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"Vom Beruf des Juristen und vom Studium des Rechts" von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin
Dieser Artikel stammt von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, München und wurde in 12/2003 unter der Artikelnummer 8691 auf den Seiten von jurawelt.com publiziert. Die Adresse lautet www.jurawelt.com/artikel/8691.


Der nachfolgende Beitrag wurde von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin am 17. Januar 2003 anlässlich einer Einladung zu einer Gesprächs- und Diskussionsrunde mit Stipendiaten der Stiftung der Deutschen Wirtschaft als Vortrag gehalten.


Vom Beruf des Juristen und vom Studium des Rechts


Meine Damen und Herren!

Was ich Ihnen zur Einleitung unseres Gesprächs vortragen will, ist kein wissenschaftlicher Text. Er beruht auf den persönlichen Erfahrungen, die ich in einer 40-jährigen Tätigkeit als Hochschullehrer gemacht habe. Diese Erfahrungen sind durch meinen beruflichen Horizont als Strafrechtler begrenzt, und meine Ansichten und Vorschläge tragen darüber hinaus die subjektive Färbung meines individuellen Temperaments. Trotzdem will ich nichts spezifisch Strafrechtliches sagen und auch nicht die einzelnen juristischen Berufe behandeln, was doch nur einen etwas langweiligen Überblick ergeben würde. Vielmehr will ich mich auf den juristischen Beruf als solchen und auf sein Studium beschränken.

I. Wie wird man Jurist?

Die Antwort ist ernüchternd: meistens aus Verlegenheit. Da man auf der Schule nichts oder nichts Nennenswertes aus dem Reich der Jurisprudenz erfährt, hat man in der Jugend kaum eine Gelegenheit, ein Interesse an diesem Fach und eine Neigung dafür zu entwickeln. Das kann im Einzelfall aufgrund familiärer Prägungen anders sein, wenn etwa die Eltern Juristen sind. Aber solche Fälle sind selten: Denn wenige Jugendliche haben Zeit und Lust, sich neben der Schule auch noch mit der juristischen Tätigkeit des Vaters oder der Mutter zu befassen. Und oft finden junge Leute ihre Identität gerade in der Abwendung vom Lebensweg der Eltern. Mein eigener Sohn z.B. hätte jedes andere Fach lieber studiert als Jura; er ist dann Betriebswirt, Unternehmensberater und schließlich Manager geworden.

Das Fazit aus alledem ist, dass Jus meist studiert wird, weil keine übermächtige Neigung zu einem anderen Fach vorliegt und weil man sich – auch mit einigem Recht – gute Karrieremöglichkeiten davon verspricht. "Junge, ich rate Dir, Jura zu studieren", sagte mein Vater im Jahre 1950, "denn das eröffnet Dir die meisten Möglichkeiten." Das ist im wesentlichen richtig. Auch ist eine so motivierte Studienwahl durchaus legitim, obwohl sie mehr einer Vernunft- als einer Liebesehe gleicht. Wie aber die Praktizierung einer Vernunftehe zur Liebe führen kann, ist dies auch bei der Verbindung mit der Jurisprudenz möglich. Ich selbst bin ein lebendiges Beispiel dafür, und viele von Ihnen sind es hoffentlich auch.

Einen gravierenden Nachteil hat der geschilderte, durchweg nüchtern-rationale Zugang zum Jurastudium aber doch. Er führt dazu, dass viele junge Menschen sich diesem Fach zuwenden, ohne die Begabungen und Fähigkeiten, die es fordert, in ausreichendem Maße zu besitzen. Wer etwa Mathematik, Geschichte, Literatur, Musik oder Sport studieren will, wird diese Disziplinen schon auf der Schule liebengelernt und hoffnungsvolle Anfängerleistungen in ihnen erbracht haben. Er wird auch die Fähigkeit zu anerkannter Professionalität auf diesem Gebiet in sich spüren. Dem Jurastudenten, der sich zum ersten Semester einschreibt, fehlen diese studienbegünstigenden Voraussetzungen. Infolgedessen werden nicht wenige Beginner vor den Anforderungen des Studiums versagen. Das führt zu einer verhältnismäßig hohen Durchfallquote im Examen und auch dazu, dass mancher, der nur mit knapper Not bestanden hat, einem freudlosen Berufsleben in untergeordneten Positionen entgegensieht. Ich rate daher jedem, der nach vier Semestern noch keinerlei Interesse an der Jurisprudenz gefunden und auch nur sehr schwache Leistungen erbracht hat, das Studium zu wechseln. Denn es ist die wichtigste Voraussetzung beruflichen Glücks, dass man sich im Einklang mit seinen Fähigkeiten befindet.

II. Welche Begabungen und Fähigkeiten muss ein guter Jurist haben?

Damit stehen wir schon beim zweiten Punkt. Was muss man können, um als Jurist erfolgreich zu sein? Ich möchte versuchsweise einmal sagen, dass man viererlei Gaben besitzen sollte:
  1. Man braucht ein sehr gutes Gedächtnis, weil die Analyse komplizierter Rechtslagen die Beherrschung großer Stoffmengen voraussetzt.

  2. Man benötigt eine erheblich überdurchschnittliche schriftliche und auch mündliche Ausdrucksfähigkeit. In anderen Wissenschaften geht es um Naturgesetze oder Fakten, für die die Sprache gleichgültig ist, so dass man sich auf Kongressen schon durchweg des Englischen bedient. Oder es geht um Deutungen und Sinnentwürfe, die an die Person des Interpreten gebunden bleiben, aber keine objektive Verbindlichkeit haben. Eine gewisse Vagheit und selbst Dunkelheit gehört hier für manche beinahe zum Handwerk. Bei den Juristen dagegen kommt es auf die allein durch Sprache vermittelte argumentative Genauigkeit und Schlüssigkeit an. Sie muss anderen (z.B. Geschäftspartnern, Prozessparteien, Richtern oder auch dem wissenschaftlichen Lesepublikum) einleuchten, obwohl es bei Streitfragen kaum beweisbare, sondern nur mehr oder weniger vertretbare Lösungen gibt. Die sprachliche Fähigkeit zu subtilen Differenzierungen, zur Entfaltung von Klarheit und Überzeugungskraft ist hier eine Voraussetzung für den Erfolg, der in der Durchsetzung einer Rechtsansicht besteht.

  3. Man sollte ein Interesse an sozialen Konflikten und Problemen haben. Denn alle Juristerei hat es mit dem reibungslosen Ablauf sozialer Vorgänge, der Beseitigung sozialer Störungen und dem Ausgleich verschiedenartiger Interessen zu tun. Wer daran keinen Anteil nimmt, kann immer noch ein bedeutender Dichter, Metaphysiker oder Kenner altbabylonischer Sprachen, ja selbst ein großer Mathematiker werden. Als Jurist aber ist er nicht geeignet.

  4. Schließlich ist wichtig die Fähigkeit, mit juristischen Denkmethoden und unter assoziativer Verknüpfung zahlreicher Informationsdetails eine Lösung für die genannten Konflikte und Probleme zu finden. Denn die schon erwähnte sprachliche Fertigkeit kann nur die überzeugende Präsentation einer juristischen Lösung, nicht aber diese selbst vermitteln. Für gute Lösungen braucht man kreative Einfälle. Dafür sind zwar meine ersten drei Postulate – ein gutes Gedächtnis, sprachliche Fähigkeiten und soziales Problembewusstsein – wichtige Voraussetzungen. Aber die Einfälle sollen aus ihnen erst hervorgehen. Wenn irgendwo, liegt hier die Möglichkeit für ein Fünkchen Genialität, die dem Juristen häufig schlechtweg abgesprochen wird. Auf jeden Fall kann der Jurist insoweit schöpferische Arbeit leisten; sie ist dem Professor ebenso zugänglich wie dem Wirtschaftsjuristen, der neue rechtliche Gestaltungsformen entwickelt, oder dem Richter, der eine bestimmte Fallkonstellation erstmals in wegweisender Form entscheidet.

Soweit meine vier Voraussetzungen. Natürlich gibt es noch viele andere Fähigkeiten, die dem Juristen förderlich sein können, z.B. Fremdsprachenkenntnisse oder soziale Kompetenz. Aber hier handelt es sich nicht um spezifisch juristische Erfordernisse, sondern um Fähigkeiten, die allen Menschen nützlich sind.

Häufig werde ich gefragt, ob die Leistungen in bestimmten Schulfächern Rückschlüsse auf die Befähigung zum juristischen Studium zulassen. Nach meiner Erfahrung wird derjenige mit erfreulichen Studienergebnisse rechnen können, der in Deutsch und Latein besonders gut war. Für das Fach Deutsch ergibt sich das ohne weitere Erläuterung aus dem, was ich über die Bedeutung sprachlicher Fähigkeiten für den Juristen gesagt habe. Für Latein folgt dies daraus, dass die Struktur der lateinischen Sprache dem juristischen Denken besonders entgegenkommt. Das ist wahrscheinlich kein Zufall. Denn die Römer sind bekanntlich die Erfinder der Jurisprudenz als Wissenschaft. Sie haben diese Wissenschaft im Medium ihrer Sprache entwickelt, und auf den von ihnen geschaffenen Grundlagen ruht die Jurisprudenz auch heute noch.

Dagegen sehe ich – anders als mancher andere – zwischen mathematischer und juristischer Begabung kein Entsprechungsverhältnis. Mathematik verlangt die Fähigkeit zu realitätsgelöster Abstraktion, während die Abstraktionen der Jurisprudenz immer an reale Sachverhalte gebunden bleiben. Beide Disziplinen erfordern nicht nur in diesem Punkt verschiedene Fähigkeiten. Der Mathematiker braucht alles das nicht zu können, was ich vom Juristen verlangt habe. Dafür braucht der Jurist keine mathematischen Fähigkeiten. Der Beweis dafür bin ich selbst: Ich war immer ein schwacher Mathematiker. Natürlich schließt das nicht aus, dass im Einzelfall beide Begabungen zusammentreffen können.

Erwiesen ist – was Ausnahmen keineswegs ausschließt – eine enge Beziehung zwischen Schulerfolg und juristischem Examenserfolg. Wer also eine Abiturnote von 1 - 1,5 hat, kann im Examen auf 10 oder mehr Punkte hoffen. Die Korrelation leuchtet ein, weil große Lernleistungen und sprachliche Formulierungskraft für den Erfolg in der Schule und im juristischen Studium gleichermaßen wichtig sind. In der allgemeinsten Form lässt sich sagen, dass eine überdurchschnittliche theoretische Allgemeinintelligenz die wichtigste Voraussetzung für ein erfolgreiches juristisches Studium ist. Theoretische Sonderbegabungen (wie etwa für Mathe oder Erkenntnistheorie) und praktische Intelligenz können dagegen fehlen. Wer keinen Nagel in die Wand schlagen kann, mag dennoch ein großer Jurist sein.

Am Schluss dieses Abschnitts über die juristischen Begabungserfordernisse stellt sich die Frage nach dem Schwierigkeitsgrad des juristischen Studiums. Wilhelm Wundt, der Philosoph und Psychologe (1832-1920), hat einmal die Jurisprudenz die schwierigste aller Wissenschaften genannt. Das halte ich für übertrieben, weil Schwierigkeit und Leichtigkeit keine ausschließlich objektiv bestimmbaren Größen sind, sondern zu einem erheblichen Teil von der individuellen Begabungsrichtung abhängen. Mir z.B. würde eine Tätigkeit im Bereich der Quantenphysik sicher weit größere Schwierigkeiten gemacht haben als die Erlernung der Jurisprudenz. Trotzdem wird man das juristische Studium als ziemlich anspruchsvoll und arbeitsintensiv bezeichnen müssen.

Ich habe aber einen Trost für diejenigen bereit, die Zweifel daran haben, ob sie die von mir benannten Fähigkeiten in einem Grade besitzen, der ihnen einen überdurchschnittlichen Erfolg sichert. Während man nämlich viele Begabungen – z.B. die musikalische oder dichterische und auch die zum Malen oder Turnen – entweder hat oder nicht hat und auch durch Schulung nur steigern, aber nicht erwerben kann, sind juristische Fähigkeiten bis zu einem erheblichen Grade erlernbar. Ein gutes oder schlechtes Gedächtnis ist keine Schicksalsgegebenheit, sondern eine Frage des Trainings. Und auch Schreiben und Reden ist sehr wohl erlernbar, wenn auch leider so gut wie gar nicht auf der Universität. Wenn jemand auch nur täglich 20 Seiten Thomas Mann liest und einer Beziehungsperson täglich einen zehnminütigen Probevortrag hält, wird er rasch merken, wie seine Ausdrucksfähigkeit zunimmt. Auch in die sozialen Grundlagen der Jurisprudenz kann man sich ohne allzu große Mühe hineinarbeiten. Nicht erlernbar ist nur die Kreativität im engeren Sinne des Wortes: Ich habe Juristen gekannt, die alles wussten und doch nie einen eigenen Einfall hatten. Aber auch solche Menschen können noch sehr gute und erfolgreiche Juristen sein. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Jurisprudenz ist zwar keine leichte Materie, aber man kann darin durch Fleiß und Anstrengung mehr erreichen als in anderen Disziplinen, wo bestimmte Begabungen den ausschlaggebenden Faktor bilden.

III. Ist die Jurisprudenz eine wichtige Materie?

Damit komme ich zu meiner dritten Frage nach der lebenspraktischen Wichtigkeit des Rechts. Sie hat zwar mit dem Rang der Jurisprudenz als Wissenschaft nichts zu tun. Denn es wäre eine banausenhafte Ansicht, wenn man z.B. die Jurisprudenz für wissenschaftlich bedeutender erklären würde als die Ägyptologie, weil diese Spezialwissenschaft anders als das Recht für das Leben der meisten Menschen ohne Bedeutung ist. Denn Kulturwerte tragen ihre Bedeutung in sich, auch wenn nur relativ wenige Menschen an ihnen teilhaben.

Aber für die Berufswahl kann die gesellschaftliche Relevanz einer Wissenschaft doch ein entscheidender Faktor sein: teils aus Gründen der Karriere; teils und vor allem auch, weil viele junge Menschen das Bedürfnis nach aktiver Mitgestaltung des sozialen Lebens als motivierende Herausforderung empfinden.

In dieser Hinsicht nun gehört die Jurisprudenz sicher zu den wichtigsten Wissenschaften; in ihrer Bedeutung ist sie nur noch mit den angewandten Naturwissenschaften und der Ökonomie vergleichbar. Ich habe einmal gesagt und meine auch jetzt noch: "Die Rechtsordnung ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Die Mechanismen sozialer Steuerung und Kontrolle, die unsere hochindustrialisierte Zivilisation funktionsfähig halten, treten uns heute, nachdem Moral, Sitte und Konvention in der Unverbindlichkeit des Privaten weitgehend wirkungslos geworden sind, überwiegend in den Formen des Rechtes entgegen. Die Paragrafen, die einem alten kulturkritischen Klischee zufolge staubige Lebensferne symbolisieren sollen, lenken in Wahrheit als bindende Verhaltensregeln das Dasein des einzelnen wie der Gesamtheit wirkungsmächtiger denn je. Das wird auch in Zukunft so sein. Denn alle neuen Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften und alle politischen Forderungen, die unsere Gesellschaft den sich rasch wandelnden Lebensbedingungen anpassen wollen, können nur durch ihre Umsetzung in Rechtsnormen sozialgestaltende Macht gewinnen."

In Teilbereichen kann die Bedeutung des Rechts noch größer werden. Wenn etwa der uralte Menschheitstraum vom ewigen Frieden je Realität gewinnen soll – und das kann bei dem wachsenden Zerstörungspotential von Kriegen eine Schicksalsfrage der Menschheit sein –, dann wird das nur durch die Entwicklung eines sorgfältig durchgearbeiteten Völkerstrafrechts und die Etablierung eines funktionierenden internationalen Strafgerichtshofs möglich sein. Wichtigere Arbeitsgebiete lassen sich kaum denken.

IV. Ist die Jurisprudenz auch ein interessantes Arbeitsgebiet?

Die Frage nach der Interessantheit juristischer Berufsarbeit ist von derjenigen nach der Wichtigkeit ihres Gegenstandes zu unterscheiden. Eine Sache kann wichtig, die Beschäftigung damit aber doch uninteressant sein. So ist etwa eine gesundheits- und umweltverträgliche Abfallentsorgung in der modernen Massenzivilisation eine bedeutende Aufgabe; trotzdem würde mich die Beschäftigung damit nicht fesseln. Wie steht es in dieser Hinsicht mit der Jurisprudenz? Für junge Leute kann diese Frage darüber entscheiden, ob sie Jura studieren oder nicht. Denn der Beruf macht einen wesentlichen Teil des Lebensinhaltes aus, und wenn man sich in ihm langweilt, vergeudet man viel wertvolle Lebenszeit.

Es gibt ein abschreckendes Bild vom verknöcherten Paragrafenreiter, der den ganzen Tag in dumpfen Amtsstuben dicke Akten wälzt, dabei psychisch und physisch verkümmert und sich schließlich zu Tode langweilt. "Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort", meinte bekanntlich auch Mephisto.

Die heutige Realität sieht aber doch sehr viel anders und günstiger aus. Sicher gibt es Bereiche juristischer Tätigkeit, die einen im buchstäblichen und im übertragenen Sinne nicht gerade vom Stuhle reißen. So hätte ich wenig Lust, als Grundbuchrichter tätig zu werden. Im Regelfall aber ist der juristische Beruf sehr wohl geeignet, den ganzen Menschen zu fordern und auch zu fesseln. Der Richter und der Anwalt haben es in jedem Fall, der ihnen unterbreitet wird, mit menschlichen Konflikten und oft mit schicksalhaften Fragen zu tun. Auch eine Behörde, die über Genehmigungen und Versagungen entscheidet, greift damit unmittelbar in das menschliche Leben und in Sozialabläufe ein. Dazu kommt, dass kein Fall ganz wie der andere ist und dass nicht selten auch völlig neue Sachverhaltskonstellationen auftreten, die eigenständige Lösungen erfordern. Der Jurist ist also verantwortlicher Mitgestalter der modernen Lebenswelt. Ich meine, dass dies eine lohnende Aufgabe ist.

Aber auch eine theoretische Befassung mit dem Recht bietet reizvolle Möglichkeiten. Eine solche theoretische Befassung mit juristischen Thesen – also die Lektüre von Urteilen und wissenschaftlichen Abhandlungen – ist auch für den Praktiker nicht überflüssig. Denn der Richter braucht sie für seine Entscheidung und der Anwalt – um nur diese beiden Berufe zu nennen – für seinen Schriftsatz. Da nun die höchstrichterliche Judikatur und die juristische Wissenschaft in Deutschland ein auch im internationalen Vergleich hohes Niveau aufweisen – im Gegensatz übrigens zur deutschen Gesetzgebung der letzten 20 Jahre – ist die Beschäftigung damit intellektuell durchaus reizvoll. Sie kann die Freude am Beruf erhöhen, die berufliche Leistungsfähigkeit wesentlich steigern und auch zu eigener literarischer Tätigkeit anregen, die meist ein Stück Selbstverwirklichung bedeutet und das professionelle Engagement weiter verstärkt. Unzählige praktisch tätige Juristen sind auch juristische Schriftsteller.

Ich will nur noch einen Umstand erwähnen, der den juristischen Beruf gerade heute attraktiv macht: seine Internationalisierung. Sie entspringt aus verschiedenen Quellen. Eine von ihnen lässt sich auf den erwähnten hohen Stand der deutschen Rechtskultur zurückführen. Deutsche Juristen werden im Ausland sehr geschätzt; ihre Meinungen werden dort mit Interesse angehört, und ihre Lehren werden oft wissenschaftlich rezipiert und nicht selten sogar von der Rechtsprechung und Gesetzgebung ferner Länder akzeptiert. Das bringt große Möglichkeiten internationalen Kontaktes mit sich, die den Horizont erweitern und eine persönlich und beruflich enorm anregende Wirkung haben. So war ich z.B. in den letzten drei Jahren zu Vorträgen in Neapel, Sevilla, Caceres, Salamanca, Toledo, Lissabon, Osaka, Seoul, Cordoba/Argentinien, Sao Paolo, Rio de Janeiro, Lima und Mexiko (hier allein dreimal). Während man in Deutschland beim Vortrag eines ausländischen Professors mit Mühe 20 Hörer zusammenbekommt, erscheinen in fremden Ländern Hunderte, ja manchmal mehr als 1.000 Juristen, die an den zur Verhandlung stehenden Fragen brennend interessiert sind. Sie können sich vorstellen, in welchem Maße mich das noch in relativ hohem Alter zu engagierter Arbeit motiviert!

Man wird mir entgegenhalten, dass es sich hier um eine aus dem Professorenberuf resultierende Internationalität handele, die für den Juristen als solchen nicht berufstypisch sei. Aber fast alle Juristen haben heute die Möglichkeit der Internationalität, wenn sie sich auch aus anderen Quellen speist. Schon der Student kann in sein Studium Auslandsaufenthalte einschieben, und er tut gut, davon Gebrauch zu machen. Vor allem gibt es eine immer zunehmende Europäisierung und Globalisierung des Rechts, die weit über die Umsetzung der Brüsseler Instruktionen hinausgeht. Große Anwaltskanzleien haben Dependancen in aller Welt; meine Frau z.B. arbeitet als Anwältin in München, aber bei einer amerikanischen Firma (Price Waterhouse). Es gibt mehr und mehr internationale Verträge, internationale Projekte, internationale Strafverfolgung, und überall sind die Juristen in maßgeblichen Funktionen beteiligt. Ich spare mir weitere Aufzählungen. Denn es dürfte schon klar geworden sein: Wer Freude daran hat, sich den Wind der weiten Welt um die Nase wehen zu lassen, wer viel sehen und erleben möchte, der ist mit dem Jura-Beruf nicht schlecht bedient.

V. Wie soll man sein Studium anlegen?

Sie sehen also, ich bin recht optimistisch und empfehle den juristischen Beruf demjenigen, der dafür begabt ist. Obwohl ich selbst ganz ohne Vorkenntnisse und ohne klare Vorstellungen in das Studium hineingegangen bin, habe ich die Jurisprudenz gesellschaftlich wichtig, praktisch und theoretisch interessant und durch ihre Internationalität noch zusätzlich reizvoll gefunden. Sorge vor einer Überfüllung des Berufs brauchen nur die schlechten Juristen zu haben, die aber besser von vornherein ein anderes Fach studieren sollten. Gute Juristen werden immer gesucht.

Wie aber soll man sein Studium anlegen? Natürlich will ich Ihnen keinen Studienplan vortragen. Vom äußeren Ablauf des Studiums, von Zwischenprüfungen und examensrelevanten Scheinen werden Sie inzwischen mehr verstehen als ich. Mir geht es um die Grundorientierung. Da meine ich, dass man pragmatisch denken und auf zwei Ebenen studieren sollte.

Die eine Seite des Studiums besteht im examensorientierten Lernen. Man muss also einen umfangreichen Stoff beherrschen und das erworbene Wissen in konkrete Fall-Lösungen umsetzen können. Was den Wissenserwerb anlangt, so gibt es verschiedene Lerntypen. Die einen lernen mehr durch Lesen, die anderen durch erklärenden Vortrag. Mir persönlich hat sich ein dreifaches Lernverfahren als das beste bewährt. Es besteht erstens in der intensiven Lektüre von Ausbildungsliteratur; es gibt heute hervorragende Werke dieser Art, und jeder kann sich aus einem reichen Angebot das aussuchen, was seiner Aufnahmefähigkeit am besten entspricht. Zweitens sollte man Vorlesungen und Kurse – auch wenn sie keine Pflichtveranstaltungen sind – dann besuchen, wenn man ausnahmsweise vom Dozenten und seiner Stoffvermittlung fasziniert ist. Man erhält dadurch Verständnishilfen und Anregungen, die man sich selbst nicht so leicht hätte erarbeiten können. Drittens hat sich mir das gegenseitige Vortragen und Abhören in selbst organisierten studentischen Kleingruppen immer als eine hervorragende Lernmethode bewährt. Man hat auf diese Weise eine bessere Sicherung gegen falsche Gewichtungen, die beim Alleinstudium leicht unterlaufen; man kann sein eigenes Niveau und seinen Kenntnisstand im Vergleich mit anderen Kommilitonen stets überprüfen; man findet immer jemanden, der einem erklärt, was man noch nicht verstanden hat; und schließlich macht es auch viel mehr Spaß, gemeinsam und in geselligem Rahmen zu lernen, als einsam und allein vor sich hin zu brüten.

Klausurenschreiben lernt man mit alledem aber noch nicht in ausreichendem Maße. Es handelt sich hier um eine Fertigkeit, die man nur für das Examen braucht, die man aber gerade deswegen nicht vernachlässigen darf. Wer einigermaßen sicher gehen will, sollte vor dem Examen ca. 100 Klausuren unter den Bedingungen des Ernstfalls geschrieben haben. Man verliert dadurch die Angst vor den Klausuren; man erwirbt eine große handwerkliche Fertigkeit, so dass einem die Klausurtechnik jederzeit flott von der Hand geht; und man kann davon ausgehen, dass teilweise ähnliche Fälle wie die schon bearbeiteten auch im Examen vorkommen. Freilich ist ein solches Klausurentraining eine harte Mühe. Ich habe sie nie auf mich nehmen mögen und trotzdem Glück gehabt. Freilich war ich begünstigt dadurch, dass ich beide Examina in Hamburg gemacht habe, wo es noch Hausarbeiten gab. Meine Frau hat das bayerische System mit seinen schrecklichen zwölf Klausuren mitmachen müssen und ist gut dabei herausgekommen. Aber das wäre sicher weit weniger gelungen, wenn sie nicht ihre Kräfte vorher an 120 Klausuren erprobt hätte.

Alles bisher Gesagte betraf vornehmlich die Examensvorbereitung. Aber daneben gibt es noch eine andere Seite des Studiums, seine höhere Seite gewissermaßen. Denn das rein examensorientierte Lernen vollzieht sich immer mehr in schulähnlichen Formen und entspricht kaum mehr dem, was man früher unter "Studieren" verstand. Studieren im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet, dass man sich mit den historischen und philosophischen Grundlagen seines Faches einigermaßen vertraut macht, dass man sich seine Denkmethoden aneignet und dass man lernt, eigene juristische Gedankengänge zu entwickeln und überzeugend darzulegen. Für die Klausuren braucht man das kaum; hier kommt man mit der Berufung auf die "herrschende Meinung" und elementaren Begründungsansätzen aus. Aber der Beruf verlangt mehr (und auch schon eine Hausarbeit in den Ländern, wo sie gefordert wird). Wenn Sie als juristischer Schriftsteller hervortreten, wenn Sie ein großer Anwalt oder als Richter an oberen Gerichten tätig werden, wenn Sie im Wirtschaftsleben neue rechtliche Wege beschreiten wollen, dann müssen Sie durch die Qualität Ihrer Darlegungen überzeugen.

Man muss also versuchen, schon im Studium über angelerntes Wissen und über das Paukniveau hinauszukommen. In der Universität ist das durch – relativ seltene – sehr gute Vorlesungen zu erreichen. Manchmal springt hier ein Funke über und entfacht ein Interesse, das lebensprägende Wirkung entfalten kann. Ich kenne Beispiele solcher Art.

Einen besonders guten Weg zum wissenschaftlichen Studium höherer Art bieten auch interessante Seminare. So habe ich im Dezember auf der Fraueninsel im Chiemsee ein Seminar veranstaltet über die Legitimation strafrechtlicher Tatbestände, also über die Frage, wie ein Verhalten beschaffen sein muss, damit der Staat befugt ist, es unter Strafe zu stellen. Zu Weihnachten schrieb mir ein Teilnehmer: "Mit diesem Brief möchte ich Ihnen persönlich für das außerordentliche Seminar danken, das für mich wesentlich mehr bedeutet als nur der Erwerb eines Grundkursscheins. Durch die Teilnahme hat sich meine Einstellung gegenüber dem gesamten Studium der Rechtswissenschaften entscheidend geändert. Bisher galt mein Interesse vor allem dem Erlernen des Stoffes, der zum Bestehen der Klausuren notwendig war. Doch durch die Beschäftigung mit dem ‚symbolischen Strafrecht' – das war sein Thema – und vor allem durch den Ablauf des Seminars hat sich dies geändert. Ich möchte Jura richtig studieren, d.h. mich nicht mehr damit begnügen, die jeweils herrschende Meinung zu lernen, sondern mir durch das Studium eine eigene, vernünftige Meinung bilden." Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie jemand plötzlich die Einsicht gewinnt, dass das Studium des Rechts ein eigenes Engagement wert ist und mehr bedeutet als das Absolvieren eines Pflichtpensums. Diesen Standpunkt sollten möglichst viele Studenten zu erreichen versuchen, wenn sie Befriedigung in ihrem Beruf finden und gesellschaftlich Anerkanntes leisten wollen.

Ein anderer Weg zu diesem Ziel besteht in der Lektüre einflussreicher, formal und inhaltlich hervorragender juristischer Abhandlungen und selbst der einen oder anderen Monographie von entsprechendem Gehalt. Denn man erwirbt dadurch nicht nur tiefere Kenntnisse über diesen oder jenen Gegenstand seines besonderen Interesses, sondern man lernt auch, selbst auf gehobenem juristischen Niveau zu argumentieren und zu schreiben. Aus demselben Grunde sollte man nicht nur schmale Grundrisse lesen – so unentbehrlich diese für eine schnelle Repetition sind –, sondern sich auch einmal auf ein umfangreicheres Lehrbuch einlassen, das den Leser nicht nur mit Ergebnissen abfüttert, sondern ihm das Pro und Contra der verschiedenen Ansichten objektiv abwägend darlegt und so dem Leser erst die Entwicklung einer eigenen Meinung ermöglicht.

Wenn Sie nun am Ende etwas eingeschüchtert sind durch das, was Sie als Jurist alles wissen, können und tun sollen, will ich die Dinge wieder etwas zurechtrücken. Man muss nicht unbedingt Einserjurist sein, um im Beruf Erfolg zu haben. Man muss auch den Mut zur Lücke besitzen, und man braucht nicht alle Fächer gleich gut zu können. Und man muss auch andere Interessen als die juristischen pflegen, und manchmal sogar auf deren Kosten. Denn zu einem erfüllten Leben gehört noch mehr als der Beruf und die Familie. Es muss ein Überschuss an Neugier und Tatendrang da sein, der auf anderen Feldern ausgelebt werden kann. Wie dies geschieht, ist einerlei: Es gibt neben Literatur, Kunst und Musik unzählige Formen der Weltaneignung, die berufliche Einseitigkeit ausgleichen. Diese können merkwürdige Gestalt annehmen. So habe ich z.B. im Jahre 1969 eine Karl-May-Gesellschaft gegründet, deren Vorsitzender ich fast 30 Jahre lang war und die heute eine der größten literaturwissenschaftlichen Gesellschaften im deutschsprachigen Raum ist (mit mehr als 2.000 Mitgliedern). Meine – mehr unbewusste – Idee war dabei wohl die, dass die Jurisprudenz mit ihrem Regelwerk und ihrer Ordnungsfunktion der frei schweifenden Phantasie und dem Abenteuer doch nicht genügend Raum lässt. Man denke darüber, wie man will: Mir haben dieses Hobby und einige andere zu einem freieren und befriedigenderen Leben verholfen, als wenn ich noch einige juristische Werke mehr geschrieben hätte. Ich schließe also mit dem Fazit: Der juristische Beruf kann dem, der ihn ergriffen hat, viel, aber er sollte ihm nicht alles bedeuten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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