Juristenausbildung vernachlässigten Schwerpunkt Jugendstrafrecht kam er durch ehrenamtliche Tätigkeiten in der Jugendarbeit – "ohne dass ich auf Lebenszeit Jugendlicher bin", wie er sagt.

Für Jurawelt nahm Professor Sonnen zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems (Link zum anderen Artikel) in einem Gespräch Stellung.

Jurawelt: Laut dem Gesetzentwurf sollen 5% des Geldstrafenaufkommens für gemeinnützige Organisationen des Opferschutzes aufgewendet werden. Halten Sie es für möglich, dass diese Regelung auf Unverständnis stößt, da das "normale" Opfer mit der Opferhilfe grundsätzlich nichts zu tun hat?

Sonnen: Im Endeffekt ist genau das gewollt: Es soll nicht so sein, dass 1/20 der Geldstrafe dem konkreten Opfer genau dieses Verfahrens zufließen. Diese Gelder sollen vielmehr in einen Opferfonds fließen, der den Geschädigten in voller Höhe kompensiert, und aus dem der Täter ein Darlehen bekommt, dass er abzubezahlen oder abzuarbeiten hat.

Jurawelt: Das erinnert an das Adhäsionsverfahren, das sehr selten angewendet wird, obgleich es doch eine sinnvolle Einrichtung ist.

Sonnen: Das ist ein gutes Beispiel von Dingen, die man in der Juristenausbildung kombinieren sollte. Der Konflikt ist nämlich nach einem Adhäsionsverfahren sowohl zivil- als auch strafrechtlich beendet. Aber man spezialisiert sich im Berufsleben, und die Prozessmaximen im Zivilrecht sind andere als im Strafrecht. Die Voraussetzungen sind anders, allein wenn man an die Begrifflichkeiten denkt, etwa die Definition der Fahrlässigkeit. Man möchte das Adhäsionsverfahren auch aktivieren, gerade im Interesse des Opferschutzes, aber es wird sich wohl so nicht durchsetzen können. Dafür sind die Widerstände in der Praxis zu groß.

Jurawelt: Denken Sie, man müsste das Adhäsionsverfahren ändern?

Sonnen: Es gibt die Überlegung, das Adhäsionsverfahren auszubauen, unter anderem im Jugendbereich. Es würde die Konfliktbereinigung beschleunigen, und gerade in diesem Bereich ist Schnelligkeit schon von praktischer Bedeutung. Wenn dort ein oder zwei Jahre später eine Schadensersatzklage eingereicht wird, wissen junge Menschen häufig gar nicht mehr, worum es geht.

Jurawelt: Größter Reformaspekt ist die gemeinnützige Arbeit als Ersatz für uneinbringliche Geldstrafen. Läuft das nicht eigentlich dem Strafzweck zuwider, wenn mittellose, häufig arbeitslose Täter durch die unentgeltliche Arbeitsbelastung weiter entsozialisiert werden?

Sonnen: Genau das Gegenteil ist beabsichtigt: Normalerweise tritt an die Stelle der Geldstrafe, die ein Täter nicht bezahlen kann, die Ersatzfreiheitsstrafe. Diese belastet den Vollzug, die Haftplätze sind überfüllt, und die kurzzeitige Freiheitsstrafe kappt auch die letzten sozialen Bezüge in Freiheit. Außerdem hat die kurzzeitige Freiheitsstrafe so etwas wie die Gefahr einer "Ansteckung": Man kommt mit kriminellen Profis zusammen, denn auch in kurzer Zeit kann man viel Negatives lernen. Auf der anderen Seite bleibt im Vollzug auch nicht viel Zeit, mit dem Täter etwas Positives anzustellen. Genau da macht die gemeinnützige Arbeit Sinn, wenn dort vermittelt wird, dass an einer Straftat nicht immer nur zwei beteiligt sind, also Täter und Opfer, sondern das Gemeinwesen. Das nennt man "Restoritive Justice". Eine gemeinnützige Arbeit zu leisten mit dem Gedanken, etwas wieder gut zu machen und gleichzeitig eine gewisse Verantwortung auf sich zu nehmen, auch gegenüber der Gemeinschaft, das ist das Ziel.

Jurawelt: Die Erfahrung mit Arbeitsleistungen hat ihren Ursprung im Jugendstrafrecht. Von Seiten der Jugendgerichtshilfe hört man, dass die Ableistung der sog. "Sozialstunden" häufig Probleme bereitet, da die Jugendlichen uneinsichtig und unwillig zur Leistung sind. Kann man das so auch auf Erwachsene übertragen?

Sonnen: Ich selbst war bis vor kurzem Vorsitzender der Straffälligen- und Bewährungshilfe (SBH) in Berlin. Dort gibt es ein Projekt "Arbeit statt Strafe / Schwitzen statt Sitzen". Dies ist in der Tat nur mit Begleitung und Motivation möglich. Viele sind es auch gar nicht mehr gewohnt, regelmäßig von einer bestimmten Zeit bis zu einer bestimmten Zeit zu arbeiten, Viele muss man erst wieder an regelmäßige Arbeit heranführen. In Berlin arbeiten wir in diesem Bereich mit einer Malerkolonne, die Schulen renoviert. Dort gibt der Schuletat eine Renovierung in den nächsten Jahren nicht her, so dass auch keine Konkurrenz zu ortsansässigen Malerbetrieben entsteht. Das Tolle daran: Dort wird ja nicht nur in den Ferien gearbeitet, sondern auch in der Schulzeit, und die Täter bekommen dann mit, wie die Schüler darauf reagieren. Sie merken plötzlich, dass sie etwas Gemeinnütziges tun, was ihnen ein positives Feedback vermittelt und damit ein positives Selbstwertgefühl. Aber es muss angeleitet sein, bedenkt man einmal an die großen Probleme, gerade in diesem Baubereich: Da spielt Alkohol eine große Rolle, und eine kräftig trinkende Malerkolonne in der Schule wäre nicht denkbar. Es muss also nicht nur fachlich kontrolliert, sondern auch pädagogisch begleitet werden.

Jurawelt: Sind diese gemeinnützigen Arbeiten häufig die klassischen Jobs der Zivildienstleistenden?

Sonnen: In anderem Umfang – aus dieser Gruppe arbeitet z.B. nicht der Einzelne mit einzelnen älteren Menschen, sondern eine Kolonne arbeitet dort, die beispielsweise mit den Bewohnern dieser Einrichtung plant, wie der Garten zu gestalten ist. Man kann hier fragen, was gemeinnützig ist: Das Olympiastadion in Berlin ist z.B. sicher eine gemeinnützige Einrichtung, und mir ist ein Täter bekannt, der als Arbeitsauflage dort saubermachen sollte. Gleichzeitig trainierte Hertha BSC dort, und er hat freiwillig auch die Bälle für die Spieler geholt. Er hatte also unmittelbaren Kontakt zu Bundesliga-Spielern. Er wollte nie wieder weg von diesem Job, der eigentlich nur gedacht war auf Zeit.

Jurawelt: Die Geldstrafe ist ein anonymes und schnell anzuwendendes Sanktionsinstrument – man kann sie schnell überweisen, und der Strafmakel ist beseitigt. Die gemeinnützige Arbeit hingehen könnte doch den Betroffenen peinlich sein, weil sie eben öffentlich ist. Ist das ein Umdenken in der Sanktionspraxis?

Sonnen: Es gibt hier eine interessante Erfahrung am Berliner Beispiel: Dort erhält man natürlich auch entsprechende Arbeitskleidung, und Maler haben traditionell eine weiße Kleidung. Es ist aber "in", dass man ein Logo auf der Kleidung hat, denn jede Putzkolonne hat auf dem Rücken ein Logo. Nun heißt der Verein Straffälligen- und Bewährungshilfe, abgekürzt SBH. S steht für Straffällig. Die dort Tätigen sind aber so stolz auf ihren Job, dass sie sich Gedanken darüber gemacht haben, ein Logo auf der Kleidung zu platzieren. Nachdem wir sie darauf aufmerksam gemacht hatten, dass sie sehr schnell als Straffällige identifiziert werden könnten, sagten sie: "Aber H steht doch für Hilfe"! Ich hätte größere Widerstände erwartet. Ich habe das aber auch in den USA erlebt, wo die gemeinnützige Arbeit viel stärker ausgebaut ist als bei uns, am Lake Michigan. Dort gibt es eine Badestelle, wo nach Badeschluss abends etwa 100 Kids den Strand fegen, unter Anleitung. Die kommen bewusst spät abends weil sie nicht identifiziert werden sollen. Aber bei uns liegt hier wohl nicht das große Problem!

Jurawelt: Durch den Wegfall vieler Ersatzfreiheitsstrafen sollen Geld und Haftplätze gespart werden. Wird diese Einsparung nicht durch den Aufwand der Beaufsichtigung der Arbeitsleistung kompensiert?

Sonnen: So eine Malergruppe von 12 – 15 Leuten müsste natürlich durch eine Vollzeitkraft beaufsichtigt werden. Auf der anderen Seite sind Haftplätze auch sehr teuer, und es gibt volkswirtschaftliche Überlegungen unter der Frage nach der Kosten-Nutzen-Relation. Da sieht die gemeinnützige Arbeit in der aktuellen Situation gar nicht schlecht aus. Bei der Herbstkonferenz der Justizminister haben z.B. Bayern und Baden-Württemberg berichtet, wie viele Hafttage sie durch Arbeitsauflagen eingespart haben und das in Geld umgerechnet.

Jurawelt: Mit gemeinnütziger Arbeit soll auch die Vollstreckung der kurzen Freiheitsstrafe, also der Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten, abgewendet werden. Hier gilt dann ja ein anderer Umrechnungsmaßstab, und zwar entsprechen 6 Stunden Arbeit einem Tag Freiheitsstrafe. Als Beispiel: Eine 6monatige Freiheitsstrafe würde dann zu 1.080 Stunden Arbeit, die innerhalb von 18 Monaten abzuleisten wären. Das ist für einen Berufstätigen kaum machbar – ist dies eine Strafe für Arbeitslose?

Sonnen: Die Arbeitslosenquote ist unter Verurteilten überproportional stark. Wer eingebunden ist in Arbeit und soziale Bezüge, hat eher eine positive Prognose, d.h. er wird weniger schnell zu einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe verurteilt. Es ist ein besonderes Problem, wenn jemand, der arbeitslos ist und gemeinnützig arbeitet und dieses Erfolgserlebnis hat, dass er etwas bewegen kann, mit der Arbeit wieder aufhört. Traumhaft wäre ja, wenn man diese gemeinnützige Arbeit dann in einen regulären Job umwandeln könnte. Es kommt dabei auch immer darauf an, was man macht. Man kann ja in einem Bereich jobben, der einem gefällt. Es gibt da attraktive Stellen im Landschafts- und Naturschutzbereich. Man könnte da sogar Hobby und Arbeit verbinden. Aber Viele sagen auch nach der Arbeitsauflage "Nie wieder".

Jurawelt: Sie sprechen von Hobby. Damit ist man zwar nah am Strafzweck der Resozialisierung, aber weit weg von dem, was sich der Bürger unter Strafe vorstellt, also eine Sanktion für ein Unrecht.

Sonnen: Auch da geht es darum, dass wir die Einstellung der Öffentlichkeit verändern. Wir müssen für eine Strafe werben, die eine Perspektive eröffnet. Sie sollte nicht nur rückwärtsgerichtet sein als Vergeltung, Schuldausgleich, Sühne, sondern auch auf die Zukunft ausgerichtet, im präventiven Sinne. Resozialisierung ist natürlich ein Schlagwort, aber es steht ein guter Gedanke dahinter, jemanden einzubinden, zu verpflichten und ihm eine Perspektive zu bieten.

Jurawelt: 2001 wurden 1/3 der kurzen Freiheitsstrafen zur Bewährung widerrufen. Erweckt das nicht den Anschein, dass die Täter es nicht verdient haben, in den "Genuss" einer solchen Straferleichterung wie gemeinnützige Arbeit zu gelangen, da viele Bewährungsversager dabei sind?

Sonnen: Man muss es auch so sehen: 2/3 haben sich positiv bewährt, das sollte man nicht unterschätzen. Bei der neuesten Rückfalluntersuchung für Jugendliche haben wir eine Rückfallquote von 79,8%. Da ist ein Erfolg von 2/3 schon sehr positiv! Aber dahinter steht natürlich ein ernstzunehmendes Problem: Wir können nicht Kriminalpolitik gegen die Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit betreiben. Wir müssen für die Reformen sinnvoll werben, denn wenn man die Rückfallquote nur um 1/3 senken könnte, würde das auch in 1/3 weniger Opfern resultieren – dort, wo es ein individuelles Opfer gibt.

Wenn man erfolgreich bei der Verhinderung von Rückfallkriminalität sein möchte, muss man auch die die Entstehungszusammenhänge erforschen. Und während einer Bewährungszeit ist das oft nicht möglich, so dass man grundlegende Dinge verändern kann. Man kann sich bemühen, Arbeit zu vermitteln oder Schulabschlüsse nachzuholen. Aber es geht hier auch vielfach um Täter, die eigene Gewalterfahrung haben, auch traumatische Erlebnisse, die sich dann bei eigenen Gewalttaten bemerkbar machen. So etwas kann man kaum aufarbeiten. Dazu braucht man Spezialisten, um so etwas wie selbst erlebte Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten.

Jurawelt: Sie erwähnten die Bewährungszeit, innerhalb derer man mit dem Täter meist nicht richtig "arbeiten" kann. Wäre das ein Grund, die Bewährungshilfe zu stärken?

Sonnen: Die Bewährungshilfe muss dringend gestärkt werden. Wir haben hier durchschnittlich knapp 80 Probanden pro Bewährungshelfer. In Österreich z.B. dürfen es maximal 30 sein! Ich kenne aus eigener Erfahrung einen hochproblematischen Jugendlichen, den ich verteidigt habe. Seine Bewährungshelferin sagte mir, sie habe für ihn pro Monat 20 Minuten Zeit. Darauf kann man auch verzichten! Aber das ist leider ein Stück weit Realität.

Jurawelt: Ein weiteres Sanktionsinstrument ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt, die zur Zeit noch die Ausnahme ist, bald aber bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen unter neuem Namen ("Verurteilung mit Strafvorbehalt") die Regel sein soll. Bekommt der Täter hier nicht das Gefühl, dass er zu folgenlos davonkommt?

Sonnen: Das sehe ich nicht so. Täter kalkulieren nicht in dem Sinne, dass sie sich vor der Tat Gedanken über die Strafe machen. Den Strafvorbehalt kennt kaum jemand. Ein Täter kennt in der Regel auch nicht die Modalitäten der Strafaussetzung zur Bewährung. Im Jugendstrafrecht denkt auch jemand, der einen Arrest bekommt, im Gegensatz zu jemandem, der eine Jugendstrafe zur Bewährung erhält, er sei strenger bestraft. Das ist in erster Linie ein Vermittlungsproblem. Ein Argument für dieses Sanktionsinstrument ist, dass etwas passiert: Man wird erwischt, es wird ermittelt, man wird angeklagt, es gibt eine Verhandlung, und es gibt ein Urteil. Das sind die Faktoren.

Jurawelt: Wird die Verurteilung mit Strafvorbehalt die Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO in gewisser Weise verdrängen?

Sonnen: Die stehen in der Tat in gewisser Konkurrenz zueinander. Aber § 59 in der reformierten Fassung hat den Hintergrund, dass Geldstrafen häufig nicht bezahlt werden können. Das ist in mehr Fällen so, als man denkt. Es gibt in der Tat das Phänomen "Neue Armut". Das Urteil ist ein ganz klares Zeichen, und vielleicht kann man dann auf die Geldstrafe auch einmal verzichten. Gedacht ist es übrigens nicht so, dass mehr Fälle, die sonst informell erledigt werden, nunmehr förmlich durch Urteil erledigt werden. Dagegen spricht allein schon die Prozessökonomie.

Jurawelt: Sehen Sie das Problem, dass bei einer informellen Erledigung des Verfahrens das Sachverhalt nicht komplett "ausermittelt" werden muss und hier durch unsauberes Arbeiten u.U. nicht rechtstaatlich gearbeitet wird?

Sonnen: Ganz deutlich: Prozesstaktische oder prozessökonomische Erwägungen sollten bei so etwas nicht im Vordergrund stehen. Allein schon aus rechtsstaatlichen Gründen darf es ein "Freikaufen" von einem Verdacht oder von einer Verhandlung nicht geben

Jurawelt: Das Fahrverbot soll nun in eine Hauptstrafe umgewandelt werden. In der Diskussion ist die Frage, ob dies nicht eine Ungleichbehandlung zwischen reichen und armen Straftätern darstellt? So könnte sich der Wohlhabende jeden Morgen das Taxi leisten, während der nicht wohl situierte Täter vielleicht sogar seine Arbeitsstelle verliert.

Sonnen: Dieses Argument wird immer bemüht werden. Früher sagte man sogar, die Geldstrafe sei ungerecht. Ein Täter, z.B. im Bereich der Wirtschaftskriminalität, kann sie leicht zahlen, ein anderer nicht. Deshalb gibt es ja die Tagessatzhöhe, die am Einkommen orientiert ist – trotzdem muss ich zugestehen, dass es immer noch eine ungleiche Belastung ist. Das allgemeine Strafrecht ist bisher relativ phantasielos, es kennt nur die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe, mit oder ohne Bewährung, sowie das Fahrverbot. Jetzt kommen neue Möglichkeiten, von denen man differenzierter gebrauch machen sollte, um Ungleichbehandlung zu verhindern.

Jurawelt: Es droht beim Fahrverbot ja u.U. auch eine erhebliche Folgekriminalisierung. Werden mehr Fahrverbote ausgesprochen, könnten sich auch mehr Täter ohne Fahrerlaubnis ans Steuer setzen.

Sonnen: Bei Menschen über 25 – 35 Jahren wird das wohl nicht der Fall sein. Bei Jugendlichen und Heranwachsenden ist empirisch belegt, dass Mobilität und das Fahrzeug als Symbol zu ausschlaggebende Faktoren sind, so dass ich hier gegenüber einem Fahrverbot durchaus skeptisch bin. Man kann es auch brutal sagen: Auch die Entziehung der Fahrerlaubnis ist bei jungen Leuten heutzutage ein kriminogener Faktor.

Jurawelt: Das Gesetz lässt offen, was passiert, wenn ein Fahrverbot aufgrund zwischenzeitlicher Entziehung der Fahrerlaubnis nicht vollstreckt werden kann.

Sonnen: In der Tat eine Regelungslücke. Es wird sicher eine zum Jugendstrafrecht analoge Möglichkeit geben, die Sanktion zu verändern. An Stelle des Fahrverbots könnte eine Geldauflage treten…

Jurawelt: …, deren Höhe aber im Gesetz unbestimmt bleibt.

Sonnen: Richtig, darüber muss man sich Gedanken machen. Im Jugendstrafrecht sind wir heute schon so flexibel, über Weisungen zu reagieren. Weisungen sind variabel, sie können ersetzt werden durch eine andere Weisung.

Jurawelt: Das Fahrverbot soll laut der Kommission, die den Gesetzestext entwarf, "keine Vergeltung für Unrecht, sondern eine Pflichtenmahnung" sein. Ist das nicht ein Widerspruch zum Strafzweck, wenn wir lediglich eine Pflichtenmahnung haben?

Sonnen: Das ist ein Widerspruch, weil wir uns im Strafrecht und nicht im Ordnungswidrigkeitenrecht befinden. Diese Pflichtenmahnung entspricht eher dem Bußgeldverfahren.

Jurawelt: Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Reformvorschläge im Strafrecht: So fordert beispielsweise die Gewerkschaft verdi eine Ausdehnung der Bewährungsstrafe auf 3 Jahre. Wie stehen Sie dazu?

Sonnen: Da befinden wir uns im Bereich schwererer oder sogar schwerster Kriminalität, denn Strafen im Bereich der 3 Jahre kommen häufig bei verminderter Schuldfähigkeit vor. Es würde schwer sein, so etwas zu vermitteln. Eine Alternative wäre das österreichische Modell – der Täter wird bestraft, lediglich die Strafentlassung, wird flexibilisiert. In Österreich ist das schon nach 1/3 der Strafe möglich, bei uns frühestens bei nach Verbüßung der Hälfte. Auf der anderen Seite gibt es in Europa Rechtsordnungen, die bei der Bewährungsstrafe andere Ansätze haben: In Frankreich kann auch eine fünfjährige Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Das kann bei Tätern Sinn machen, die voll integriert sind. Soziale Bezüge würden ja durch eine Strafe von 3 oder 4 Jahren gekappt werden. Die Frage ist: Was ist wirkungsvoller für die Verhinderung von Rückfallkriminalität? Ich persönlich habe eine gewisse Sympathie für die Strafaussetzung zur Bewährung, auch bis zu 3 Jahren. Es könnte aber auch die – negative – Sogwirkung haben, dass die Strafen sich erhöhen.

Jurawelt: Sie sind also der Meinung, dass man einfach am "Schieberegler" der Halbstrafenentlassung drehen könnte?

Sonnen: Ja. Das setzt aber eine günstige Sozialprognose voraus. Diese kann aber durch den Vollzug gerade verhindert worden sein. Diese Gefahr besteht nicht, wenn man mit einer längeren Bewährungsstrafe draußen bleibt.

Jurawelt: Es gibt auch Forderungen, einige Straftatbestände aus dem StGB herauszunehmen und als Ordnungswidrigkeit oder diese direkt durch ein von der Polizei festzusetzendes "Strafgeld" zu ahnden.

Sonnen: Strafgeld war eine Idee der früheren Justizministerin Frau Däubler-Gmelin. Die Öffentlichkeit wird aber kaum unterscheiden können zwischen Bußgeld als ordnungsrechtlicher Sanktion und Strafgeld als strafrechtlicher Sanktion. Außerdem wäre es nicht durchsetzbar und vermittelbar, wenn die Polizei als Exekutive dies tut, das wäre eine zu grobe Vermischung der Aufgaben.

Worüber man aber nachdenken sollte: Beim Versuch gibt es den Strafaufhebungsgrund Rücktritt. Die Österreicher haben einen Strafaufhebungsgrund bei Wiedergutmachung, Außergerichtlicher Tatfolgenausgleich (ATA) genannt, d.h. eine materiellrechtliche Entkriminalisierung. Für die Bagatelltaten gibt es dort einen Strafausschließungsgrund. Wenn wir hier z.B. die körperliche Misshandlung der Körperverletzung als "nicht ganz unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens", dann haben wir in der Definition schon die Bagatellgrenze. Dies könnte man zu einem allgemeinen Strafausschließungsgrund herauszukristallisieren, wäre sinnvoll, aber es ist nicht gut angesehen, denn in der Öffentlichkeit soll nicht der Eindruck entstehen, man dürfe "ein bisschen klauen".

Jurawelt: Denken Sie, dass von den reformierte Normen einige ein Schattendasein fristen werden, wie heutzutage etwa die Geldstrafe neben Freiheitsstrafe, die so gut wie nie verhängt wird?

Sonnen: Mein Appell dazu ist: Strafrecht muss durchschaubar und transparent sein. Es darf keine Abstufung der Normen im Vordergrund zu Normen im Hintergrund geben. Das Strafrecht muss aus einem differenziertem Instrumentarium an Sanktions- und Reaktionsmöglichkeiten bestehen, von dem unter rechtsstaatlichen Aspekten gebraucht gemacht werden soll – mit dem klaren Ziel, Rückfallkriminalität zu verhindern.

Jurawelt: Herr Professor Sonnen, vielen Dank für das Interview!

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