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Der forensische Stimmvergleich in der Praxis
Dieser Artikel stammt von Dr. Marianne Jessen und wurde in 9/2003 unter der Artikelnummer 8309 auf den Seiten von jurawelt.com publiziert. Die Adresse lautet www.jurawelt.com/artikel/8309.


Der forensische Stimmvergleich in der Praxis


Eine Beschreibung zu neuen Möglichkeiten in der Zivil- und Strafpraxis


Der forensische Stimmvergleich ist eine relativ neue, wissenschaftliche Methode, eine aufgezeichnete Stimme des Täters mit der von Verdächtigen zu vergleichen und Übereinstimmungen festzustellen.

1. Einleitung

Das Ziel eines forensischen Stimmenvergleichs ist daher im Regelfall die Klärung der Frage, ob bzw. mit welcher positiven oder negativen Wahrscheinlichkeit eine gerichtlich relevante aufgezeichnete Sprachprobe eines fraglichen Sprechers (Spurenmaterial) von der gleichen Person geäußert wurde wie eine aufgezeichnete Sprachprobe eines oder mehrerer Sprecher, die als Produzenten des Spurenmaterials in Frage kommen (Vergleichsmaterial). Im Rahmen eines solchen Stimmenvergleichs werden Spuren- und Vergleichsmaterial einer genauen linguistischen und phonetischen Analyse unterzogen und miteinander verglichen.

2. Vorgehensweise

Bei einem forensischen Stimmvergleich wird ein umfangreicher Katalog von Merkmalen untersucht, bzgl. derer sich verschiedene Personen in ihrer Sprachproduktion unterscheiden können. Dieser "Befundskatalog" umfasst nicht nur Merkmale der Stimme im engeren Sinne (Qualität und Schnelligkeit der Vibration der Stimmlippen und deren Klangprodukt aufgrund der Resonanzeigenschaften des Mund-, Rachen- Nasenraumes), sondern auch Aspekte des sprachlichen Systems und der gruppenspezifischen Konventionen (z.B. Dialekt, Soziolekt, fremdsprachiger Akzent) und Aspekte der individualtypischen Art und Weise wie als Ganzes gesprochen wird (z.B. Sprechgeschwindigkeit, Pausenverhalten, Sprechrhythmus). Welche Merkmale im Einzelnen für forensische Stimmenvergleichsgutachten verwendet werden, wird u.a. in Rose (2002), Hollien (1990) und Künzel (1987) genauer erklärt.

Einige Merkmale der Sprachproduktion können durch experimental-phonetische Verfahren der akustischen Analyse präzisiert und objektiviert werden. Sowohl zur Durchführung dieser akustischen Analysen als auch zur fachgerechten linguistischen und phonetischen Analyse aller in Frage kommender sprecherspezifischen Merkmale ist eine akademische Ausbildung im Bereich der Sprachwissenschaft, Phonetik oder einer vergleichbaren Disziplin erforderlich. Fachliche Anforderung, die an Experten für Stimmenvergleiche zu stellen sind, sowie ethische Richtlinien, sind im "Code of Practice" des internationalen Berufs- und Wissenschaftsverbandes "International Association for Forensic Phonetics" (www.iafp.net) festgelegt.

Personenidentifizierende Verfahren sind umso genauer, je geringer die intra-individuelle Variation und je größer die inter-individuelle Variation ist. Bei der DNA- und Fingerabdrucksanalyse sind die individualtypischen Muster genetisch bzw. (bei Fingerabdrücken) ab dem ca. vierten Schwangerschaftsmonat festgelegt. Die intra-individuelle Variation ist also praktisch null. Bei der Produktion von Sprache gibt es zwar auch genetische bzw. pränatal festgelegte organische Faktoren, die Einfluss auf stimmliche Eigenschaften haben (z.B. Länge der Stimmlippen, die sich auf die Tonhöhe auswirkt), aber die Sprachproduktion ist darüber hinaus durch Umweltbedingungen, den Spracherwerb, kulturelle Konventionen, psychische Zustände, eventuelle Krankheiten, und nicht zuletzt durch die individuellen Intentionen und Wahlmöglichkeiten des Einzelnen in starkem Maße veränderbar. Dieses ist insofern forensisch relevant, als dass die stimmlich-sprachlichen Merkmale im fraglichen Material von denen im Vergleichsmaterial in gewissem Rahmen abweichen können, auch wenn beides vom gleichen Sprecher produziert wurde (Problem der falschen Zurückweisung). Solche intra-individuellen Variationen können z.B. dadurch entstehen, dass der Sprecher in der Tatsituation gestresst, bei der Vergleichsausnahme aber entspannt ist, was einen Einfluss auf Stimme und Sprache hat (Jessen 2003). Ein weiteres – wenn auch nicht unlösbares – Problem besteht darin, dass die Stimme in der Tatsituation (z.B. anonymer Anruf) absichtlich verstellt worden sein kann, während die Vergleichsstimme unverstellt ist. Durch entsprechendes Fachwissen des Gutachters über die Art der Einflüsse verschiedener Quellen intra-individueller Variationen auf die Sprachproduktion können solche Unterschiede zwischen Spuren- und Vergleichsmaterial in der Analyse teilweise kompensiert werden.

Die inter-individuelle Variation der DNA- und Fingerabdrucksmuster ist sehr groß, d.h. jede Person hat im Prinzip ihr eigenes Muster. Dieses bedeutet auch, dass die Gefahr der falschen Identifizierung (gleiche Muster bei Spuren- und Vergleichsmaterial trotz unterschiedlicher Personen) anhand der DNA- und Fingerabdrucksanalyse extrem gering ist (je nach Qualität des forensischen Spurenmaterials). Auf Seiten der Sprachproduktion ist der Grad der inter-individuellen Variation noch nicht in allen Aspekten erforscht. Insgesamt ist die Aussagekraft einer Sprachprobe bzgl. der Feststellung von Identität oder Nicht-Identität umso größer, je größer die Menge der beobachtbaren Merkmale aus den Bereichen Stimme, Sprache und Sprechweise, je größer deren statistische Unabhängigkeit und je größer deren Seltenheitsgrad bezogen auf die Gesamtbevölkerung.

3. Aufgezeichnetes Spurenmaterial

Der Umfang zuverlässig erkennbarer sprecherspezifischer Merkmale hängt deutlich von der Qualität der forensischen Sprachaufzeichnungen ab. Ist die technische Qualität schlecht (z.B. über- oder untersteuerte Aufzeichnung auf Mikrokassette oder Aufzeichnung bei schlechter Handy-Verbindung) oder ist die Dauer der Aufzeichnung sehr gering, so ist die Anzahl analysierbarer Merkmale eingeschränkt. Solche ungünstigen Bedingungen können zu einer Reduktion des Wahrscheinlichkeitsgrades einer gutachterlichen Identitäts- bzw. Nicht-Identitätsaussage führen. Weitere Einschränkungen ergeben sich, wenn sich Spuren- und Vergleichsmaterial bzgl. o.g. Quellen intra-individueller Variationen unterscheiden. Häufig tritt der Fall auf, dass im Spurenmaterial lauter oder stärker dialektal gesprochen wird als im Vergleichsmaterial. Bei der Aufzeichnung von Vergleichsmaterial sollte darauf geachtet werden, dass solche Variationen so gering wie möglich bleiben. Auch sollte die technische Qualität des Vergleichsmaterials hoch und dessen Dauer ausreichend lang sein.

Trotz dieser genannten Einschränkungen ist es durchaus möglich, dass im Rahmen von Stimmenvergleichen sehr hohe Wahrscheinlichkeiten bei Identitäts- bzw. Nicht-Identitätsaussagen erzielt werden. Dieses ist insbesondere dann der Fall, wenn das aufgezeichnete Material von ausreichender Dauer und technischer Qualität ist und wenn Merkmale mit hohem Seltenheitsgrad vorliegen. Der Seltenheitsgrad sprachlich-stimmlicher Merkmale ist zum Teil aus der Alltagserfahrung nachvollziehbar (z.B. sehr tiefe Stimme; Vorliegen eines s-Fehlers), erstreckt sich aber auch auf "akustisch-mikroskopische" und komplexe Eigenschaften, die nur dem Spezialisten bekannt sind.

Insgesamt hängt die Aussagekraft eines Stimmenvergleichs (im Sinne eines hohen Wahrscheinlichkeitsgrades der Identitäts- bzw. Nicht-Identitätsaussage) starkvon den spezifischen Gegebenheiten des einzelnen Falles ab.

4. Erinnerungen eines Zeugen

Neben dem bislang geschilderten Typ des Stimmenvergleichs bei Vorliegen von Sprachaufzeichnungen gibt es auch den Fall, dass zwar keine Sprachaufzeichnung vorliegt, sich aber eine Person an die Stimme des fraglichen Sprechers erinnert (sog. Sprecher-Erkennung durch Opfer und Zeugen). In einem solchen Fall ist auf verschiedene Gesichtspunkte zu achten, damit die Wahrnehmung des Opfers/Zeugen in einer zuverlässigen Weise erhoben und bewertet werden kann. Beispielsweise lässt die Erinnerung an eine Stimme relativ schnell nach, so dass mit stimmenvergleichenden Maßnahmen nicht zu lange gewartet werden sollte. Im Gegensatz zum oben geschilderten Stimmenvergleich durch Experten reicht es bei der Arbeit mit Opfern und Zeugen nicht aus, einen Vergleich mit nur einem in Frage kommenden Sprecher durchzuführen. Vielmehr muss Opfer/Zeuge die Fähigkeit zum Wiedererkennen der gehörten Täterstimme durch eine sog. Wahlgegenüberstellung (Engl.: "Voice Line-Up") demonstrieren. Dabei werden zum Vergleich mit der erinnerten Sprachprobe des Täters nicht nur Sprachaufzeichnungen der in Frage kommenden Person(en) sondern auch solche anderer Personen mit vergleichbaren stimmlich-sprachlichen Eigenschaften dargeboten. Die Erstellung des Audiomaterials für solche Wahlgegenüberstellungen und deren Einsatz ist methodisch anspruchsvoll. Unter anderem muss darauf geachtet werden, dass bei einem Wahrnehmungstest mit unbeteiligten Laien die Stimme der Verdachtsperson nicht häufiger als "Täter" herausgegriffen wird als die Stimme der anderen Vergleichspersonen. Dieses könnte dadurch geschehen, dass die Aufzeichnung der Verdachtsperson von derjenigen der anderen Personen in technischer Hinsicht oder z. B. bzgl. des allgemeinen Sprechstils abweicht (siehe u.a.Nolan & Grabe 1996).

5. Weitere Aufgaben der forensischen Phonetik

Neben dem Stimmenvergleich als ihrer Hauptaufgabe befasst sich die "Forensische Phonetik" (siehe die o.g. Organisation) auch u.a. mit der Erstellung von Transkripten. Hierbei werden unter Einsatz moderner Audio-Technologie und unter Verwendung von Methoden und Erkenntnissen aus Phonetik und Psycholinguistik sehr schwer verständliche Sprachaufzeichnungen verschriftet. Oft konzentriert sich eine solche Verschriftung aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes auf bestimmte besonders kritische Passagen der Aufzeichnung oder es wird gezielt nach akustischen oder linguistischen Beweisen gesucht, die dafür oder dagegen sprechen, dass ein bestimmter wahrnehmbarer Wortlaut tatsächlich geäußert wurde.

6. Zusammenfassung

Die seit neuerem auch in Deutschland immer stärker werdende forensische Phonetik bietet Justizpraktikern somit neue Möglichkeiten in der juristischen Praxis. Vergleichsgutachten und Verschriftungen (phonetisch und/oder orthographisch) können behördlich sowie seit neuerem bei verschiedenen Anbietern auch außerbehördlich angefertigt werden. Sowohl zur Belastung wie auch zur Entlastung im strafrechtlichen Bereich kann eine Stimmanalyse dienen, aber auch im Zivilrecht mag es oftmals Unklarheiten geben, die sich durch die qualifizierte Aufbereitung unklarer Sprachaufzeichnungen beseitigen lassen. In Großbritannien und den USA arbeiten Banken und Sicherheitsdienste schon heute verstärkt mit Phonetikern zusammen, die eine qualifizierte Zusatzausbildung erworben haben. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese spannende Thematik in der Zukunft entwickelt und wie stark ihr Einfluß auf die deutsche gerichtliche und außergerichtliche Praxis sein wird.

Genannte Literatur:

Hollien, Harry (1990): The Acoustics of Crime. Plenum: New York.

Jessen, Marianne (2003): Einfluss von Stress auf Sprache und Stimme unter besonderer Berücksichtigung polizeidienstlicher Anforderungen. Dissertation Universität Trier.

Künzel, Hermann J. (1987): Sprechererkennung: Grundzüge forensicher Sprachverarbeitung. Heidelberg: Kriminalistik-Verlag.

Nolan, Francis & Ester Grabe (1996): Preparing a voice line-up. Forensic Linguistics 3: 74-94.

Rose, Philip (2002): Forensic Speaker Identification. London & New York: Taylor & Francis.

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