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"Warum die hessische Wahlprüfung verfassungswidrig ist" von Jochen Zenthöfer
Jochen Zenthöfer, Berlin

Warum die hessische Wahlprüfung verfassungswidrig ist


„Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, dürfte es jedoch eine zu große Versuchung darstellen, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch die Macht in der Hand hätten, sie zu vollstrecken...„(John Locke, The Second Treatise of Government, 1689, XII/143)

O. Vorgeschichte

Das Wahlprüfungsverfahren in Hessen hat von sich reden gemacht. Lange Zeit war fraglich, ob die CDU aufgrund der Nichtveröffentlichung von Spenden beim Landtagswahlkampf 1999 gegen die „guten Sitten„ verstoßen hatte. Das hessische Wahlprüfungsgericht hatte das anfangs bejaht. Die Landesregierung von Hessen strengte daraufhin ein Normenkontrollverfahren beim BVerfG an. In seinem Ergebnis verlangt das BVerfG eine enge Auslegung der „guten Sitten„. Das Wahlprüfungsgericht stellte seine Arbeit ein. Zu Recht, wie die folgende Abhandlung zeigen wird. Die im März 2001 eingereichte Klage von Bündnis 90 / Die Grünen beim Staatsgerichtshof (Landesverfassungsgericht) wird folglich keinen Erfolg haben. Doch in Hessen kann es damit noch nicht vorbei sein: Das Wahlprüfungsverfahren ist verfassungswidrig. Es muß dringend reformiert werden.

I. Einleitung

Im Land Hessen wird am 7. Februar 1999 ein neuer Landtag gewählt. Aus dem Wahlverfahren gehen CDU und F.D.P. als Sieger hervor. Gemeinsam erringen sie 56 Sitze. Auf SPD und Bündnis 90/Die Grünen entfallen 54 Sitze. Die Abgeordneten des 15. Landtages wählen Roland Koch (CDU) zum Ministerpräsidenten. Er löst damit Hans Eichel (SPD) ab. Die Gültigkeit dieser Landtagswahl wird am 1. Juli 1999 gemäß § 15 HessWahlprüfungsG durch das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag festgestellt (Staatsanzeiger für das Land Hessen 1999, 2350ff.).Im Januar 2000 gehen beim Wahlprüfungsgericht drei Eingaben ein. Sie betreffen vor allem die Frage der Finanzierung des CDU-Wahlkampfs. Zuvor war bekannt geworden, dass die hessische CDU 1983 insgesamt 20,8 Mio. DM in die Schweiz überführt hatte. Dieses Geld wurde in den späteren Jahren nicht im Rechenschaftsbericht der Partei angegeben. Das Wahlprüfungsgericht beschließt aufgrund dieser neuen Tatsachen die Wiederaufnahme der Wahlprüfung von Amts wegen nach § 18 i.V.m. § 6 HessWahlprüfungsG. In der darauffolgenden politischen und wissenschaftlichen Diskussion wird die Verfassungsgemäßheit des hessischen Wahlprüfungsverfahrens bezweifelt. Dieser Beitrag untersucht die Vereinbarkeit des hessischen Wahlprüfungsverfahrens mit dem Grundgesetz (GG). Dieser Beitrag untersucht nicht, ob im konkreten Fall eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtens war oder ob die CDU aufgrund ihrer Finanzpraktiken gegen die in Art. 78 II Verfassung des Landes Hessen verlangten „guten Sitten„ verstoßen hat.

II. Die Vereinbarkeit des hessischen Wahlprüfungsverfahrens mit dem GG

Das hessische Wahlprüfungsverfahren muß gemäß dem Homogenitätsgebot in Art. 28 GG den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. An der Vereinbarkeit mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen könnte es fehlen.

1. Abgeordnete als Richter in eigener Sache?

Das Wahlprüfungsgericht besteht nach Art. 78 III Verfassung des Landes Hessen aus „den beiden höchsten Richtern des Landes und drei vom Landtag für seine Wahlperiode gewählten Abgeordneten„. Diese fünf Wahlprüfungsrichter können durch Urteil, das nach § 17 HessWahlprüfungsG mit seiner Verkündung rechtskräftig wird, die Ungültigkeit einer Wahl feststellen. Fraglich ist zuerst, ob ein Gericht mehrheitlich mit ehrenamtlichen Richtern besetzt sein darf. Sodann ist zu prüfen, ob die drei Abgeordneten befangen sind, da sie über ihre eigene berufliche Stellung entscheiden (zustimmend: Hinkel, Kommentar zur Verfassung des Landes Hessen, 1998, Art. 78 Nr.1). Zu ersten Frage: Die Bestellung von nicht berufsmäßigen, also ehrenamtlichen Richtern, ist nach Ansicht des BVerfG zulässig (BVerfGE 4, 387, 406; 27, 312, 319; 42, 206, 208f.; 48, 300, 317; 54, 159, 167). Auch ein überwiegend oder sogar ausschließlich mit ehrenamtlichen Richtern besetzter Spruchkörper ist nicht a priori verfassungswidrig (AK-Wassermann, Art. 92 Rdnr. 46; Jarass/Pieroth-Pieroth, Art. 92 Rdnr. 45). In der Bundesrepublik Deutschland sind z.B. die Kammern der Sozialgerichte (§§ 7ff. SGG), Arbeitsgerichte (§§ 14ff. ArbGG) und Landesarbeitsgerichte (§§ 33ff. ArbGG) mehrheitlich mit Laienrichtern besetzt, ebenso zahlreiche Berufsgerichte. Die mehrheitliche Besetzung des Wahlprüfungsgerichts mit Laienrichtern ist folglich nicht verfassungswidrig. Problematisch könnte aber sein, dass die Laienrichter per Gesetz der Legislative angehören und nur aufgrund ihrer Eigenschaft als Abgeordnete Teil des Wahlprüfungsgerichts sind. Damit könnte die erforderliche sachliche Unabhängigkeit fehlen. Art. 97 I GG untersagt es der Legislative, unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidung konkreter Fälle zu nehmen (Maunz/Dürig-Herzog, Art. 97, Rdnr. 22). Ein größerer Einfluß als die mehrheitliche Besetzung eines Spruchkörpers mit Vertretern der Legislative ist wohl nicht denkbar. Die Einflußnahme ist evident und widerspricht dem Grundsatz der Gewaltenteilung des Art. 20 II 2.Weiterhin entscheiden im Wahlprüfungsgericht Abgeordnete in eigener Sache. Amtstätigkeit in eigener Sache zu üben, ist verboten (nemo iudex in causa sua), so wird es im Verwaltungsverfahren ausdrücklich sanktioniert (§§ 20, 21 VwVfG). Die hier beteiligten Abgeordneten verlieren bei einer Auflösung des Landtages infolge ihres eigenen Richterspruchs das Mandat. Es muß nicht erwähnt werden, dass ein Mandatsverlust eine hohe politische, gesellschaftliche und finanzielle Bedeutung für jeden Parlamentarier hat. Die drei Abgeordneten im Gericht entscheiden über ihre eigene Stellung und sind folglich befangen. Ihre Mitwirkung widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien. Zudem bedeutet die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG), dass die richterliche Tätigkeit von einem nicht am Rechtsstreit beteiligten Dritten ausgeübt wird (Isensee: Zwischen Amtsethos und Parteibindung, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2000, 402, 404). Im vorliegenden Fall fehlt die Neutralität und Distanz zu den Verfahrensbeteiligten – Prinzipien, die das BVerfG (E 21, 139, 146) verlangt. Im Ergebnis verstößt Art. 78 III Verfassung des Landes Hessen aufgrund der Beteiligung von Abgeordneten im Wahlprüfungsgericht gegen das Gewaltenteilungsprinzip in Art. 20 II 2 GG, das Rechtsstaatsprinzip in Art. 28 I 1 GG und das Recht auf einen gesetzlichen Richter in Art. 101 I 2 GG.Im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung der genannten Landesnormen ist das hessische Wahlprüfungsgericht nicht als Gericht im Sinne der dritten Gewalt, sondern als Parlamentsausschuß anzusehen (ebenso: Isensee, aaO, 442). Diese Ansicht teilt auch der hessische Staatsgerichtshof in einer Entscheidung vom 9. August 2000 (NJW 2000, 2891ff; vgl. Schmidt, NJW 2000, 2874, 2875). Auch ein Blick in die Entstehung der Verfassung des Landes Hessen zeigt, dass die Bezeichnung „Wahlprüfungsgericht„ nur als anderer Name für einen Ausschuß gebraucht wurde. Der Vorsitzende des verfassungsberatenden sog. Siebener-Ausschusses, Bergsträsser, sagte, ein Wahlprüfungsgericht sei „ein Ausschuß, der die rechtlichen Möglichkeiten eines Untersuchungsausschusses hat. Das heißt, er kann auch Auskünfte einholen und Zeugen vernehmen. Das ist der tiefere Sinn.„ (Berding (Hrsg.): Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, 702). Folglich kann das Wahlprüfungs„gericht„ nicht zur abschließenden und unanfechtbaren Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl befugt sein (Redeker/Windmaier, Normenkontrollantrag der Landesregierung Hessen, 5f.). Ein solcher Eingriff, so Redeker/Widmaier zutreffend, „setzt im Bereich der Wahlprüfung einen mit Suspensiveffekt versehenen Rechtsweg zu einem unabhängigen staatlichen Gericht voraus„. Im folgenden wird deshalb die Vereinbarkeit des hessischen Parlamentsausschusses für Fragen der Wahlprüfung (gesetzlich „Wahlprüfungsgericht„) mit dem Grundgesetz behandelt.

2. Rechtsschutzgarantie (Art. 19 IV GG) gewährleistet?

Das hessische Wahlprüfungsverfahren könnte gegen Art. 19 IV GG verstoßen. Das Grundgesetz garantiert einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte in einem gesetzlich geordneten Verfahren gegen Maßnahmen der Staatsgewalt (Sachs-Krüger, Art 19 Rdnr. 104). Gegen Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts ist ein Rechtsweg nicht vorgesehen. Fraglich ist, ob die Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts einen Akt der öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 19 IV GG darstellen. Nach Ansicht der Rechtsprechung fallen hierunter nur Maßnahmen der Exekutive. Das Wahlprüfungsgericht ist als Parlamentsausschuß aber Teil der Legislative. Legislative Maßnahmen bestehen in der Regel aus Akten der Gesetzgebung. Gegen die Einbeziehung dieser Akte unter „Maßnahmen der öffentlichen Gewalt„ sprechen die Regelungen in Art. 93 I Nr. 2 GG und Art. 100 I GG, wonach die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ist (Schmidt-Bleibtreu/Klein-Schmidt-Bleibtreu, Art. 19 Rdnr. 26). Allerdings setzt das Wahlprüfungsgericht keine Gesetze fest. Es prüft vielmehr eine Wahl und korrigiert etwaige Wahlfehler einschließlich solcher, die Verletzungen subjektiver Rechte enthalten. Diese Maßnahme hat nicht den Charakter von Normsetzung, sondern ist vielmehr eine Arthoheitliche Verwaltungstätigkeit. Zumindest ist sie weder ein Akt der Judikative (wie oben gesehen) noch der Legislative (wie eben gezeigt). Schließlich fällt die Wahlprüfung aufgrund ihrer Außenwirkung auch nicht unter das Binnenrecht, sie ist vielmehr ein Akt sui generis und als „öffentliche Gewalt„ im Sinne von Art. 19 IV GG anzusehen. Im Grundgesetz ist das Wahlprüfungsverfahren allerdings dem Rechtsweg des Art. 19 IV entzogen (BVerfGE 22, 28; 34, 94; 46, 198; 66, 234). Dafür besteht die Möglichkeit einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (Art. 41 II GG), wenn die parlamentarische Wahlprüfung beendet ist. Diese Möglichkeit sehen weder die hessische Verfassung noch das hessische WahlprüfungsG vor. Vorgesehen ist ein gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts auch nicht im Zuständigkeitskatalog des Staatsgerichtshofes in Art. 131 I Verfassung des Landes Hessen oder im Gesetz über den Staatsgerichtshof.Fraglich ist aber, ob die Wahlprüfung unter den Zuständigkeitspunkt „Verfassungsstreitigkeiten„ nach Art. 131 I Verfassung des Landes Hessen fällt. Allerdings werden diese „Verfassungsstreitigkeiten„ in § 44 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof definiert: „Verfassungsstreitigkeiten sind insbesondere Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlicher Bestimmungen und Rechtsstreitigkeiten zwischen Organen über die Zuständigkeit.„ Der hessische Gesetzgeber versteht die „Verfassungsstreitigkeiten„ folglich im Sinne von Organstreitigkeiten (Gutachten Ossenbühl über „Rechtsfragen zur Wahlprüfung in Hessen„ vom 22. Februar 2000, 10).Allerdings könnte der Begriff „insbesondere„ das Feld auch für Wahlprüfungen öffnen. Dieser Weg wurde allerdings noch nie erwogen oder beschritten. Der hessische Staatsgerichtshof hat zum Ausdruck gebracht, dass § 44, 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof lediglich diejenigen Verfassungsstreitigkeiten umschreibt, „die als die wichtigsten anzusehen sind, wobei es die Möglichkeit, auch andere Streitigkeiten zwischen Staatsorganen als Verfassungsstreitigkeiten anzusehen, offenläßt„ (HessStGH ESVGH 28, 136, 137). Die Wahlprüfung ist nun keine Streitigkeit zwischen Staatsorganen. Folglich führt auch über eine Auslegung des Begriffs der „Verfassungsstreitigkeiten„ kein Weg zum Staatsgerichtshof.Allerdings könnte gegen eine Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts Verfassungsbeschwerde (Grundrechtsklage) eingelegt werden. Nach Art. 131 I Verfassung des Landes Hessen entscheidet der Staatsgerichtshof über „die Verletzung der Grundrechte„. Klagebefugt ist nach § 45 II Gesetz über den Staatsgerichtshof jedermann. Die Möglichkeit einer solchen Klage wurde vom hessischen Staatsgerichtshof anerkannt (Hessischer Staatsgerichtshof, NVwZ 1989, 647). Für das Bundeswahlrecht wurde eine Klagebefugnis vor dem Bundesverfassungsgericht von demselben anerkannt (BVerfGE 34, 91, 95). Eine Grundrechtsklage vor dem hessischen Staatsgerichtshof ist ein Verfahren, das auf die Feststellung von subjektiven Rechtsverletzungen gerichtet ist. Die Wahlprüfung an sich ist dagegen ein objektives Verfahren.Folglich gibt es kein spezielles Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts. Ein Verstoß gegen Art. 19 IV GG liegt vor.

3. Rechtskräftiges Urteil durch das Wahlprüfungsgericht möglich?

Nach § 15 I WahlprüfungsG entscheidet das Wahlprüfungsgericht durch Urteil über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Wahlen, Stimmzetteln usw. Dieses Urteil wird gemäß § 17 WahlprüfungsG rechtskräftig. Problematisch ist, dass hier ein Parlamentsausschuß entscheidet. Dabei ist die Rechtsprechung nach Art. 92 GG den Richtern anvertraut. Die Mehrzahl der Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts sind keine Richter (siehe oben). Das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) wird durch den Gesetzgeber verletzt, wenn Richter vorgesehen sind, die den Erfordernissen der Art. 92, 97 GG nicht genügen (Sachs-Degenhart, Art. 101 Rdnr. 13). Dies liegt hier vor. Weiterhin bieten die drei Abgeordneten des „Gerichts„ nicht die Gewähr für Neutralität und Objektivität, da sie über eigene Angelegenheiten entscheiden.Ein Parlamentsausschuß kann keine rechtskräftigen Urteile fällen. Im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung von § 17 WahlprüfungsG wäre daran zu denken, dass kein „Urteil„ im engeren Sinne verkündet, vielmehr ein Beschluß getroffen wird. Dazu wären der Landtag bzw. seine Ausschüsse berechtigt. Allerdings steht diese Interpretation zum einen gegen den eindeutigen Wortlaut von § 17 WahlprüfungsG. Weiterhin könnte auch nicht der Ausschuß „Wahlprüfung„ einen verbindlichen Beschluß treffen; dies muß das Plenum tun. Das ergibt sich bereits daraus, das für eine Selbstauflösung des Landtages nach Art. 80 Verfassung des Landes Hessen die Stimmen von mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder benötigt werden. Das Ergebnis einer Wahlprüfung, das die Ungültigkeit einer Wahl feststellt und in der Folge die gleiche Wirkung wie eine Selbstauflösung hat, kann nicht allein von einem Ausschuß festgestellt werden. Zum einen muß das Parlament alle wesentlichen Fragen selbst entscheiden; zu anderen ist durch die Mitgliedschaft von zwei Berufsrichtern nicht gewährleistet, das der Ausschuß die politischen Machtverhältnisse des Plenums spiegelbildlich abbildet.Auch auf Bundesebene bereitet der Wahlprüfungsausschuß den Beschluß des Bundestages nur vor (§§ 4ff. WahlprüfungsG Bund). Die abschließende Entscheidung wird vom Plenum mit einfacher Mehrheit getroffen (§ 13 WahlprüfungsG Bund). Infolgedessen ist § 17 WahlprüfungsG auch bei einer weiten Auslegung nicht mit Art. 101 I 2 GG zu vereinbaren und damit verfassungswidrig.

4. „Gute Sitten„ ein zu unbestimmter Rechtsbegriff?

Schließlich könnte auch der in Art. 78 II Verfassung des Landes Hessen Ungültigkeitstatbestand der „guten Sitten„ verfassungswidrig sein. Der Begriff könnte zu unbestimmt und dadurch der politischen Beliebigkeit zugänglich sein (Redeker/Widmaier, aaO, 10). Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 19 IV, 28 GG) ist denkbar. Allerdings findet sich in der gesamten Rechtsordnung der Begriff der „guten Sitten„. Die Rechtsprechung orientiert sich bei seiner Auslegung an den Entscheidungen zu § 138 BGB (Nichtigkeit von Rechtsgeschäften wegen Sittenwidrigkeit). Üblich ist hier, wie auch in der Rechtsprechung des Wahlprüfungsgerichts, von der Formel „Anstandsgefühl alle billig und gerecht Denkenden„ auszugehen (Münchener Kommentar zum BGB-Mayer-Maly, § 128 Rdnr. 12; HessWPG, Urteil vom 26.3.1992, NVwZ-RR 1993, 116, 118). Eine nähere Konkretisierung ist für den Bereich der Wahlprüfung bisher nicht erfolgt (Gutachten Ossenbühl, aaO, 34). Ob ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, ist damit ein Problem des konkreten Sachverhalts. Dies ist nach Ansicht der hessischen Landesregierung „ein verfassungsrechtlich hochbedenkliches Einfallstor auf den Zeitgeist„ (so Widmaier, am 5. Dezember 2000 vor dem BVerfG; zitiert nach: F.A.Z., 6. Dezember 2000). Das Argument, der Gegner habe einen unanständigen Wahlkampf geführt, ist nach Ansicht von Schmidt rasch an der Hand. Dabei sei das „allgemeine Anstandsgefühl„ letztlich „doch nur das Anstandsgefühl der [...] Mehrheit im Hessischen Wahlprüfungsgericht„ (Schmidt, NJW 2000, 2874). Die Verfassungsmäßigkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen ist anerkannt. Auch das Grundgesetz kennt das „Sittengesetz„ in Art. 2 I. Es ist nicht ersichtlich, warum der Begriff im Rahmen der Wahlprüfung in Art. 78 II Verfassung des Landes Hessen nicht dem Homogenitätsgebot des Art. 28 GG entsprechen sollte.Allerdings ist der Ungültigkeitstatbestand der guten Sitten in seiner Systematik zu erfassen. Art. 78 II Verfassung des Landes Hessen nennt noch zwei weitere Tatbestände: Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren (Absatz I) und strafbare Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen (Absatz II). Es könnte gegen das Demokratieprinzip verstoßen, dass zu diesen beiden Tatbeständen ein dritter hinzukommt, der bisher nicht erfasste Tatbestände regelt.Die Legitimation der Volksvertretung gehört zum Kernbereich des Demokratieprinzips. Das BVerfG (E 89, 243, 253) betont, dass die „durch Wahl hervorgebrachten Volksvertretungen wegen der diesen zukommenden Funktionen größtmöglichen Bestandschutz verlangen„. Jede Auflösung des Parlaments gefährdet den Bestand der Wahlentscheidung und damit sowohl die subjektive Wahlentscheidung der Bürger als auch das passive Wahlrecht der gewählten Abgeordneten. Deshalb ist außerhalb von Fehlern der Wahlorgane „die Erheblichkeit von Wahlfehlern, die Dritte begehen können, eng und strikt zu begrenzen.„ In keinem anderen von 15 Bundesländern existiert ein ähnlich unbestimmter Ungültigkeitsgrund für Landtagswahlen (Gutachten Ossenbühl, 12, Fn. 11). Auch die Wahlprüfung bei Bundestags- oder Europawahlen kennt keinen solchen Tatbestand.Allerdings können die Länder ihre Wahlprüfung selber regeln. Sie sind zur „autonomen Gestaltung und Organisation„ (BVerfGE 99, 1, 11) des Wahlprüfungsverfahrens berechtigt. Unterschiede sind möglich. Der Verfassungsgeber des Landes Hessen hat sich 1946 für die „guten Sitten„ als Ungültigkeitstatbestand noch vor Verabschiedung des GG entschieden. Zwar ist auch vorkonstitutionelles Recht überprüfbar. Jedoch zeigt das Inkrafttreten der Regelung vor über 50 Jahren einen gewissen Bestand. Probleme einer Vereinbarkeit mit dem GG gab es noch nie. Letztendlich ist nicht die Erwähnung des Tatbestandes in Art. 78 II Verfassung des Landes Hessen problematisch, sondern die Ausführung im Einzelfall. Das macht die Verfassungsbestimmung aber noch nicht als ganzes GG-widrig.

III. Erkenntnis und Schluß

Das hessische Wahlprüfungsverfahren ist verfassungswidrig. Zwar hat der Zweite Senat des BVerfG die Autonomie der Bundesländer im Bereich des Wahlrechts erst 1998 betont: „Die Länder genießen im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie. In diesem Rahmen regeln sie Wahlsystem und Wahlrecht zu ihren Parlamenten und den kommunalen Vertretungen des Volkes; sie gestalten und organisieren das Wahlprüfungsverfahren.„ Niemals jedoch kann diese Befugnis so weit gehen, dass jedweder Rechtsweg gegen die erstinstanzliche Entscheidung eines Nichtgerichts (= das Wahlprüfungsgericht als Parlamentsausschuß) ausgeschlossen ist (so auch Gelinsky, FAZ vom 12. Oktober 2000). Darauf weist auch das BVerfG hin: „Den Bürgern steht zur Verteidigung ihres subjektiven Wahlrechts auch bei Wahlen in den Ländern ein Rechtsweg zur Verfügung. Alle Länder sehen die Prüfung der Wahl zu ihren Parlamenten vor; dies ist ihnen durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG aufgegeben (vgl. BVerfGE 85, 148, 158). Im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens, das auch dem Schutz des subjektiven aktiven und passiven Wahlrechts dient, (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 159), kann – je nach landesrechtlicher Ausgestaltung – spätestens in zweiter Instanz eine gerichtliche Rechtskontrolle erreicht werden.„ Dies ist in Hessen nicht gegeben. Damit entsprechen Wahlprüfungsgericht und –verfahren nicht dem Homogenitätsgebot des GG. Sie sind verfassungswidrig und nichtig.

Jochen Zenthöfer, Berlin

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