Gliederung
I. Ausgangslage und Geschichte
II. Die Lehre der Päpste nach der Aufklärung
III. Toleranz in der demokratischen Rechtsordnung
1. Der notwendige Pluralismus
2. Das Recht auf Opposition
3. Von der Tugend zur Rechtspflicht
4. Kein Wahrheitsmonopol in normativen Fragen
IV. Die Grundrechtsdemokratie des Grundgesetzes
1. Menschenwürde als Leitprinzip
2. Unmittelbar und zwingend geltende Grundrechte
3. "Mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte im Privatrecht
4. Garantie des demokratischen Rechtsstaats
V. Der Toleranzgehalt von Einzelgrundrechten
VI. Die neuen Herausforderungen
1. Das Verhältnis von Staat und Kirchen
2. Toleranzfragen als Gewissensfragen
VII. Grenzen der Toleranz des Staates und im Staat
VIII. Lernprozesse
I.
Ausgangslage und Geschichte
Wir Deutschen sind in den letzten hundert Jahren besonders
nachhaltig und oft schmerzlich darüber belehrt worden, daß die Vergangenheit
etwas ist, was zwar schwer genau erfaßbar ist, was auch lange Zeit verschwiegen
und verdrängt werden kann, was aber selten vergeht. Sie überdauert ihre Zeitgenossen,
ihre Gestalter, Täter und Opfer. Sie prägt das Bewußtsein und das Unterbewußtsein.
Sie lenkt als gespeicherte Erfahrung das Handeln der Menschen, auch wenn
sie es nicht wissen oder wahr haben wollen. Kurz: Die Vergangenheit ist mächtig.
Für die christliche Religion, bei der Erbsünde und Erlösung einen Teil der
Glaubensmitte ausmachen, ist das eine Selbstverständlichkeit.
Die große Macht der Geschichte gilt auch für unser
Thema. Die interdisziplinär geprägte Begriffsgeschichte der "Toleranz" bestimmt
weitgehend den Bedeutungsinhalt dieses Wortes in der Umgangssprache, in der
jeweiligen Fachsprache und eben auch im Rechtsverständnis, von dem nun die
Rede sein soll. Ich baue also auf dem auf, was in der vorhandenen Literatur
zur Geistesgeschichte und Philosophie, zur Kirchengeschichte und Theologie
sowie zur Soziologie dazu zu finden ist. Die erste Feststellung lautet:
Das Problem ist im Grunde so alt wie die Menschheit
selbst. Schon der Brudermord des Kain an Abel läßt sich auch als ein Ausbruch
der Intoleranz deuten. Kain ertrug es nicht, daß das Opfer seines Bruders
Gott wohlgefälliger war als das seine. Von Anfang an sehen wir hier eine
religiöse Dimension des Themas.
Das Menschenbild des antiken Humanismus (Stoa, Cicero,
Seneca) schloß bereits ein Mindestmaß von Toleranz ein, eine relative Religionsfreiheit
für unterworfene Völker in den antiken Reichen (Alexander der Große, das
römische Reich). Von der Staatsreligion abweichende religiöse Bekenntnisse
wurden geduldet, wenn die abhängigen Völker die Oberhoheit des Reiches und
- in Rom - die Verehrung des Kaisers als Gott anerkannten. Da die Christen
nur den einen Gott, den Erlöser aller Menschen, verkündeten und den Kaiserkult
verweigerten, wurden sie, bis zur Bekehrung Konstantins, als Feinde des Reiches
in periodischen Schüben grausam verfolgt.
Vielleicht nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen
lehrte der Kirchenvater Tertullian (um 200), daß niemand gegen seinen Willen
zum Glauben gezwungen werden dürfe und jeder das natürliche Recht habe, zu
verehren, was er für richtig halte.
[1]
Im Jahr 313 gebot dann das Mailänder Toleranzedikt, daß jede
Religion im römischen Reichsgebiet zu tolerieren sei. Augustinus warb im
Streit um die Ketzerrolle der Sekte der Donatisten für Toleranz mit dem Satz:
"Wer mit behutsamer Vorsicht die Wahrheit sucht, ist kein Häretiker."
[2] Die Aussage hat auch
in der innerkirchlichen Diskussion über den Umgang mit abweichenden Meinungen
bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.
Verschärft wurde die Toleranzdebatte seit dem 12.Jahrhundert,
besonders durch das 4.Laterankonzil 1215 ("Inquisitionsgesetzgebung"). Jetzt
galt nach der kirchlichen Lehre die weltliche Gewalt als verpflichtet, über
Exkommunizierte die Reichsacht zu verhängen. Seit Friedrich II., dem großen
Staufferkaiser und Erneuerer des Reiches, drohte ihnen nach den Ketzergesetzen
des Kaisers sogar der Feuertod.
Als Referent aus Konstanz muß ich hier an die Verbrennungen
von Johannes Hus und Hieronymus von Prag auf dem Konstanzer Konzil erinnern.
Hus war vom römischen König und späteren Kaiser Sigismund vorher feierlich
freies Geleit für seinen Auftritt vor dem Konzil zugesichert worden. Christen,
die vom Glauben abfielen, wurden vom Staat als Ketzer verfolgt. ( Beispiel:
Die Drohung Karl V. vs. Luther in Worms). Nur die Nichtchristen wurden in
sehr engen, zudem unterschiedlichen und schwankenden Grenzen von den "christlichen"
Staatsgewalten toleriert. Das wechselnde, oft grausame Schicksal der europäischen
Juden im Mittelalter ist dafür ein beredtes Zeugnis.
Mit der Reformation trat die Toleranzfrage in eine
neue Phase. Schon aus Gründen des Selbstschutzes traten die Reformatoren
dagegen auf, abweichende Gewissensüberzeugungen durch Inquisition und Ketzerprozesse
bis hin zum Feuertod zu verfolgen. Martin Luther forderte:
"Obrigkeit soll nicht wehren, was jedermann lehren
und glauben will. Ist genug, daß sie Aufruhr und Unfriede zu lehren wehren."
[3]
Die theologische Wahrheit spaltete sich durch die
Reformation in zwei, alsbald drei konkurrierende Bekenntnisse auf. Leidenschaftlich
und blutig geführte Glaubenskriege waren die Folge. Sie dezimierten die Bevölkerung
der betroffenen Regionen des alten Reiches und bewirkten tiefgreifende Veränderungen
im Rechts-, Staats- und Toleranzverständnis.
[4]
Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf sowie die philosophische
Schule von Salamanca traten danach für eine Rechtsbegründung jenseits des
theologischen Bekenntnisses ein, auf der Basis der christlich angeleiteten
Vernunft, um so dem wechselseitigen
Morden der Religionskriege
im Namen Christi ein Ende zu bereiten.
Aus diesem Geist sollte das friedliche Nebeneinander
der christlichen Konfessionen ermöglicht werden, das bereits mit dem Augsburger
Religionsfrieden (1555) und - nach den grausamen Erfahrungen des Dreißigjährigen
Krieges - mit dem Westfälischen Frieden zu Münster und Osnabrück 1648 angestrebt
wurde.
Die Religionsphilosophie der
Aufklärung führte
den Begriff der
natürlichen Religion ein. Er schloß die Duldung religiöser
Minderheiten durch den Staat ein. Diese Auffassung setzte sich der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung (1776), in den Toleranzgesetzen Josephs II. (1781),
in der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution
(1789) sowie im Preußischen Allgemeinen Landrecht Friedrichs des Großen (1794)
durch.
[5] Der Religionsartikel
der Paulskirchenverfassung von 1848 sah mit Blick auf die deutschen Verhältnisse
die
Parität der Religionsgemeinschaften vor. Er knüpfte damit an die
Tradition im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation an.
Die genannten Erklärungen waren sämtlich erkennbar von den jeweiligen nationalen
historischen Gegebenheiten und Erfahrungen geprägt, machen aber zugleich
einen gemeinsamen Zeitgeist deutlich.
Aus allem geht hervor, daß die Toleranzfrage in Europa
bis in das 20.Jahrhundert hinein primär die Stellung und Behandlung abweichender
religiöser Minderheiten betraf. Toleranz war also zuerst eine Frage
der
Religion und ihrer jeweiligen
Sozialmoral, erst
danach
eine Frage des
Rechts und der
Staatsverfassung. Diese Grenzen
waren allerdings nicht vorhanden oder mindestens fließend, wo eine bestimmte
Staatsreligion allein herrschte.
In der ersten Ausgabe des
Brockhaus aus dem
Jahr 1841
[6] wird
Toleranz demgemäß so definiert:
"
Toleranz", d.i. Duldung, soviel wie religiöse
Duldung, nennt man die stillschweigende (!) Gestattung der Übung einer Religion,
die in einem Lande gesetzlich nicht anerkannt ist."
Toleranz beruhte danach, und hier zeigt sich erneut
eine Verbindung zur jeweiligen Rechtsordnung, auf der Anerkennung des
"allgemeinmenschlichen Rechts auf Religions- und
Gewissensfreiheit, und im Christentum findet sie durch die Liebe, womit dasselbe
gegen jeden Menschen ... Achtung und Wohlwollen gebietet, die vollste Geltung."
Weiter heißt es dann allerdings:
"Unter allen christlichen Religionsparteien ist
die katholische Kirche diejenige, die von keiner Toleranz weiß, da
sie sich im ausschließlichen Besitze der christlichen Wahrheit erklärt."
II.
Die Lehre der Päpste nach der Aufklärung
Der Autor des Brockhaus stützt sich hier offensichtlich
auf die Verlautbarungen des päpstlichen Lehramtes zu den programmatischen
Forderungen der Französischen Revolution nach "Freiheit und Gleichheit".
Pius VI. sprach in seiner Enzyklika "
Quod aliquantum" (1791)von einer
"absurden Freiheitslüge", die diesen Ideen innewohne. Er eröffnete damit eine
ganze Reihe entschiedener lehramtlicher Verdammungsurteile über liberale
Menschen- und Freiheitsrechte, die von seinen Nachfolgern, jeweils unter
Berufung auf das Naturrecht, die Vernunft und die göttliche Offenbarung fortgesetzt
wurde.
[7]
Besonders heftig wurde die Religionsfreiheit von
den Päpsten kritisiert.
[8]
Die Forderung nach der "Freiheit des Gewissens und
der Kulte" für alle Menschen verwarf Pius IX. 1864 (Enzyklika "Quanta cura")
unter Berufung auf seinen Vorgänger Gregor XVI. als einen "Wahnsinn" und
als eine "der Kirche und dem Seelenheil höchst verderbliche Meinung" mit
großer Schärfe. Leo XIII. setzte die Reihe der päpstlichen Verdammungsurteile
über die Religionsfreiheit in seinen Enzykliken "Immortale Dei" (1885) und
"Libertas praestantissimum" (1888) mit unverminderter Heftigkeit fort:
"Da daher der Staat notwendig die Einheit des religiösen
Bekenntnisses fordert, so hat er sich zu der allein wahren, zu der katholischen
(lies: Religion) nämlich, zu bekennen."
[9]
Pius XII.
[10] blieb dieser Tradition noch 1953 nachdrücklich treu. Erst
Johannes XXIII. legte in seiner Enzyklika "Pacem in terris" ein neues Menschenrechtskonzept
des katholischen Lehramtes vor, das auch die Religionsfreiheit einschloß und
damit in einem klaren Gegensatz zu den Lehren seiner Amtsvorgänger stand.
Das Zweite Vatikanum vertritt jetzt das Gegenteil der durch Jahrhunderte tradierten
Lehre
[11], nämlich
die allgemeine Religionsfreiheit.
[12] Kritiker versuchen das damit zu erklären, daß die katholische
Kirche sich in einer zunehmend säkularisierten und von anderen Großreligionen
geprägten Welt auf ihre Minderheitenposition in vielen Weltregionen neu einstellte.
Mit der Aufklärung wird der Toleranzbegriff zunehmend
ausgedehnt. Er beschränkt sich nicht mehr auf den religiösen Bereich, sondern
umfaßt jetzt auch die Bereitschaft zur Duldung anders Denkender und anders
Handelnder auf anderen Gebieten.
[13] Schon früh kam der Gedanke auf, daß "Religionsfrieden nur
ein Toleranz, und Caesar nicht die Macht gehabt (habe), (ein) perpetuum daraus
zu machen".
[14] Jetzt wurde sogar die bloße Duldung abweichender Überzeugungen
als ungenügend empfunden. Es sei vielmehr eine grundsätzliche Akzeptanz der
Vertreter abweichender Orientierungen anzustreben. Dafür wirbt ein Goethe-Wort:
"Toleranz sollte eigentlich
eine nur vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden
heißt beleidigen."[15]
Die historische Erfahrung lehrt allerdings, daß die
Toleranz, wenn sie zeitlich begrenzt geübt wird, allzu häufig nicht von der
Akzeptanz oder
Anerkennung sondern von der
Intoleranz
gegenüber den zeitweise Geduldeten abgelöst worden ist. Nicht zuletzt aus
dieser Erfahrung ist die weltweit zu beobachtende Entwicklung zu demokratisch
- pluralen Verfassungsstaaten entstanden und zur derzeit weltweit dominanten
politischen Strömung geworden. Ihr Ansehen ist so groß, daß auch autoritäre
Systeme aller Schattierungen sich den Namen und den Anschein einer Demokratie
zu geben versuchen.
III.
Toleranz in der demokratischen Rechtsordnung
Ausgangspunkt und Richtmaß der Toleranzproblematik
ist in einer freiheitlichen Ordnung die Staatsverfassung. Verfassungen spiegeln
in der Regel die Unrechts- und Leiderfahrungen jener Generationen, welche
sich veranlaßt sehen, eine neue Staatsverfassung zu schaffen. Sie spiegeln
also historische Lernprozesse. Das waren in Deutschland während des vergangenen
Jahrhunderts überwiegend Prozesse schmerzhaften, pathologischen Lernens. Will
man Verfassungen richtig verstehen, muß man sie aus dem Kontext ihres Entstehens
lesen und auslegen. Das spricht übrigens dafür, daß Verfassungen, entgegen
der Auslegungsmethode des Bundesverfassungsgerichts, zuerst vom Willen der
historischen Verfassungsgeber her interpretiert werden müssen. Das häufig
zitierte Wort von der angeblichen sog. Stunde Null bei einem staatliche Neubeginn,
nach einem Systemzusammenbruch ist ein Irrtum. Es übersieht unlösbare historische
Zusammenhänge und schafft Raum für realitätsfremde Träume. Ich betone das,
weil zwei solche angebliche deutsche Nullstunden vielfältige solche Illusionen
veranlaßt haben. Es gibt in der Menschheitsgeschichte nach der Vertreibung
aus dem Paradies keine Stunde Null. Es gab sie weder 1945 noch 1989 nach
dem Untergang zweier sehr unterschiedlicher totalitärer Diktaturen. Unsere
Vergangenheit ist und bleibt immer bei uns.
Aus ihr folgt ein Teil unseres Schicksals und unseres
Weltverständnisses. Ihr Einfluß auf die brennend wichtige Frage, wie man
eine Verfassung und wie man Gesetze zutreffend im Sinne einer Demokratie
und des Rechtsstaates auszulegen hat, wäre eine eigenen Erörterung wert. Das
lasse ich hier beiseite. Vielleicht wird es in der Diskussion eine Rolle spielen.
Nach dem Grundgesetz von 1949, das seit 1990 im vereinten
Deutschland gilt, ist die Bundesrepublik ein demokratischer Rechtsstaat.
Demokratie ist jene Herrschaftsform, in der die Herrschaft von
Menschen
weitgehend durch die Herrschaft verfassungsgemäß verabschiedeter demokratisch
zustande gekommener
Gesetze ersetzt wird. Sie gelten nach Art.
3 GG für alle Bürger gleich. Hinter dem demokratischen
Gesetz steht
der in den parlamentarischen Organen gebildete
Gemeinwille des Volkes.
Die normativen Regelungen gehen über die Organe der repräsentativen Demokratie
auf den Souverän, also das Volk zurück.
Herrschaft des Volkes ist also das Ziel der Demokratie.
Das Mittel dazu ist der Mehrheitsentscheid. Die Anerkennung der Demokratie
als Staatsform bedeutet demnach, daß der jeweiligen Mehrheit das Recht zugestanden
wird, für alle verbindliche Gesetze zu verabschieden. Das wiederum setzt
die Vorstellung voraus, der Gebotsinhalt der Gesetze sei mit den jeweiligen
gesetzgebenden Mehrheiten veränderbar. Es gibt in der Demokratie also von
diesem Ansatz her keine unverrückbaren normativen Wahrheiten. Demokratisch
erlassene Gesetze gelten auf Zeit, sind nach Mehrheitswechseln veränderbar.
Die gegenwärtige Regierungsmehrheit hat das nach dem Regierungswechsel 1998,
nicht nur im Arbeitsrecht, beispielhaft vorgeführt.
1. Der notwendige Pluralismus
Wer sich auf die Demokratie einläßt, muß nach der
Logik dieses Verfassungssystems damit rechnen, daß er, mindestens zeitweise,
nicht zur regierenden Mehrheit gehört. Er ist also, mindestens theoretisch
und im Grundsatz, bereit, konkurrierende normative "Wahrheiten" und Gerechtigkeitsvorstellungen
als maßgeblich für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive anzuerkennen.
Das gilt, solange diese in verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzen verbindlich
für alle Bürger festgeschrieben sind. Die Demokratie als Staatsform gewährleistet
also prinzipiell den Wettbewerb unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen,
auf welchen religiösen philosophischen oder weltanschaulichen Grundlagen
diese beruhen mögen.
Diese grundsätzlich Aussage bedeutet allerdings nicht,
daß Demokratien generell gegen autoritäre oder totalitäre Versuchungen gefeit
seien. Die Geschichte der Französischen Revolution zeigt das eindrücklich.
Für Robespierre und St. Just gab es nur zwei Gruppen von Menschen, die
Patrioten
als Anhänger der Revolution einerseits und die "Angehörigen von Faktionen",
die Verräter, Feinde also, andererseits. Die einen waren im Recht, die andern
im Unrecht. Nur die Patrioten waren das
gute Volk, das nun herrschen
sollte, allerdings unter der Leitung und Erziehung durch seine wahren Führer,
die
Jakobiner. Toleranz gegenüber den Feinden der Revolution wäre
aus der Sicht der Revolutionäre Verrat am Schicksal der Republik gewesen.
Die Revolutionäre waren, worauf Iring Fetscher hingewiesen hat, insoweit
Schüler von J. J. Rousseau
[16]
Sehr früh zeigt sich ein eingewurzelter Trend in Demokratien,
nämlich ein Streben nach
nationaler,
kultureller und /oder
sozialer Homogenität. Schon Alexis de Tocqueville hat bemerkt,
daß eine siegreiche demokratische Revolution in der Regel zur Zentralisation
im Sinne einer Homogenisierung von Staat und Gesellschaft tendiere.
[17] Das Vorhandensein
von konkurrierenden Parteien war nach diesen Demokratie-Vorstellungen überflüssig
und schädlich. Rousseau hat dazu, eher resignativ, bemerkt, wenn es schon
unterschiedliche Gruppen innerhalb einer Republik gebe, dann besser möglichst
viele, damit sie sich gegenseitig neutralisieren könnten.
[18] Rousseau trat ausdrücklich
für religiöse Toleranz ein. Nur die Katholiken schloß er davon aus, weil
sie von den nichtkatholischen Mitbürgern annähmen, daß diese
verdammt
seien
[19].
2. Das Recht auf Opposition
Erst im 19. Jahrhundert setzte sich, vor allem von
Großbritannien her
[20], die Einsicht durch, daß eine parlamentarische Demokratie,
wie sie für Flächenstaaten notwendig ist, nur funktionieren kann, wenn eine
Pluralität von Parteien besteht und die jeweiligen Minderheit im Parlament
die Rechte einer legalen Opposition ausüben kann.
Im Grundgesetz kommt das Wort Opposition nicht vor.
Auch die staatsrechtliche Literatur zur Funktion und Rechtsstellung der parlamentarischen
Opposition ist eher schmal.
[21] Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen zu Parteiverboten
aber schon früh festgestellt, daß es ein Recht auf die verfassungsmäßige
Ausübung der Opposition gegen die Regierungsmehrheit gebe.
[22] Das BVerfG hat in
einer Entscheidung zu § 90a StGB auch den Begriff der Toleranz ausdrücklich
verwendet.
[23]
Die verfassungsrechtliche Verankerung der Opposition
im Sinne einer unverzichtbaren Bauelementes der parlamentarischen Demokratie
hat große Bedeutung für das Staatsverständnis. Sie besagt, daß die politischen
Parteien miteinander in einem permanenten geistigen Wettbewerb stehen. Sie
sind also Gegenspieler mit ihren unterschiedlichen Programmen und Zielen,
aber solche, die notwendige Bestandteile des Systems sind, wie Art. 21 GG
bestätigt. Dieser politische Ideen- und Politikwettbewerb kann als die Form
einer "ideellen Marktwirtschaft" verstanden werden.
In der Phase des Niedergangs der Weimarer Republik
hat der spätere zeitweilige Kronjurist des NS-Regimes, Carl Schmitt, die
These aufgestellt, das Wesen des Politischen sei ein "Freund ./. Feind" -
Verhältnis der politischen Gegenspieler, notfalls bis zur physischen Vernichtung
im Krieg oder Bürgerkrieg.
[24] Für die Demokratie gilt nach ihrem
Grundkonzept etwas völlig anderes. Politik ist nach dem Verständnis der Demokraten
das Ringen um die Lösung von Regelungsproblemen. Keine der Parteien, die
daran teilnehmen, hat eine Garantie für die "Wahrheit" oder "Richtigkeit"
ihrer Vorschläge und Konzepte. Darum sind demokratische Parteien bereit,
sich der jeweiligen Mehrheit der Normsetzungsorgane unterzuordnen, auch wenn
sie deren Regelung für sachwidrig, "falsch" oder unangemessen halten. Diese
Bereitschaft zur Toleranz und zur Akzeptanz gegenüber verfassungsgemäß zustande
gekommenen Mehrheitsentscheiden ist ein unverzichtbares Strukturelement der
Demokratie und eine notwendige Haltung aller Demokraten.
3. Von der Tugend zur Rechtspflicht
Das Zwischenergebnis des gemeinsamen Nachdenkens über
die Funktionsbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates lautet: Demokratie
ist die Staatsform, in der Toleranz gegenüber abweichenden Überzeugungen
im Rahmen der Rechtsordnung zu einem Kern-bestandteil des Staatsaufbaus erhoben
ist. Einfach gesagt: In der Demokratie wird aus der Tugend der Toleranz eine
Rechtspflicht. Wer die absolut richtigen Konzepte zur Lösung der Weltprobleme
zu besitzen glaubt, muß die Geduld und Toleranz aufbringen, darauf zu warten,
daß er die Mehrheit von der Richtigkeit seiner "Wahrheiten" überzeugt.
Für ungeduldige Demokraten schafft das gelegentlich
Probleme:
Mit besonderer Schärfe hat sich die Toleranzfrage
im Nachkriegsdeutschland gestellt, als in den sechziger Jahren die große Koalition
regierte und eine außerparlamentarische Opposition entstand. Die bis dahin
ungewöhnlichen Formen der Artikulation abweichender politischer Überzeugungen
(Massendemonstrationen, provokative "Kunstformen", Straßenblockaden, "ziviler
Ungehorsam", "kalkulierte Regelverletzung", "Gewalt gegen Sachen" u.ä.) stellten
sowohl die Opponenten als auch die staatlichen Instanzen vor ganz neue Herausforderungen
und vor die Frage nach den Grenzen der Toleranz bei der Ausübung der Meinungs-,
Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, also garantierter Grundrechte der
Verfassung.
Der amtierende Bundeskanzler Brandt führte damals,
zusammen mit den Ministerpräsidenten aller westdeutschen Bundesländer, eine
generelle Überprüfung der Verfassungstreue für alle Bewerber zum öffentlichen
Dienst ein. Diese Regelüberprüfungen wurden von den Betroffenen und anderen
Kritikern bald als "Berufsverbote" bezeichnet. Daraus entstand abermals eine
über Jahre hin andauernde, heftige Diskussion zu der Frage nach dem Verhältnis
zwischen Demokratie und Toleranz. Sie stellt sich in der jeweiligen gesellschaftlichen
und politischen Situation immer neu und kennt schon deshalb, wegen des ständigen
Wandels der Rahmenbedingungen, vielleicht keine endgültigen Antworten.
4. Kein Wahrheitsmonopol in normativen Fragen
Der demokratische Verfassungsstaat enthält nach dem
bisher Gesagten zwei allgemein verpflichtende Grundelemente der politischen
Toleranz:
- Niemand besitzt in
der Demokratie bei normativen Fragen den Anspruch auf eine "absolute Wahrheit".
- Die Minderheit genießt
im Prozeß der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung prozedurale
Schutzgarantien, die von der Mehrheit zu respektieren sind.
Die gebotene Toleranz der unterlegenen Minderheit
gegenüber den Mehrheitsentscheiden im Parlament bedeutet andererseits noch
keine dauerhaft gewährleistete Existenzsicherung der Demokratie. Das zeigt
das Schicksal der Weimarer Republik. Deren Ende 1933 (oder vielleicht schon
mit der "Abdankung" der verfassungstreuen großen Koalition 1930?) wurde parlamentarisch,
wenn nicht durch Beschlüsse, so doch durch das Versagen der Mehrheit im Reichstag
besiegelt.
Damit wird deutlich: Die Grundlagen der Demokratie
können durch eine unbegrenzte Toleranz gegenüber Feinden der Demokratie gefährdet
oder sogar beseitigt werden.
Hans Kelsen, der große österreichische
Staatsrechtslehrer, hat getreu seiner "Reinen Rechtslehre" die These aufgestellt,
daß auch die Demokratie durch Mehrheitsbeschluß abgeschafft werden könne.
In der Rückschau auf Weimar hat
Dolf Sternberger diese Ansicht als
selbstmörderisch für die Demokratie bezeichnet.
[25] Wieviel Toleranz können oder sollen
sich die offene Gesellschaft und der liberale Verfassungsstaat gegenüber
ihren Feinden leisten, die beides abschaffen wollen?
Genau diese Frage haben sich die Mütter und Väter
des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1949 gestellt. Ihre Antworten
sind von den Erfahrungen in Weimar, im Nationalsozialismus und in den "Volkskdemokratien"
des damaligen Sowjetblocks beeinflußt. Sie können in aller Kürze so skizziert
werden:
IV.
Die Grundrechtsdemokratie des Grundgesetzes
Das Grundgesetz hat die Befugnisse der jeweiligen
Parlamentsmehrheit (Regierungsmehrheit) in mehrfacher Weise erheblich eingeschränkt:
1. Menschenwürde als Leitprinzip
Nach Art. 1 Abs.1 GG soll die Menschenwürde unantastbar
sein. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
Das deutsche Volk bekennt sich
darum zu unverletzlichen
und unveräußerlichen Menschenrechten (Art.1 Abs.2 GG) als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
2. Unmittelbar und zwingend geltende Grundrechte im Verhältnis der Bürger zum Staat
Die Grundrechte des Grundgesetzes werden nach Art.
1 Abs.3 GG zu klagbaren subjektiv-öffentlichen Rechten, durch die der einzelnen
Bürger einen garantierten Raum freier Entfaltung erhält.
An die Stelle der Mehrheitsdemokratie, wie sie für
die Weimarer Verfassung kennzeichnend war, tritt der in Deutschland völlig
neue Typus einer Grundrechtsdemokratie. Die Grund- und Freiheitsrechte der
Bürger können, anders als in Weimar, nicht durch einfaches Parlamentsgesetz
eingeschränkt oder abgeschafft werden (Beispiel: Ermächtigungsgesetz vom
24. März 1933).
3. "Mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte im Privatrecht
Die Grundrechte schützen den Bürger nicht nur gegen
Eingriffe des Staates. Sie begründen zugleich einen mittelbaren Schutz gegen
Übergriffe privatrechtlicher Machtträger. Für die Koalitionsfreiheit ist
diese Schutzwirkung unmittelbar in Art. 9 III 2 GG angeordnet. Bei den übrigen
Grundrechten sind die Wertmaßstäbe der Grundrechtsbestimmungen im Privatrecht
nicht unmittelbar, sondern über die Generalklauseln wie "Treu und Glauben",
"guten Sitten"/ "sittenwidrig", "billiges Ermessen" u.ä. zu berücksichtigen.
Das gilt vor allem dort, wo sich im Privatrecht Partner unterschiedlicher
wirtschaftlicher oder sozialer Mächtigkeit gegenüberstehen.
4. Garantie des demokratischen Rechtsstaates
In Art. 20 GG wir die Staatsorganisation im Sinne
einer freiheitlich-demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung festgeschrieben.
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung beseitigen zu wollen, räumt
das Grundgesetz allen Deutschen ein Widerstandsrecht ein.
Den hier bezeichneten drei Grundelementen der Verfassung
wird in Art. 79 III GG ein herausragender Rang eingeräumt. Dort heißt es,
daß eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die in den Art. 1 und 20
niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig ist. Die Verfassung
verkündet hier also eine Art "Ewigkeitsgarantie" dieser "Grundrechtsdemokratie".
Der Versuch einer solchen dauerhaften Festschreibung einer bestimmten Verfassungsstruktur
ist verfassungshistorisch wie -politisch höchst interessant. Hier spiegeln
sich u.a. die Erfahrungen der Nachkriegsgeneration mit dem Scheitern der
Weimarer Republik und dem Terror zweier totalitärer Diktaturen. Diese Erfahrungen
haben auch bei der Aufnahme der Art. 18 GG (Verwirkung von Grundrechten)
und Art. 21 II GG (Verbotsmöglichkeit gegen verfassungswidrige Parteien)
Pate gestanden. Die Bundesrepublik versteht sich als eine "streitbare", "wehrhafte"
Demokratie, die den Bestand und die Sicherheit der freiheitlichen Grundordnung
mit den Mitteln eines wehrhaften Rechtsstaates auch nach innen verteidigt
V.
Der Toleranzgehalt von Einzelgrundrechten
Toleranzpflichten des Staates und der Bürger ergeben
sich auch aus einer Reihe von Einzelgrundrechten. Die Inhalte dieser Gewährleistungen
können hier nur angedeutet werden. Sie haben für die Freiheitlichkeit der
Staats- und Gesellschaftsordnung eine herausragende Bedeutung.
Jedes einzelne Grundrecht gewährleistet dem Einzelnen
einen sicheren Freiraum der Entfaltung. Das gilt für die Art. 2 - 19 GG ebenso
wie für die "Justizgrundrechte" in den Art. 100 - 104 GG. Es ist eine der
insgesamt eindrucksvollen Leistungen des Bundesverfassungsgerichts, diese
Freiheitsgarantien in einer differenzierten Grundrechtsdogmatik ausgedeutet
und ausgebaut zu haben. Daß es in Einzelfragen dazu auch heftige Kritik erfahren
hat und vor Fehlleistungen nicht absolut sicher war, entspricht seinem eigenen
Verständnis. Auch Entscheidungen des BVerfG sind, analog einer Feststellung
des Gerichts in seiner Kalkar-Entscheidung, immer der letzte Stand des möglichen
Irrtums. Auch das Bundesverfassungsgericht kann also irren. Aber es irrt
mit einer besonderen Intensität: Es irrt rechtskräftig. Auch seine irrigen
und fragwürdigen Entscheidungen werden geltendes Richterrecht.
Für die Toleranzproblematik sind zwei Gruppen von
Grundrechten besonders bedeutend. Bei den Einzelgrundrechten sind es die
Art. 3 (Gleichheit vor dem Gesetz), Art. 4 (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit),
Art. 5 (Meinungs-, Medien-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit), Art. 8 (Versammlungs-
und Demonstrations-freiheit), Art. 9 (Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit)
sowie Art. 16a (Asylrecht). Die Fragen der religiösen Toleranz werden außer
in Art. 4 GG in den Art. 140 und 141 GG behandelt. Sie regeln wesentliche
Teile des Staatskirchenrechts, gewährleisten die Religionsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit
von Kirchen und Religionsgesellschaften, deren Autonomie in den Schranken
der allgemeinen Gesetze, den Schutz der Sonn- und Feiertage sowie den Religionsunterricht
in den öffentlichen Schulen. Die Regelungstechnik dieser Fragen ist bemerkenswert.
Das Grundgesetz hat in seinem Art. 140 die Kirchenartikel (136 bis 139 und
141) der Weimarer Reichsverfassung durch eine Geltungsverweisung übernommen.
VI.
Die neuen Herausforderungen
Bis hierher habe ich einen generellen Überblick zur
Toleranzproblematik nach dem Grundgesetz zu geben versucht. In den letzten
Jahrzehnten hat sich dieses Problemfeld in einzelnen Lebensbereichern einschneidend
verändert, und zwar unter mehreren Aspekten.
In Teilbereichen der Gesellschaft haben sich die Rahmenbedingungen
des Zusammenlebens der Menschen nachhaltig verändert. So ist Deutschland
in den letzten Jahrzehnten realistisch gesehen ein Einwanderungsland gewesen.
Als Beispiel sind bestimmte Stadtteile Berlins mit ganz überdurchschnittlich
hohen Ausländerquoten zu nennen. Ein Gang durch Kreuzberg vermittelt ein
anschauliches Bild vom Umfang dieser Veränderungen. Ausgelöst wurde dieser
Zustrom nicht zuletzt durch eine intensive Zuwanderungswerbung deutscher
Industrieunternehmen und -verbände in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Der gegenwärtige, heftige innenpolitische Streit darüber, wie ein
Zuwanderungs-
oder
Zuwanderungsbegrenzungsgesetz auszusehen habe, kennzeichnet die
Aktualität des Problems ebenso wie die Diskussion über eine Reform des
Asylrechts
in Art. 16a GG.
Auch die politischen Rechte (
kommunales Wahlrecht,
Recht auf Einbürgerung, Nachzugsrecht von Kindern und Familien) langfristig
anwesender Ausländer sind in der Diskussion. Zunehmend gewinnen Fragen der
Aufnahme- und Integrationskapazität, des inneren Friedens und der Zurechnung
der Integrationskosten an die Nachfrager von Zuwanderungen Aufmerksamkeit.
1. Das Verhältnis von Staat und Kirchen
Im Bereich der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie
haben sich ebenfalls nachhaltige Änderungen ergeben. Als das Grundgesetz
beraten wurde, war die Zahl der relevanten, in Deutschland aktiven Religionsgemeinschaften
klar überschaubar. Die Verfassungsgeber hatten die beiden christlichen Kirchen
und die jüdische Glaubensgemeinschaft im Blick. Seit dem Zustrom großer Zahlen
von Muslimen unterschiedlicher Prägung und der Verbreitung zahlreicher Gruppierungen,
die sich selbst als Glaubensgemeinschaften und/oder Kirchen definieren und
den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften für sich beanspruchen, tun
sich hier weite neue Problemfelder auf. Die Toleranz als Tugend wie als Rechtsanspruch
wird hier mit ständig neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Abgrenzungsprobleme
stellen die staatlichen Behörden vor schwierige Aufgaben, wie etwa die zahlreichen
Prozesse um die Scientology-Gruppe zeigen. Dasselbe gilt für den Gesamtbereich
der Sektenproblematik mit teilweise skurrilen Phänomenen. Hier tut sich ein
religiös und weltanschaulich neutrales Staatswesen naturgemäß schwer, zu systemverträglichen,
friedens- und zustimmungsfähigen Lösungen zu kommen.
Das gilt besonders, wo es um den Rechtsstatus und
das gleichberechtigte Auftreten von Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit,
etwa auch in öffentlichen Gebäuden (Schulen) und bei staatlichen Amtshandlungen
geht. Die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat nicht nur
in Bayern die Gemüter erhitzt, vielleicht mehr durch eine mißglückte Begründung
als durch das umstrittene Ergebnis. Dieser Streit wird jetzt durch die Klage
eines Lehrers, der nicht unter dem Kreuz lehren will, erneut Nahrung bekommen.
Ähnliche Aufmerksamkeit hat in Baden-Württemberg die "Kopftuch-Klage" einer
muslimischen Lehrerin gefunden, die damit das Tragen eines Kopftuches im Unterricht
einer öffentlichen Schule als Zeichen ihrer religiösen Überzeugung durchsetzen
wollte. In Schleswig-Holstein gibt es neuerdings einen ähnlichen Rechtsstreit.
Auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vom 15.1.02),
daß das Schächten von Tieren durch einen muslimischen Metzger von der Verfassung
geschützt sei, ist breit und lebhaft diskutiert worden. Hier wird deutlich,
daß die größere Vielfalt der religiösen und auch der agnostischen Überzeugungen
in der Bevölkerung zu immer neuen Toleranzdiskursen führen wird. Es erscheint
geraten, ja geboten, auch das Bildungssystem der Bundesrepublik präziser
als bisher auf diese neue Situation einzustellen.
Die Pluralität der religiösen und weltanschaulichen
Richtungen ist nicht etwa allein aus der Zuwanderung oder Neugründung entsprechender
Gemeinschaften zu erklären. Eine maßgebliche Ursache ist wohl auch in einem
tiefgreifende Wandel des Wertebewußtseins zu suchen, von dem die Gesamtbevölkerung
in Deutschland erfaßt ist. Er betrifft zahlreiche Lebensbereiche, nicht zuletzt
Fragen der Religiösität, der Sozialmoral, des Zusammenlebens der Geschlechter
und ähnliches.
Ein Beispiel dafür ist die veränderte Beurteilung
der Homosexualität in der Rechtsordnung seit der Gründung der Bundesrepublik.
Die Radikalität des Wandels zeigt sich in der Entwicklung vom alten § 175
StGB bis zum Gesetz über die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften
durch ein Gesetz vom Herbst 2001. Nimmt man hinzu, daß die Homosexualität
im Alten (3 Mos. 18, 22 u. 20, 13) und im Neuen Testament (Römer 1, 26/27)
als schweres Übel verworfen wird, so zeigt sich hier eine grundlegende Umwertung
durch den Gesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen
dieses Gesetz verworfen, der darin eine Gefährdung des besonderen Schutzes
der Ehe nach Art. 6 GG und des daraus folgenden Abstandsgebotes zwischen
der Ehe und solchen Partnerschaften geltend machte. Ein Toleranzproblem ergibt
sich gelegentlich auch aus öffentlichen Inszenierungen und Schaustellungen
homosexueller und lesbischer Minderheitsgruppen (Love Parade, "Schwulenfeste"
u.ä.), die von der geschlechtlich anders orientierten Mehrheit als obszön
empfunden werden.
2. Toleranzfragen als Gewissensfragen
Versucht man, die wirklich wichtigen Sachfragen,
die zu Toleranzdebatten führen, in ihrer Eigenart zu erfassen, so handelt
es sich bevorzugt um religiöse, weltanschauliche und Gewissensfragen, die
von den verschiedenen konkurrierenden Gruppen und Parteien unterschiedlich
beantwortet werden. Ein Musterbeispiel dafür waren die beiden Abtreibungsentscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts. Während der Sache nach in der ersten Entscheidung
aus den siebziger Jahren jede Fristenlösung als mit der Verfassung unvereinbar
verworfen wurde, hat die zweite Entscheidung in den neunziger Jahren eine
verdeckte Fristenlösung mit vorheriger Beratung der Schwangeren für zulässig
erklärt.
Ähnlich leidenschaftlich werden gegenwärtig die Fragen
nach den ethischen und juristischen Grenzen der Forschung an embryonalen
Stammzellen debattiert. Mit der Kompromißentscheidung des Bundestages vom
Januar 2002 ist diese Diskussion nicht beendet. Vergleichbar brisant ist
die internationale Kontroverse über die Zulässigkeit der Euthanasie. Die
einschlägige Gesetzgebung in den Niederlanden hat Freiräume geöffnet, die
in Deutschland, nicht zuletzt wegen der Massentötungen "lebensunwerten Lebens"
während der NS-Zeit, weithin als unvertretbar angesehen werden. Aber die
Grenzen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) sind
auch in Teilen der deutschen Rechtswissenschaft, Philosophie und Medizin umstritten.
Die Beispiele Schwangerschaftsabbruch, Euthanasie,
Sterbehilfe und Stammzellenforschung zeigen anschaulich, daß Toleranzprobleme
vor allem dort auftreten, wo es buchstäblich um Leben und Tod geht. Nicht
anders ist es dort, wo unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche "Wahrheiten"
oder Wahrheitsüberzeugungen miteinander in Konflikt geraten. Die Glaubenskriege
nach der Reformation sowie die Weltanschauungskriege des 20. und des 21.
Jahrhunderts bieten reiches Anschauungsmaterial für Konflikte, welche die
Toleranzfähigkeit auch der vermeintlich
modernen Menschheit vor oft
unbewältigte Herausforderungen stellen. Dabei müssen die Europäer nicht auf
ferne Kontinente verweisen. Die Namen Nordirland, Baskenland, Kosovo, Mazedonien,
Bosnien u.v.a. kennzeichnen die Gegenwärtigkeit der Probleme und die Defizite
an humanen Lösungen.
VII.
Grenzen der Toleranz des Staates und im Staat?
Der moderne Verfassungsstaat ist nach seiner demokratisch-pluralistischen
Grundstruktur religiös und weltanschaulich neutral. Er kennt keine Staatsreligion
und keine staatlich vorgeschriebene Weltanschauung. Er kennt - mit Ausnahme
der Schutzgüter und "Ewigkeitsgarantien" des Art. 79 III GG - keine absoluten
Wahrheiten und Gerechtigkeiten. Die Konkurrenz der Wahrheits- und Gerechtigkeitsüberzeugungen
ist eines seiner Grundelemente. Zur Wahrung des inneren Friedens in einem
solchen weltanschaulich neutralen Staat ist eines unerläßlich: Voraussetzung
und Grundlage der staatlichen Neutralität und Toleranz ist das durchgesetzte
Gewaltmonopol des Staates. Nur wenn dies anerkannt und gesichert ist, kann
ein fairer ideeller und politischer Wettbewerb aller pluralistischen Gruppen
nach demokratischen Spielregeln stattfinden.
Bedeutet das für die Frage nach den Grenzen der Toleranz
die Antwort
"anything goes"? Soll unter Berufung auf die Relativität
aller normativen Wahrheiten und Gerechtigkeiten jeder machen können, was
er will? Ich meine nein!
Der berühmte Hans Kelsen, der Autor der "Reinen Rechtslehre"
und Hauptvertreter des staatsrechtlichen Positivismus, also der Relativität
allen Rechts, hat in seiner Schrift "Was ist Gerechtigkeit?"
[26] (Wien 1953, S. 41)
den Satz formuliert:
"
Es versteht sich von selbst, daß sich aus der
relativistischen Weltanschauung kein Recht auf absolute Toleranz ergibt; Toleranz
(lies: ist möglich /B.R.) nur im Rahmen einer positiven Rechtsordnung, die
den Frieden ... garantiert, indem sie ihnen (lies: den Bürgern/ B.R.) jede
Gewaltanwendung verbietet, nicht aber die friedliche Äußerung ihrer Meinungen
einschränkt."
Die Rechtsordnung soll also die Grenzen der Toleranz
ziehen. Wir kommen damit zurück auf die Funktion des Rechts und des Staates
in der Toleranzproblematik.
Es ist eine doppelte Funktion. Der demokratische Rechtsstaat
verpflichtet sich selbst und seine Bürger die Grundrechte und Grundfreiheiten
der anderen, auch und gerade der Minderheiten, zu respektieren und notfalls
aktiv zu verteidigen. Das wird immer wieder augenfällig, wenn extremistische,
aber nicht verbotene Gruppierungen von rechts oder links öffentliche Aufmärsche
inszenieren, die Gegnergruppen zu gewaltsamen Gegendemonstrationen provozieren.
Der Schutz der Polizei für angemeldete Demonstrationen solcher Veranstalter
stößt oft auf Unverständnis. Die Mutlangen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,
welche die Blockade von Verkehrswegen zu Demonstrationszwecken entgegen einer
mehr als achtzigjährigen Rechtstradition nicht als Nötigung eingestuft hat,
kann dazu beitragen, politische Konflikte über das bisherige Maß hinaus
auf die Straße zu verlagern. Die rechtlichen Gewährleistungen machen aus
der politischen
Tugend der Toleranz eine
Rechtspflicht des Staates
und der Mitbürger. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite ist das Handeln der Bürger
in der Demokratie an die für alle geltenden Gesetze gebunden. Gesetzesverstöße,
auch solche, die in edelster Absicht geschehen, können nach den Spielregeln
der Demokratie nicht auf staatliche Toleranz rechnen. Ein Staat, der seine
Rechtsordnung nicht gegen Rechtsbrüche verteidigt, gibt sich selber auf und
trägt "eigenhändig" zum Abbau der Rechtsordnung bei. Rudolf von Jhering hat
das in seiner weltweit beachteten Schrift "Der Kampf ums Recht"
[27] meisterhaft dargelegt.
Die Vorgänge um die über Jahre hin geduldete kriminelle "Besetzung" von Gebäudeblocks
in der Hamburger "Hafenstraße" durch die stadtstaatlichen Behörden mit ihren
Folgen in der politischen Landschaft der Stadt heute (Erfolg der Schill-Partei)
bieten ein augenfälliges Beispiel für die Wirkungen staatlichen Versagens
auf diesem Gebiet. Auch das Abdriften einzelner Gruppen der sog. "Studentenbewegung"
in die Kriminalität und den Terrorismus nach 1968 wird von Kennern der Szene
maßgeblich auf das Zurückweichen der staatlichen Behörden gegenüber der "Anfangskriminalität"
in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Göttingen und anderwärts zurückgeführt. Die
Erfahrungen mit kriminellen Aktivitäten an und in der "Freien Universität"
Berlin von August 1967 bis September 1971 sind unvergeßlich. In der öffentlichen
Erinnerung an 1968 wird heute gern übersehen und verdrängt, daß die Mittel
dieser "Bewegung" an vielen Orten sehr bald bewußt kriminell waren. Mehr
noch wird verkannt oder vernebelt, daß die Ziele der Organisatoren nicht
auf mehr Freiheit , sondern auf eine Beseitigung der freiheitlichen Grundordnung
des Grundgesetzes gerichtet waren, wie aus ihren urkundlichen Verlautbarungen
offensichtlich ist. Der Kampf gegen den "Staat des Spätkapitalismus" richtete
sich gegen eine Regierung, in der Brandt Kanzler war und die unter der Parole
"Mehr Demokratie wagen!" angetreten war.
Falsche Toleranz, gemeint ist die ungesühnte Duldung
offener und kalkulierter Rechtsbrüche, auch wenn sie unter noch so edlen
Parolen organisiert werden, kann verhängnisvolle Folgen haben. Der massenhaft
organisierte Rechtsbruch stellt die Grundlagen der Staats- und Rechtsordnung
in Frage. Denn:
"Jede echte Staatsform setzt einen festen Bestand
von politisch-materialen Werten voraus, durch di die staatliche Gemeinschaft
glaubensmäßig legitimiert und inhaltlich zusammengehalten wird. Jede politische
Staatsform wird hierdurch zugleich im Metaphysischen begründet."[28]
Mit diesem Satz begann Gerhard Leibholz seine Schrift
über "Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland", geschrieben
1932, gedruckt noch 1933. Damit wird ein fundamentaler Zusammenhang angesprochen.
Staats- und Rechtsordnungen sind keine ausschließlich rational begründeten
Zweckveranstaltungen. Sie setzen gemeinsame, metaphysisch begründete Wertgrundlagen
voraus. Rechtsordnungen beruhen notwendig auf Wertordnungen. Ein wertfreies
Recht ist undenkbar, - es wäre buchstäblich wert-los. Diese gemeinsame Wertgrundlage
von Recht und Staat ist nicht beliebig machbar und veränderbar. Wenn sie
in ihrer Kernsubstanz verloren geht oder wechselt, ist die Stabilität des
Gemeinwesens insgesamt in Frage gestellt. Leibholz hat hier in einem historischen
Augenblick, nämlich im Zusammenbruch der Weimarer Republik, eine Einsicht
formuliert, die später dahin abgewandelt wurde, daß der Staat von Voraussetzungen
lebt, die er selbst nicht schaffen kann (E.W.Böckenförde). Wir haben in Deutschland
mehrfach erlebt, daß der Wandel dieser metaphysisch begründeten Wertordnung
jeweils einen Wandel der Staats- und Rechtsordnung bewirken kann.
Wer Staat und Recht erhalten will, muß diese seine
Grundwerte gegen jeden rechtswidrigen Angriff verteidigen.
Eine der Kernfragen der Toleranzproblematik im demokratischen
Verfassungsstaat ist die Einstellung der konkurrierenden Religionsgemeinschaften
und Weltanschauungsgruppen zu dieser liberalen und auf gesellschaftliche
Pluralität ausgerichteten Staatsform. Hier eröffnet sich erneut ein weites
Erfahrungsfeld.
VIII.
Lernprozesse
Da ich vor einer katholischen Einrichtung rede, erscheint
noch eine kurze selbstkritische historische Besinnung notwendig. Über die
Einstellung des kirchlichen Lehramtes zur Demokratie, Volkssouveränität,
Religionsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit u.ä.
im 19., aber auch noch im 20. Jahrhundert habe ich bereits andeutungsweise
berichtet. Alle genannten Rechte und Freiheiten waren in der Geschichte,
gesehen im Lichte des Naturrechts und der katholischen Glaubens- und Sittenlehre,
einmal verdammungswürdig.
In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts,
ich erinnere meine Erlebnisse dort noch genau, fand einmal in Fulda eine
Jahrestagung der KDSE (Katholische Deutsche Stundenteneinigung), ein Zusammenschluß
aller Studentengemeinden statt. Das Thema lautete
"Kirche und Demokratie".
Johannes Hirschmann, einer der bedeutenden
Jesuiten
jener
Epoche, versuchte auf theologisch wie rhetorisch gewundenen Pfaden der
jungen akademischen Nachkriegsgeneration, der "skeptischen" Generation, wie
Helmut Schelsky sie genannt hat, die Vereinbarkeit der Demokratie mit der
katholischen Lehre nahezubringen. Das war nicht ganz leicht, denn er mußte
Formulierungen finden, die auch manche seiner "Brüder im Bischofsamt" nicht
verletzten, weil sie nicht lange zuvor, sowohl in der Kaiserzeit und in der
Weimarer Zeit als auch in der NS-Zeit, noch andere Staatsformen legitimiert
oder gar gepriesen hatten. Unvergessen war, daß auch die Ansichten innerhalb
der Zentrumspartei währende der Weimarer Republik über die ideale Staatsform
durchaus unterschiedlich, ja gegensätzlich waren. Neben überzeugten Demokraten
gab es ebenso überzeugte Anhänger einer monarchischen oder auch autoritären
Staatsform.
Die Annäherung der katholischen Kirche an die Staatsform
der liberalen, also pluralistischen Demokratie vollzog sich auch nach 1949
sehr allmählich. Als die ideale Gesellschaftsordnung wurde in der katholischen
Soziallehre auch noch lange nach 1945 mit Bezug auf die Enzykliken "Rerum
novarum" (1891) und "Quadragesimo anno" (1931) die sog. "berufsständische
Ordnung" angesehen. Erst die Umwandlungsprozesse der Gesamtkirche im Zweiten
Vatikanum ebneten einer entgültigen Versöhnung mit der anfangs mißtrauisch
beäugten parlamentarischen Demokratie den Weg. Da ich in den fünfziger Jahren
am "Institut für christliche Soziallehre" bei Joseph Höffner in Münster studiert
habe, berichte ich insoweit aus eigener Anschauung.
Inzwischen hat sich die Toleranzproblematik mit Blick
auf das Staatskirchenrecht erheblich verändert, vor allem durch das schon
erwähnte Auftreten einer großen Zahl neuer, konkurrierender Religionsgemeinschaften,
die für sich die Gleichstellung mit den beiden großen christlichen Konfessionen
fordern. Diese Situation bedeutet in der Tat eine neue, große Herausforderung
für den Staat und für die christlichen Kirchen.
Das Problem hat eine Fülle von Aspekten, die ich hier
kaum andeuten kann. Die erste, schwierige Frage geht dahin: Für welche "Religionsgesellschaften"
im Sinne des Art. 140 GG gelten eigentlich die Kirchenartikel der Verfassung,
also insbes. Art. 137 WRV mit seinen weitgehenden Autonomiegewährleistungen
und der Sonderstellung derer, die als Körperschaften den öffentlichen Rechts
anerkannt sind?
Eine zweite Frage geht dahin: Wie wird sich die Rechtsprechung
der obersten Bundesgerichte zur Kirchenautonomie, speziell etwa zum Sonderarbeitsrecht
der Kirchen entwickeln unter dem Einfluß der wachsenden Zahl religiöser Gruppierungen
und der sinkenden Mitgliederzahlen der "Großkirchen"? Dabei ist noch zu bedenken,
daß beide christlichen Kirchen auf dem Gebiet der früheren DDR nur noch eher
geringe Anteile der Gesamtbevölkerung repräsentieren, vor allem, wenn man
vom aktiven Mittun der Kirchenmitglieder in den Gemeinden ausgeht. Deutschland
ist aus der Sicht der christlichen Kirchen endgültig ein Missionsland geworden.
Die biblische Voraussage der "kleinen Herde" ist in augenfälliger Weise Wirklichkeit
geworden. Das Eintreten der Kirchen für Toleranz und Minderheitenschutz wird
insofern immer mehr auch eine Maßnahme der Selbstverteidigung.
Es gehört wenig Phantasie und Prognosekraft zu der
Vorhersage, daß sich der staatskirchenrechtliche und der gesellschaftliche
Status der Kirchen in nicht zu ferner Zeit verändern wird. Die Wertvorstellungen
der neuen Richtergeneration, nicht zuletzt auch der im Bundesverfassungsgericht,
hat sich in den letzten zehn Jahren nachhaltig verändert.
Heribert
Prantl, politischer Ressortleiter der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, hat das
anläßlich einer Justiztagung in Baden-Württemberg vor einigen Jahren anhand
besonders umstrittener Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dahin
zusammengefaßt, der "Geist der Achtundsechziger" sei nun auch im Bundesverfassungsgericht
angekommen. Er sah das wohl als Kompliment an.
Unterstellen wir einmal , daß die bisher unverkennbar
privilegierte Stellung der großen Religionsgemeinschaften in einem zunehmend
laizistischen Staat kaum unverändert zu halten sein wird, dann hängt deren
Überlebenskraft auch davon ab, wie sie sich auf die veränderten Rahmenbedingungen
ihres Wirkens rechtzeitig einzustellen vermögen. Welche tradierten Aktionsfelder
sollen auf jeden Fall erhalten, welche aufgegeben oder reduziert werden?
Welche Folgen hat die veränderte Stellung und Rolle der Kirchen in ihrem
Verhältnis zueinander, in ihren Umgangsformen miteinander, nicht zuletzt
auch in der Oekumene?
Mir ist bewußt, daß ich Ihnen überwiegend Fragen
statt Antworten vorgetragen habe. Wenn es wenigstens teilweise die richtigen
Fragen gewesen sein sollten, ist die Aufgabe eines Wissenschaftlers insoweit
erfüllt. Die richtigen Antworten werden wir gemeinsam suchen müssen.
[1] W.Hamel in: Evangelisches
Staatslexikon, 2.Aufl.,Stuttgart-Brerlin 1975, Sp.2640
[2] Wie vorige Fußn.
Sp. 2641
[3] M.Luther, Werke,
Weimarer Ausgabe, 1883 ff., Bd.18, 298
[4] B.Rüthers, Reformation,
Recht und Staat, in: Ders., Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 2.Aufl.,
Zürich 1993, S.36 ff., 49 ff.
[5] Erik Wolf, in:
Ev.Staatslexikon, 2.Aufl., Stuttgart 1975, Sp.2639
[6] Brockhaus, Bilder-
und Conversationslexikon für das deutsche Volk, Leipzig 1841, Bd.4, S. 447
[7] Nachweise bei B.Rüthers,
Rechtstheorie, München 1999, Rdnr. 437 ff.
[8] Vgl. Etwa Gregor
XVI. "Mirari vos" (1832) bei A.Utz/B.v.Galen, Die katholische Sozialdoktrin
in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd.1, Aachen 1976, S.148 Rdnr.14
[9] Leo XIII, "Libertas
praestantissimum" (1888), zitiert nach H.Schnatz, Päpstliche Verlautbarungen
zu Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1973, S.161 ff., 183 ff.
[10] Pius XII., Ansprache
vom 6. Dez. 1953, AAS 47, 794 ff.
[11] Erklärung über
die Religionsfreiheit vom 7.12.1965,in: H.Schnatz (Hrsg.), Päpstliche Verlautbarungen
zu Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1973, S.421. Vgl. ebenda S. 123ff.
[12] Erklärung "Dignitatis
humanae", 1965
[13] Voltaire, Art.
"Tolérance", in: ders. , Dictionnaire philosophique, (1767), Nachdruck Paris
1967,S.407
[14] Londorp, acta
publ. 2,536, 1606
[15] J.W.v.Goethe,
Maximen und Reflexionen, in: V.Einem/Schrimpf (Hrsg.) Goethes Werke, XII,
9.Aufl.,Hamburg 1981, S.385
[16] Zum Überblick
vgl. Iring Fetscher, Demokratie und Toleranz, in: A.Wierlacher (Hrsg.), Kulturthema
Toleranz, München (iudicium) 1996, S.355 ff.,360f.
[17] A. de Tocqueville,
Der alte Staat und die Revolution, Bremen o.J. (1959), S. 49 f.
[18] J.J.Rousseau,
Contrat Social, IV, 1.
[19] Nachw. Bei Fetscher
aaO. S. 365 f.
[20] Benjamin Disraeli
in seinem Roman
Coningsby : "No government can be long securewithout
a formidable opposition.", zitiert nach I.Fescher, wie vorige Fußnote, S.367.
[21] Vgl. etwa H.P.Schneider,
Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
1973; St. Haberland, Die verfassungsrechtliche Rolle der Opposition nach
dem Grundgesetz, 1995; P.Badura, Staatsrecht, 2.Aufl., 1996, E 19; R.Marcic,
Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 379 ff.
[22] BVerfGE 2,
1ff. (13); 5, 85 ff. (140).
[23] BVerfGE 12,
296 ff.
[24] C.Schmitt,
Der Begriff des Politischen, zuerst in Arch.f. Soz.wiss. u. Soz.politik,
58. Jg. 1927, S.1 ff; dann Berlin-Grunewald 1928: München und Leipzig 1932;
Neudruck Berlin 1963 mit lesenswertem Vorwort. Vgl. dazu B.Rüthers, Entartetes
Recht - Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 3.Auflage dtv-wissenschaft,
München 1994, S. 112 ff.; ders. Carl Schmitt im Dritten Reich, 2.Aufl., München
1990, S. 57 ff.
[25] D.Sternberger,
Grund und Abgrund der Macht, 1962, S. 213.
[26] Wien 1953,
S. 41.
[27] R. v. Jhering,
Der Kampf ums Recht, 23. Aufl. Wien 1946.
[28] G. Leibholz,
Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland, München 1933, S. 9.